Selbstmitgefühl kreativ gestalten

Eine Frau steht vor Gemälden und hält sich einen Blumenstrauß vor das Gesicht.

Selbstmitgefühl ist für Menschen in belastenden Lebenssituationen ein völlig unterschätztes Hilfsmittel, um selbstwirksam Krisen zu überwinden. Die Kunst als Ausdrucksform kann dabei unterstützen, selbstmitfühlender zu werden. Dabei geht es nicht um große Kunst, sondern um den ehrlichen und authentischen Ausdruck.

Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir fürsorglich und liebevoll mit uns umgehen, und zwar vor allem und gerade dann, wenn wir Fehler machen, es uns schlecht geht und die Dinge nicht so laufen, wie wir es uns wünschen. Selbstmitgefühl verlangt von uns, dass wir uns mit all unseren Macken, den dunklen Seiten, dem Leiden und den belastenden Erfahrungen annehmen. Selbstmitgefühl ist daher eine innere Haltung, eine dauerhafte Herausforderung und ein Lebensprojekt.

 

Selbstmitgefühl als Generalschlüssel zum inneren Gefängnis

Als Coach:innen, Berater:innen und Psychotherapeut:innen können wir Menschen darin unterstützen, das Mitgefühl für sich selbst zu stärken. Mit der Kunst als Ausdrucksform lässt sich spielerisch üben, den Perfektionismus zu überwinden und Fehler zu machen. Klient:innen können entdecken, dass das Spielerische und Unerwartete neue Räume öffnen kann. Der englische Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts, John Constable, sagte einmal: „Malen ist für mich nur ein anderes Wort für Fühlen.“ Über den kreativen Ausdruck kommen Klient:innen ins Fühlen.

Die Professorin für Psychologie Kristin Neff benennt drei Komponenten für ein gesundes Selbstmitgefühl. Das sind (1) Selbstfreundlichkeit, (2) Verbundenheit und (3) Achtsamkeit. Die Punkte möchte ich anhand von kreativen Praxisbeispielen näher erläutern.

 

1. Selbstfreundlichkeit

Sich mit sich selbst zu befreunden, bedeutet eine radikale Akzeptanz der eigenen Person. Wir gehen mit uns so fürsorglich und wohlwollend um wie mit einem guten Freund, einer Freundin. Wir reagieren auf unser eigenes Leiden, so wie wir es bei einem nahestehenden Menschen in Not täten. Selbstmitgefühl bedeutet nicht Selbstmitleid, denn wir bleiben nicht in der Opferrolle hängen, sondern nehmen unser Leid an.

Im nachfolgenden Praxisbeispiel haben wir in meiner Gruppe Krankheit als Bild einen inneren Anteil erschaffen, der für unser Selbstmitgefühl steht. Die Arbeit mit inneren Anteilen geht zurück auf den Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun, der „Das Innere Team“ als ein Persönlichkeitsmodell entwickelt hat. Auch in der Ego-State-Therapie arbeitet man traumatherapeutisch mit inneren Anteilen. Aus der Systemischen Therapie kennen wir die Innere Familie (IFS), ein Modell, das von Richard Schwartz entwickelt wurde.

Meiner Erfahrung nach ist es hilfreich, wenn wir mit unseren Klient:innen innere ressourcenstarke Anteile etablieren bzw. stärken, die bisher im inneren Team eher unsichtbar, sprachlos oder schlicht nicht vorhanden waren.

Die Umsetzung können wir mit unseren Klient:innen ganz unkompliziert gestalten. Du brauchst dafür kein großes Atelier mit Künstlermaterial. Es reicht, eine Skizze mit Kugelschreiber oder Bleistift fertigen zu lassen. Es geht darum, innere Bilder im Außen auszudrücken. Wir können eine solche Praxisübung unseren Klient:innen auch als Hausaufgabe mitgeben. Du kannst die Aufgabe folgendermaßen einleiten:

  • „Wie könnte ein innerer Anteil aussehen, der für Ihr Selbstmitgefühl steht?“
  • „Das kann etwas Konkretes, (z.B. ein Mensch, ein Tier) sein oder etwas Abstraktes. Egal, was entsteht, es ist richtig so.“
  • „Machen Sie es sich ganz leicht, wählen Sie Stifte und Farben, mit denen Sie gut arbeiten können. Es muss kein besonderes Künstlermaterial sein. Sie können auch mit einfachen Bürostiften und Textmarkern arbeiten.“
  • „Wenn es Ihnen allerdings Freude macht, dann können Sie genauso gern Künstlerpapier und Stifte oder Pinsel und Farben kaufen. Wichtig ist, dass es leicht für Sie wird.“

Die kreative Umsetzung eines Anteils für Selbstmitgefühl hat mehrere Vorteile. Dein:e Klient:in verbindet sich mit dieser Ressource und hält gleichzeitig etwas Manifestes in der Hand, das jederzeit wieder angeschaut werden kann. Unbewusst gehen wir unweigerlich mit dieser Kraftquelle in Verbindung, wenn wir das neue innere Teammitglied betrachten. Daher empfehle ich den Klient:innen, sich ihr Bild abzufotografieren und als Hintergrund auf ihrem Handy zu speichern. Man kann sich das Werk auch in seiner Wohnung aufhängen.

Eine Zeichnung einer Frau mit Brille, blonden Haaren, roten Lippen und Halskette.

