Mit psychologischem Blick unterwegs in China

Ulrich Sollmann ist mehrfach jährlich als Coach und Psychotherapeut in China unterwegs. Wie geht man offen und achtsam mit den vielen neuen Eindrücken in der vermeintlichen Fremde um? Und was muss man beim Coaching in China eigentlich alles beachten? Von Gemeinsamkeiten, Unterschieden, dem Ent-Lernen von Vorurteilen und dem Sammeln achtsamer Erfahrungen.

China beeindruckt die Welt durch seinen rasanten wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Das Erleben der Menschen, ihre psychische Verfasstheit sowie ihr Verhalten wurzeln jedoch noch stark in der Tradition. Während im Westen Change, Wandel und Veränderung auch in Therapie und Coaching im Vordergrund stehen, geht es in China (noch) nicht um Change, sondern eher um Kohäsion, Konsolidierung, eigene Struktur und Identität.

Nach Konfuzius hat der Mensch dreierlei Wege klug zu handeln: (1) Durch nachdenken. Das ist der edelste. (2) Durch nachahmen. Das ist der leichteste. (3) Durch Erfahrung. Das ist der bitterste. Ich wähle den dritten Weg in China und verstehe mich seit Anfang an als ethnologischer Wanderer.

Ich stelle mich einer spannenden Aufgabe

Wie fühlen sich vor allem junge Chinesen? Wie denken, lieben, handeln sie und gestalten Beziehungen? Wie lösen sie Konflikte, wie arbeiten sie und kommen mit den Herausforderungen des sozialen Wandels klar? Durch westliche Psychologie ist es mir möglich, intime Einblicke in die Psyche junger Chinesen zu erhalten. Mich damit vertraut zu machen, ist für mich eine spannende Aufgabe, der ich mich inzwischen seit fast zehn Jahren stelle. Stets neugierig genug und immer wieder darüber überrascht, was sich mir bei jeder Reise neu auftut.

Beruflich unterwegs in China

Als Coach und Psychotherapeut bin ich jährlich mehrmals beruflich in China unterwegs. Es geht dabei um psychologisch-psychotherapeutische Weiterbildung, um themenspezifischer Seminare (z.B. Sexualität und Beziehung, Körpersprache und Körperkontakt, Depression), Unterstützung von Führungskräften und Managern on the job. Chinesen saugen das Wissen, das westliche Psychologie ihnen anbietet, geradezu auf. Sie wollen wissen und stürzen sich dabei gleichzeitig gerne in (Körper-) Selbsterfahrung.

China ist magisch und faszinierend

So wie es anfangs in einem fremden Land üblich ist, sah ich zunächst viel und doch auch wieder gar nichts. Ich hatte Eindrücke vom Fremden, die – wie vorbeischwebende Blätter – da sind, nicht greifbar und dann auch schon wieder weg. Oder sie gehen dort zu Boden, wo ich es spontan nicht vermuten würde.

Als ethnologischer Wanderer, China zu lieben, wird durch magisch anmutende Erfahrungen belohnt. Einige dieser überraschenden Besonderheiten sind folgende:

  • In der Öffentlichkeit scheinen Chinesen wie ein amöbenhafter chinesischer Bewegungskörper zu sein. Man nimmt oftmals nicht die einzelnen Menschen wahr, sondern sich bewegende, zusammenhängend scheinende Menschenmengen.
  • Wenn Chinesen lachen, lacht oftmals der ganze Körper. Lachen Chinesen, lacht der chinesische Gruppenkörper.
  • Während wir im Westen, inzwischen auch schon im Alltag, von Es / Ich / Über-Ich sprechen gibt es in China ein »Under-Ego«. Hierunter könnte man die Fähigkeit verstehen, Verhaltensregeln zu beherrschen, ohne sie bewusst zu kennen / benennen zu können. Noch weiß man nicht, wie diese Verhaltenssicherheit (die sich im subtilen Befolgen sogenannter „subrules“ zeigt) erworben wird.
  • Menschen haben zwei Hände, eine rechte und eine linke. Die Menschen in China haben eine »dritte Hand«. Dies ist der Mund-Rachenraum. Haben sie doch dort eine Kompetenz, die sonst der Kompetenz von Händen entspricht (z.B. halten, zerkleinern, zerpflücken).
  • In China Erfahrungen zu machen sowie die eigene innere emotionale Resonanz zu spüren, kommt einer Wahrnehmungsschaukel gleich. Man ist immer in Bewegung. Mal bei dem Gegenüber, dann gleich immer auch bei der eigenen, emotionalen Resonanz.
  • »Ménage-à-quatre«. Du hast richtig gelesen: nicht »Ménage-à-trois«. Man begegnet einem Gegenüber. Dies wird, wenn man der chinesischen Sprache nicht mächtig ist, durch einen Übersetzer unterstützt. Also gibt es drei Personen, die im Austausch miteinander sind. Die Vierte kommt dadurch mit ins Spiel, dass man immer auch mit der eigenen inneren Resonanz konfrontiert ist. Meine Erfahrung ist, dass man nicht immer alle vier Beteiligten zugleich hinreichend wahrnehmen kann. Es gibt also immer einen unbekannten Einflussfaktor, wie sehr man sich auch kontrollieren will.

