Was wir vom Tango über die Paarbeziehung lernen können

In Argentinien und im Tango ist ein Mann noch ein Mann und eine Frau eine Frau. Die Rollen im Tanz sind klar verteilt: der Mann führt und die Frau folgt.
Was Argentinier eher wundern dürfte, ist der Kommentar einiger Männer in Deutschland, die im Tanzkurs sagen, es wäre ihnen lieber, die Frau würde führen... Einiges ist ins Wanken geraten. Auch in anderen Bereichen verflachen Hierarchien. Es geht nicht mehr um einen Einzelnen, der der Held ist, sondern um Werte wie Kooperation und Arbeiten innerhalb eines Netzwerks.
Im Zuge der Gleichberechtigung sind die gesellschaftlichen Rollen von Mann und Frau nicht mehr festgeschrieben. Beide haben, zumindest theoretisch die freie Wahl, berufliche Karriere oder Kinder und Haushalt zu leben oder beides. Die Veränderung der Rollen führt dazu, dass viele Frauen stärker und dominanter sind. Viele Männer haben sich in Frage stellen lassen und zeigten sich unsicherer, was eine unabdingbare Voraussetzung für Veränderung ist. Im Gegensatz zu einem „Macho“, der sich nicht in Frage stellt – er darf ja von seiner Rolle her keine Zweifel haben.
Frauen und Männer haben sich in ihrem Verhalten stark angeglichen mit der Konsequenz, dass sich die gegensätzlichen, sich ergänzenden Pole von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ auflösen. Dadurch geht Spannung verloren. So beschweren sich viele Frauen über die zu weichen Männer und haben eine Affäre mit einem aufregenden Mann, auf den sie sich nicht verlassen können. Die Männer beschweren sich über die zu dominanten Frauen und verlieben sich in Französinnen oder Russinnen.
Im Tango gibt die Struktur vor, dass es einen Führenden und einen Folgenden gibt. Das bedeutet nicht, dass der eine dominiert und der andere gehorcht. Es ist vielmehr als eine Begegnung zweier gleichwertiger Persönlichkeiten mit getrennten aber sich ergänzenden Qualitäten zu verstehen. Vielleicht wie ein Spiel mit bestimmten Spielregeln. In Argentinien finden Interaktionen überhaupt eher auf einer spielerischen Ebene statt. Es wird nicht direkt kommuniziert.
Tango ist ein kreativer Akt, der beide Partner verändert
Ähnlich ist es im Tango: Der Tanz ist ein Spiel zwischen Mann und Frau mit gegenseitiger Achtung und Respekt. Es ist kein Kampf um Macht, sondern die Partner begegnen sich auf Augenhöhe und fordern sich gegenseitig heraus, mit dem Ziel, das Beste aus dem anderen hervorzuholen. Wenn die beiden Tanzpartner sich aufeinander einlassen (und die Musik „als Dritten“ mit dazu nehmen), kann etwas Wunderschönes und Einzigartiges entstehen. Es ist ein kreativer Akt, der nicht nur etwas Neues hervorbringt, das mehr ist als die Summe der zwei Teile, etwas, das alleine nicht möglich wäre. Es ist ein kreativer Akt, der beide verändert. Je besser das Zusammenspiel funktioniert, umso höher ist für beide der Gewinn, nämlich ein höherer Genuss. Es gibt ein gemeinsames Ziel: schön zu tanzen und den gemeinsamen Tanz zu genießen.
Das Treffen zweier Persönlichkeiten ist wie der Kontakt zweier chemischer Substanzen: wenn es eine Reaktion gibt, werden beide transformiert. (C.G. Jung)
Der Mann führt. Dafür muss er klare Entscheidungen treffen, diese klar kommunizieren und darf nicht zweifeln. Die Frau als Folgende wird nicht einfach passiv und brav ausführen, was der Mann will. Das wäre auch der Alptraum jedes Machos. Und sie würde sich selbst verleugnen. Ganz im Gegenteil: sie ist sehr aktiv in ihrer Rolle als Folgende und sie zelebriert das Ausdrücken und Ausleben ihrer Weiblichkeit. Und die Männer lieben sie dafür.
