Die Kraft des Rhythmus in therapeutischen Prozessen nutzen
Rhythmus – unsere Schritte, unser Atem, Tag und Nacht, die Mondphasen, alles ist rhythmischen Abläufen unterworfen. Dieses Urprinzip kannst du auch in der Therapie nutzen – und so für die Patienten einen Raum schaffen, sich selbst, ihren Körper, den Halt in einer Gruppe und innere Stille zu erfahren. Wie, erklärt dir unser Autor Frank Rihm.
Rhythmus ist eine fundamentale Kraft des Lebens. Dieser Kraft begegnen wir ständig in rhythmischen und zyklischen Abläufen – sowohl in uns als auch in unserer Umwelt. In gewissem Sinne sind wir Rhythmus. Wie kann dieses ursprüngliche Potential in therapeutischen Prozessen genutzt werden?
Der Körper wird unmittelbar erlebt
Der österreichische Musiker Reinhard Flatischler entwickelte den TaKeTiNa®-Prozess und machte damit das Potential des Rhythmus’ für menschliches Lernen und menschliche Entwicklung nutzbar. Er basiert auf rhythmischen Urbewegungen: Naturrhythmen, Körperrhythmen, musikalischer Rhythmus, Sprache und Bewegungsabläufe gehen dabei ineinander über. Im Kreis mit anderen Menschen gehen die Teilnehmer z.B. in einem elementaren Grundschritt auf der Stelle. Gleichzeitig klatschen sie einen zweiten Rhythmus. Und schließlich singen sie als dritte rhythmische Ebene Melodien des Leiters nach. Dadurch erleben sie Rhythmus unmittelbar und direkt mit ihrem Körper.
Anwendung in unterschiedlichen Therapiebereichen
Die Prinzipien werden seit mehreren Jahrzehnten auch in unterschiedlichen Therapiebereichen (u.a. Schmerztherapie, Traumatherapie, Behandlung von Burnout-Erkrankungen und Depressionen) erfolgreich angewendet. In den Heiligenfeld Kliniken in Bad Kissingen hat man schon vor über 25 Jahren damit begonnen, TaKeTiNa® so zu modifizieren, dass damit die vielfältigen Probleme, unter denen Patienten einer psychosomatischen Klinik leiden, behandelt werden können. Oftmals ist es gerade der weitgehend nonverbale Ansatz des gemeinsamen rhythmischen Tuns, den die Patienten lieben. Er bietet ihnen die Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen selbst beobachten, wahrnehmen und prüfen zu können. Andererseits verstehen die Patienten sehr schnell, dass ihnen diese Methode darüber hinaus auch die Möglichkeiten bietet, neue Erlebens- und Verhaltensweisen in einem sicheren Rahmen auszuprobieren.
Die mit den psychischen Störungsbildern zusammenhängenden Erlebens- und Verhaltensweisen werden also für die Patienten direkt erlebbar. Vereinfacht ausgedrückt: die Patienten spüren, wie sie sich an einem guten Leben hindern. Mit gezielten rhythmischen Interventionen kann der Rhythmustherapeut wahlweise noch im Tun selbst reagieren oder seine Beobachtung in die anschließende Nachbesprechung intervenierend mit einfließen lassen.
Ein Gefühl von Distanzierung und Freiheit
Bevor dies alles möglich wird, schafft der Prozess spielerisch – fast wie „nebenbei“ – im Erleben des einzelnen Teilnehmers eine Distanzierung von schmerzhaften Gefühlen, Selbstzweifeln, ständigem Abwerten und anderen quälenden Symptomen. Menschen erleben dies oft so, als würde sich ihre Wahrnehmung weiten. Sie verbinden mit diesem Gefühl mitunter „mehr Freiheit". Sie spüren dann, dass sie viel mehr sind, als ihre quälenden Symptome, Probleme, Schwierigkeiten. Und manch einer kann dann sogar sofort formulieren: „Ich habe Probleme, aber ich bin nicht das Problem."
Viele Patienten befinden sich immer wieder in einer Art inneren Enge. Dies bewirkt, dass sie von ihren Emotionen, Erinnerungen und Befürchtungen schnell überwältigt werden und diese dann reflektorisch verdrängen und kompensieren. Dadurch, dass die Patienten in ihrem Körper gleichzeitig unterschiedliche Rhythmen (Stimme, Klatschen, Schrittbewegungen) realisieren, entsteht jedoch zunehmend das Erleben eines großen „inneren Raumes“. Das geführte Fluktuieren zwischen Chaos und Ordnungsphasen im rhythmischen Prozess, ermöglicht es den Patienten, in ein tiefes Getragen-Sein und in eine profunde innere Stille zu fallen. Im Anschluss an eine Therapieeinheit berichten viele der Patienten vom Gefühl, endlich wieder einmal selbstbestimmt und bei sich angekommen zu sein, sich kompetent und resilient zu fühlen, über sich und das Leben zu staunen und – vielleicht das Wichtigste – neugierig zu sein.