Das dargestellte Bild stammt von einer Klientin mit Multiple Sklerose. In der Praxisgruppe habe ich die Teilnemer:innen gebeten, dem Bild einen Titel zu geben. Die Titel aus der Gruppe lauteten: 

  1. That’s me
  2. Hier bin ich
  3. Ich mach, was ich will
  4. Du kannst mich mal
  5. LMAA

Vom braven Mädchen zur selbstbestimmten Frau, Lebensfreude, sich Raum nehmen und vor allem auch Grenzen setzen, dazu fordert sie ihre Krankheit tatsächlich gerade immer wieder auf, so die Klientin. Sich wichtig zu nehmen und Grenzen zu setzen, das falle ihr oft schwer.

 

2. Verbundenheit

Ein weiterer Aspekt des Selbstmitgefühls ist Verbundenheit. Viele Menschen fühlen sich mit ihren eigenen leidvollen Erfahrungen sehr allein. Mit Verbundenheit ist gemeint, dass wir die Verbindung mit allen Menschen spüren. Wir sind verbunden im Leid. Schmerz und Leid sind Bestandteile des Lebens. Beim Selbstmitgefühl geht es darum, dass wir uns gedanklich und auch real mit Menschen verbinden. Ich erlebe in meiner Gruppe „Frauenbilder“ für Frauen in schwierigen Lebenssituationen immer wieder, wie stärkend es ist, die eigene schwere Geschichte in einer Runde von Gleichgesinnten zu teilen. Es ist verbindend und tragend, wenn wir gemeinsam erleben, dass wir alle Schmerz erfahren haben.

Ein in 4 Teile zerlegtes Porträt

In der Gruppe „Frauenbilder“ sind wir uns dessen künstlerisch gewahr geworden, indem wir unsere Porträts miteinander verbunden haben. „Wie fühlst du dich heute und wie würdest du das in einem Porträt umsetzen?“, lautete der erste Schritt der Aufgabe. Anschließend haben wir die Porträts gevierteilt und miteinander verbunden. Jede der Teilnehmerinnen konnte am Ende unserer Sitzung eines der Collagewerke mitnehmen. Damit bleibt für die Frauen auch außerhalb der Gruppe die Verbindung sichtbar und spürbar.

 

3. Achtsamkeit/Akzeptanz

Kristin Neff konstatiert als dritten Punkt die Achtsamkeit. Achtsamkeit klingt für viele Menschen nach einer Meditationspraxis, die nur Eingeweihte praktizieren. Achtsamkeit ist allerdings etwas sehr Natürliches und geht „eigentlich“ ganz einfach. Achtsamkeit ist ein Zustand. Wir halten inne, richten die Aufmerksamkeit auf das, was ist, ohne es zu bewerten oder ändern zu wollen. Auch schlimme Ereignisse, schlechte Gefühle oder traurige Erlebnisse nehmen wir erst einmal nur wahr. „So ist es“, könnte ein innerer Satz lauten. „Die Dinge dürfen so sein, wie sie sind.“

Der Vorteil am Malen ist, dass die Aktivität für sich genommen Betroffene in den Moment holt. Das Halten des Pinsels, das Eintauchen in Farben und Formen, führt unweigerlich in einen achtsamen Augenblick. Gefühle lassen sich leichter in Bilder ausdrücken als in Worte. Oft haben Klient:innen auch gar keine Worte für das, was sie fühlen. Auch dabei helfen Pinsel und Farbe.

Eine Zeichnung von Katzen, einer lächelnden Sonne und zwei Menschen.

Ich möchte dir eine Klecksübung anbieten, die du mit deiner Klientin oder deinem Klienten praktizieren kannst. Dazu werden zunächst zufällige Flecken auf ein Papier gespritzt oder gekleckst. Das absichtslose und perfektionsfeindliche Kleckern macht einfach nur Spaß. Man kann außerdem gar nichts falsch machen. Anschließend gestaltet der oder die Klient:in aus den Formen etwas Neues. Den frei entstandenen Flecken eine sinngebende Bedeutung zu verpassen, regt unbewusste Prozesse an. Das abgebildete Klecksbild hat die Klientin an ihre liebende Verbindung zu Tieren, vor allem Katzen, erinnert. Das Schnurren sei ihr Lieblingsgeräusch, so die Klientin.

Die Praxisbeispiele geben einen ersten Einblick, wie wir Selbstmitgefühl bei unseren Klient:innen wachkitzeln können. Einen liebevollen Umgang mit sich selbst haben die meisten nicht gelernt. In einem ersten Schritt können Klient:innen über einfache Bilder Selbstmitgefühl üben, indem sie sich erlauben, unperfekt zu gestalten, Fehler zu machen oder sogar bewusst welche einzubauen. Fehler und Störungen öffnen Welten, die wir nicht denken können. Sie brechen aus bekannten Mustern heraus und schaffen neue Blickwinkel. Eine Überarbeitung der alten Glaubenssätze darf langsam und in einem geschützten Rahmen geübt werden. Innere Anteile, die das Selbstmitgefühl fördern, stützen diesen Prozess.

 

Zum Weiterlesen

[Werbung] Ulrike Hinrichs (2024). Gymnastik für die Seele. Mit Pinsel und Farbe zu mehr Selbstmitgefühl. Wien: Buchschmiede.

 

Literatur

Kirstin Neff (2012). Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund sind. München: Kailash Verlag.

Friedemann Schulz von Thun (31. Aufl., 2023). Miteinander reden 3: Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.