„Wenn du dich ganz als Frau fühlen willst, dann musst du nach Buenos Aires gehen.“
Die führende Rolle bedeutet, die Verantwortung zu tragen, die Frau hingegen darf loslassen. Er passt auf sie auf, er beschützt sie, sorgt sich um sie, ist sehr aufmerksam, geht sensibel auf sie ein und hält sie in seinen Armen. Die Frau lässt sich führen. Sie gibt sich, mit geschlossenen Augen, hin und genießt.
So kann er sich als Mann fühlen und sie sich als Frau. Die Männer müssen sich beweisen, sie müssen um die Frau kämpfen und zeigen, dass sie es wert sind, als Partner gewählt zu werden. Sie müssen die Musik interpretieren, die Schritte führen und aufpassen, dass es nicht zu Zusammenstößen mit anderen kommt. Um sich fallen zu lassen, muss sie ihm vertrauen können. Führung im Tango heißt also nicht, zu dominieren. Genauso wenig bedeutet folgen, zu gehorchen. Die Frau hängt sich im Tanz nicht an den Mann. Sie kann jederzeit auf ihren eigenen Füßen stehen. Beide haben ihre eigene Achse, teilen diese jedoch für die drei Minuten des gemeinsamen Tanzes. Es ist ein Spiel, bei dem die Frau Königin ist und der Mann König.
Vielleicht steht hinter den Beschwerden der deutschen Frauen über die zu weichen Männer die Sehnsucht nach einem starken Mann, die Sehnsucht, selbst ab und zu die Kontrolle aufzugeben, Schwäche zuzulassen und sich anschmiegen zu können. Das heißt auch, warten zu können und nicht alles selbst in die Hand zu nehmen, sondern den anderen kommen zu lassen. Für argentinische Frauen ist das keine Schwäche, sondern ihre Stärke. Sie genießen ihre Weiblichkeit, die Macht ihrer Weiblichkeit und (ver)führen mit ihrer Sinnlichkeit und mit ihrem Charme. Argentinische Männer behaupten, letztendlich sei es die Frau, die führt. Argentinierinnen sind stolze und starke Frauen. Sie haben Macht. Aber auf ihre weibliche Art. Der Mann darf sich als Beschützer und Held fühlen, weil die Frau sich beschützen lässt. Dies alles ist als ein Spiel zu verstehen, das zeitweise gespielt wird. Kinder, die auf dem Spielplatz Kuchen aus Sand backen, essen diesen nicht. Spiel eröffnet einen Raum von Freiheit und Leichtigkeit.
Niemand will das Rad zurückdrehen. Es geht eher um das aufregende leidenschaftliche Spiel zwischen Mann und Frau, das inspiriert und Impulse gibt, die eigene Vielfältigkeit zu leben.
Die Freiheit, sowohl stark als auch sensibel und verletzlich zu sein
Es geht nicht darum, „männliche“ und „weibliche“ Qualitäten als besser oder schlechter zu bewerten. Es geht darum, dass sowohl Mann als auch Frau sowohl „weibliche“ als auch „männliche“ Qualitäten leben können, dass beide beides leben können. Dabei dürfen sich „weibliche“ und „männliche“ Qualitäten jedoch nicht vermischen und auflösen, sondern beide Geschlechter sollen sich frei fühlen dürfen, sowohl Stärke als auch Schwäche zu zeigen, denn sich zu öffnen und verletzbar zu machen, ist eine Voraussetzung für Authentizität, echte Begegnung und Wachstum. Wenn beide Partner sich gegenseitig unterstützen, entsteht eine Basis von Liebe und Sicherheit. Diese stellt keinen Widerspruch dar, sondern ermöglicht erst ein Höchstmaß an Wachstumspotenzial, Autonomie und Freiheit. Und durch das Hin- und Herwechseln zwischen den beiden Polen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ entsteht Bewegung, die Stillstand, Routine und Starre verhindert und Wachstum ermöglicht. Nur was in Bewegung ist, kann sich verändern.
Die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ können auch ganz entfallen, wenn jeder Mensch die Freiheit hat, in seiner Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit er selbst zu sein und zu werden.
Der Tango Argentino enthält viele interessante Beziehungs- und Kommunikationsformen. Von argentinischen Männern und Frauen können wir viel lernen: die Männer mehr „Männlichkeit“ und Stolz und die Frauen mehr „Weiblichkeit“ und Stolz. Über den Tanz lässt sich eine andere Haltung einüben und im Tango gelernte Prinzipien laden dazu ein, sie außerhalb der Tanzfläche auszuprobieren.