Tanz mal drüber nach

Eine junge Frau tanzt vor einer Wand.

Die Wissenschaft hat die positiven, körperlichen, mentalen und psychischen Wirkungen von Tanz entdeckt. Doch in einer psychotherapeutischen Praxis oder auch im Coachingraum spielt Tanz kaum eine Rolle. Schade eigentlich, denn sowohl für die eigene Selbstfürsorge als auch für Klient:innen bietet Tanz einen wunderbaren spielerischen Zugang zu Ressourcen.

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Über viele Jahre habe ich einen Tanzansatz entwickelt, der sich sowohl bei der Arbeit mit essgestörten jungen Frauen, im Coaching von Führungsfrauen, als Stärkung von Menschen in helfenden Berufen und bei Tagungen mit Großgruppen bewährt hat. Fühle dich von meinen ressourcenorientierten Tanzmethoden für Therapie und Coaching und auch für deine Selbstfürsorge inspiriert und lass den Text vom Kopf in den Körper wandern.

 

Tanzen tut gut

Die Neurowissenschaftlerin Julia Christensen und der Kognitionswissenschaftler Dong-Seon Chang tanzen beide leidenschaftlich gerne und forschen auch dazu (Christensen und Chang, 2018). Ihr Fazit: Tanzen stärkt das Immunsystem, fördert unsere Aufmerksamkeit und den Gleichgewichtssinn. Aber nicht nur das: Tanzen tut auch unserer Seele gut. Wer tanzt, lernt den eigenen Körper und auch die Gefühle besser kennen. Im Tanz lassen sich Gefühle ausdrücken und damit auch loslassen und wandeln. Außerdem stiftet tänzerische Bewegung Verbindungen mit dem eigenen Körper, unserer Kreativität und auch mit anderen.

Für mich selbst ist das Tanzen seit Kindheitstagen eine wichtige Ressource. Immer wieder kann ich beim Tanzen fühlen, was mich wirklich bewegt. Nicht selten werden Bedürfnisse durch das Tanzen klarer und auch Entscheidungen stimmiger. Wenngleich mich Tango, Salsa, afrikanischer Tanz und Swing inspirieren und mir Freude machen, ist meine Tanzheimat die freie Bewegungsimprovisation. Sie ermöglicht, mit Impulsen zu spielen, Gefühle auszudrücken und sich lebendig zu fühlen. Ziel dabei ist es, Türen zu verschütteten und neuen Ressourcen zu öffnen. Ich zeige, wie das auch für Therapie und Coaching bereichernd ist.

 

Ressourcen tanzen – mein Tanzansatz

Mein Modell enthält 12 „Tanzmentorinnen“, die unterschiedliche Stärken repräsentieren wie Leichtigkeit und Schönheit, Kraft, Motivation und Entspannung. Sie laden zum Ausdruck von Schmerz und Heilung, Ruhe und Versöhnung ein. Begleitet von rhythmischer Musik, Imagination und leicht zu erlernenden Bewegungen wirken sie stärkend und lassen uns erkennen, dass wir diese Qualitäten in uns haben und fördern können (Juchmann, 2021, 2023).

Die 12 Kräfte sind durch afrikanischen Tanz inspiriert und wirken wie Archetypen, die wir alle intuitiv verstehen können.  Sie sind mit bestimmten Naturorten (Wald, Meer, Wind, Fluss…) verbunden und bringen jeweils ganz spezifische Stärken mit. Ich sehe sie wie psychische Kräfte, die uns allen zur Verfügung stehen und uns stärken können.

Die Tanzmentorinnen lassen sich wie innere, stärkende Persönlichkeitsteile, innere Stimmen verstehen. Wir können sie uns vorstellen, aber sie sind auch längst ein Teil von uns. Das Tolle ist, dass diese Ressourcen im Tanz direkt erfahrbar werden und sie auch in den Alltag hinein begleiten. Das probieren wir jetzt gemeinsam aus.

Ein Bach im Wald fließt einen kleinen Abhang hinunter.

Die entspannte Kraft des Waldes

Zunächst lädt uns die Kraft des Waldes zu einem Tanz ein. Stell dir einen schönen, grünen und üppigen Wald vor, mit Tieren, Blumen, Bäumen und Pflanzen. Du selbst verwurzelst dich im Stehen wie ein Baum. Deine Füße sinken in den Boden und geben dir einen stabilen Kontakt zur Erde. Du wirst Teil des Waldes. Deine Arme kannst du nach oben oder zur Seite öffnen. Mit dem Einatmen öffnen sich die Arme und Hände wie eine Blume im Sonnenlicht, mit dem Ausatmen rollen sie sich wieder zusammen und kommen näher an den Körper. Spiele damit und genieße das Öffnen und Weitwerden und das entspannte wieder Einsammeln. Der Atem und die Bewegung beruhigen, lassen dich wie selbst zu einem Teil der Natur werden, zu einer Pflanze einem Baum. Dein Atem fließt frei.