Als Psychologe in China

Im eigenen Kulturkreis bauen Psychotherapie und Coaching in der Regel auf einem ähnlichen gesellschaftlichen und kulturellen Erfahrungshintergrund von Psychologen und Klient auf. Das ist in China völlig anders. Auch wenn man sich ausführlich über China informiert hat, ist es ähnlich wie beim Erwerb einer fremden Sprache: Man lernt Vokabeln, man lernt die Grammatik und schließlich lernt man, mit Menschen zu sprechen, sich auszutauschen und zu verstehen.

  • Die Art und Weise, wie man z.B. eine Visitenkarte übergibt (in China: man nimmt sie mit beiden Händen entgegen und schaut sie an, anstatt sie direkt in die Jackentasche zu stecken), kann man im Training wie Vokabeln lernen (interkulturelle Kommunikation).
  • Worauf man bei der Beziehungsgestaltung zu achten hat, ist vergleichbar mit dem Erlernen von Grammatikregeln (multikulturelle Kommunikation).
  • Miteinander zu sprechen, sich gegenseitig in Therapie und Coaching (auch emotional) verstehen zu wollen, ist transkulturelle Kommunikation. Man gestaltet, basierend auf dem emotionalen Echo, der inneren Resonanz, einen Prozess des reziproken Verstehens.

Gerade anfangs ist transkulturelle psychologische Arbeit durch „Ent-Lernen“ gekennzeichnet. Muss man doch die eigenen Vorstellungen und Bilder, die man von China hat, zunächst einmal „loswerden“, um wach, achtsam und bewusst für das zu sein, was auf einen einströmt und was das mit einem macht.

Erfahrung machen in China ist anders

Viele Menschen in China brauchen in der Regel eine Vorgabe, um sich dann auf einen Erfahrungsprozess in Bezug auf diese Vorgabe einlassen zu können. Ziel und Ergebnis des Erfahrungsprozesses lassen sich daher in der Regel direkt aus dieser ableiten. Eine solche Vorgabe kann eine Übung sein, eine bestimmte Regel, eine konkrete Verhaltensansage oder ähnliches. Ich nenne dies („post-experience“). Der Erfahrungsprozess folgt der Vorgabe. Die Menschen in China sind oftmals unsicher, sich auf einen offenen Erfahrungsprozess („pre-experience“) einzulassen. Ein solcher könnte z.B. durch eine kritische Reflexion oder eine noch undeutliche Ausgangslage ausgelöst werden und über einen noch offenen Erfahrungsprozess zu konkreten Ergebnissen / Erkenntnissen führen.

Mein „Fazit“

Was ist nun die lesson learnt eines Körperpsychotherapeuten und Coachs in China? Ent-Lernen, gepaart mit Neugier und absichtsloser Offenheit erleichtern sowohl das Erleben als auch das Verstehen der fremden Kultur und öffnen für das Neue. Sich selbst dabei als emotionale Resonanz zu erleben, erleichtert es mir, mich auf Überraschungen, aber auch schmerzvolle Erfahrungen und Enttäuschungen einzulassen. Gerade hierdurch entdecke ich auch Fragen, die ich mit nach Hause in meinen „alten“ beruflichen Kontext nehme und die mich dort befruchten.

Zur weiteren Lektüre:

Sollmann, Ulrich (2018) „Begegnungen im Reich der Mitte – mit psychologischem Blick unterwegs in China“, Psychosozialverlag, Gießen