Stille durch Bewegung
All dies geht Hand in Hand mit der Tatsache, dass durch Atem- und Visualisierungsübungen, Stimmrhythmik und vielschichtige Bewegungsabläufe vorhersehbar und wiederholbar vagotone Zustände ausgelöst werden, die mit einer Tiefenentspannung des vegetativen Nervensystems korrespondieren. Diese profunde Beruhigung des Nervensystems, wurde mit HRV-Messgeräten (Herzratenvariabilität) untersucht und verifiziert. Die tiefe nervale Entspannung wirkt sich positiv auf den Therapieverlauf aus, denn sie gibt dem Patienten mehr Kraft und Ruhe, die für ihn notwendigen Schritte zu setzen. Zugleich wird Stille durch Bewegung geschaffen.
In der Gruppe Halt erfahren
Im Gruppenprozess kann ein Teilnehmer am kollektiven Rhythmusgeschehen einer Gruppe teilhaben und zugleich unter Begleitung an seinen individuellen Prozessen arbeiten. Er ist in der Gemeinschaft und dem tragenden Rhythmus geborgen und nutzt dieses Feld gleichzeitig, um zu neuen Erlebnissen und Erkenntnissen zu gelangen.
Das Gefühl, im Leben und in der Gemeinschaft einen Platz zu haben, sowie das Wissen, relativ sicher und wirksam das eigene Leben in die Hand nehmen und gestalten zu können, fehlt vielen Patienten. Sie entwickeln oder verfügen in ihrem Alltag kaum über solche oder ähnliche Qualitäten mit der Folge, dass ihr Leben kurz- oder langfristig völlig aus den Fugen gerät.
Vielleicht wähnen sie sich, als Folge von Traumatisierung oder Bindungsstörungen, ständig bedroht. Wenn sie die Augen schließen, scheint es diesen Menschen manchmal, als würden sie in eine dunkle, unendliche Tiefe fallen, ohne jeglichen Halt, ohne die Chance, in sich etwas Stabilisierendes finden zu können. Manche leiden unter Depersonalisation oder Derealisation. Diese Patienten kommen sich selbst unwirklich vor und sie erleben auch ihre Mitmenschen und die Umwelt insgesamt als unwirklich. Andere wiederum leiden darunter, dass ihre Gefühle, Gedanken oder Handlungsimpulse Achterbahn fahren. Oder sie leiden unter dem quälenden Druck, sich selbst zu verletzen, um die belastende und dauerhafte Spannung im eigenen Körper los zu werden.
Sich endlich „in Ordnung“ fühlen
Doch wenn diese Menschen am Ende der Rhythmustherapie am Boden liegen und das gerade Erlebte nachwirken lassen, lächeln manche, weil sie plötzlich mit sich einverstanden und in Frieden sind. Oder sie kommen für kostbare Momente endlich einmal zur Ruhe, fühlen sich „in Ordnung“ und genießen das sachte Strömen durch den, ihnen sonst so fremden oder auch gehassten Körper. Der Kopf ist angenehm leer und es stellt sich das so lange Zeit abwesende Gefühl ein, sicher und geborgen zu sein.
Diese Patienten haben eineinhalb Stunden lang gemeinsame therapeutische Arbeit im Rhythmuskreis erlebt und konnten sich dabei vom Rhythmus und von der Gruppe tragen lassen. Sie haben sich im Bemühen, die rhythmischen Strukturen in körperliche Aktionen umzusetzen, verloren und wiedergefunden und haben dabei erste Erfahrungsinseln von „Miteinander“ und „Dazugehören“ erfahren. Sie erlebten, wie die Gruppe ihr Eigenleben hat, sich entwickelt und etwas gemeinsam kreiert, während sie als Individuum mit ihren eigenen Problemen, Nöten, Sorgen und Symptomen ihre ganz eigene Entwicklungslinie verfolgt haben.
Ein integratives Verfahren
Rhythmustherapie ist grundsätzlich ein integratives Verfahren, das von seiner erfahrungsorientierten und gut strukturierten Herangehensweise viele Menschen berühren kann. Es erreicht durch seine Arbeit an dem universellen Phänomen Rhythmus auch Menschen, die schwerwiegende und durch verbale Interventionen nur bedingt erreichbare Probleme haben und bringt sie in eine positive Entwicklungsrichtung. Die Patienten verstehen das intuitiv sehr schnell und nehmen das Angebot deshalb auch sehr gerne wahr.