Mit dieser Übung eröffne ich fast jeden Tanzworkshop. Das Atmen und die sanften Bewegungen entspannen, lassen ankommen bei sich selbst. Nahezu alle Teilnehmer:innen mögen diese Kraft, die uns den Zugang zu einer natürlichen Regeneration und Entspannung öffnet. Eine Teilnehmerin sagt: „Ich habe mich so verwurzelt gefühlt, tief verbunden mit der Natur.“ Eine Workshopteilnehmerin, die schon mehrere Jahre zu meinen Kursen kommt, hat die Kraft des Waldes in ihren Alltag integriert: „Oft, wenn ich nach Hause komme, mache ich mir Musik an und tanze die Kraft des Waldes. Ich lasse alles Belastende und Anstrengende los. Das ist ganz wunderbar.“

Diese Ressource bietet sich besonders bei Erschöpfung, zu viel Grübeln und Verspannungen an und gibt ganz entspannt und spielerisch neue Energie.

Musiktipp: Folgende Musiktitel laden dich ein, die Kraft des Waldes zu tanzen. Für die Verwurzelung und die Verbindung zum Atmen eignet sich „Garden of Zen“ von Jean-Pierre Garattoni und für die Entspannung „Mouvements“ von Guem, Zaka Percussion.

 

In Fluss kommen – die Kraft der Leichtigkeit

Neulich kam eine Klientin zu mir und sagte: „Eigentlich ist bei der Arbeit alles ok. Aber ich sehe vieles so kritisch und mache mir selbst Stress. Ich brauche mehr Leichtigkeit.“ Deshalb stellte ich ihr die Kraft der Leichtigkeit vor. Diese Tanzmentorin befindet sich an einem Fluss oder Wasserfall. Ihr Element ist das fließende Wasser und so beginnen ihre Handgelenke zu kreisen, ganz locker, und Tropfen fließen von den Fingern ab, Wasser rinnt wie Perlen durch die Hände. Leichtigkeit, ein Fließen entsteht. Diese Kraft schüttelt alles aus dem Handgelenk, sie erreicht ihre Ziele mühelos.

Wunderbar lässt sich diese Ressource auch entspannt im Sitzen erkunden. Du fächelst dir Wasser zur Kühlung ins Gesicht, du schöpfst mit beiden Händen aus dem Vollen. Für die Kraft der Leichtigkeit ist von allem genug da, sie vertraut sich selbst und umgibt sich mit allem, was guttut. Stell dir vor, dass Angenehmes dich umgibt, dass das Wohltuende ohne Anstrengung zu dir kommt. Die Tanzmentorin der Leichtigkeit ermutigt dich, an einem Glücksfaden zu ziehen, ganz leicht nur, und das Stärkende kommt zu dir.

Meine Klientin schreibt mir nach der Stunde eine E-Mail: „Diese Kraft der Leichtigkeit war genau das, was ich gebraucht habe. Sie begleitet mich jetzt im Alltag.“

Eine junge Frau im modernen hellblauen Businessanzug tanzt mit Kopfhörern auf im Büro.

Ich werde nie vergessen, wie ich die Tanzmentorinnen einer Gruppe von weiblichen Führungskräften in einem Seminar vorstellte. Zunächst waren sie sehr skeptisch, aber die Neugier überwog irgendwann. Besonders neugierig waren sie auf die Kraft der Leichtigkeit, weil diese in ihrem anstrengenden Alltag oft zu kurz kam. Als wir uns bewegten wie diese fließende, positive Ressource, begannen alle zu lächeln. Die Kraft des Flusses hilft, wenn wir feststecken, etwas zu schwernehmen und zu negativ in die Welt schauen.

Musiktipp: Als Musik eignet sich zu Beginn „Escalay (Waterwheel)“ von Hanza El Din und dem Kronos Quartett. Und dann fließt die Bewegung weiter mit „La petite cascade“ von René Aubry. Nur kleine Bewegungen und wenige Minuten reichen völlig aus, um die eigene Stimmung und den Körper leichter werden zu lassen.

Weitere Tanzmentorinnen bringen Abgrenzungsfähigkeit und Power mit oder wenden sich dem Schmerzlichen zu und heilen. Andere führen zu Ruhe und Versöhnung. Immer ist der Einstieg ein sanfter über Bilder, Musik und kleine Bewegungen. Die Auswahl wird zusammen mit der Klient:in getroffen und orientiert sich an ihren Bedürfnissen. Die Ressourcen lassen sich sowohl im Einzelsetting als auch in Gruppen erkunden. Und sie tun unserer sitzenden Berufsgruppe so ungemein gut. Also raus aus den Beratungsstühlen und let‘s dance!

 

Zum Weiterlesen:

Ulrike Juchmann. Tanzmaterial – für Coaching, Therapie und Seminare. 12 illustrierte Karten im Set.

Ulrike Juchmann (2021). Wenn es schwierig wird, tanz! Stärkende Teilearbeit in Bewegung. Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung. S. 19-25

[Werbung] Ulrike Juchmann (2023). Sei du selbst, alle anderen gibt es schon. Wie Frauen Erwartungen abstreifen und befreiter leben. Weinheim: Beltz.

[Werbung] Julia F. Christensen und Dong-Seong Chang. (2018). Tanzen ist die beste Medizin. Warum es uns gesünder, klüger und glücklicher macht. Rowohlt-polaris.