"Der Körper ist dein ehrlichster Ratgeber" – Interview mit Tanztherapeutin Sabine Walter
Menschen, Musik und Tanz - das alles vereint die Tanztherapie. Der Körper eröffnet andere und neue therapeutische Bereiche und ist dabei oft ehrlicher als der Verstand. Nur haben wir verlernt, hinzuhören, sagt die Tanztherapeutin Sabine Walter. Manuel Lentz hat mit ihr über Tanztherapie gesprochen, und darüber, wie wir lernen können, wieder mehr auf unseren Körper zu hören.
Erzählen Sie mir, wie Sie zur Tanztherapie kamen.
Ich kam dazu, weil mich in meinem Leben immer drei Dinge interessiert haben. Das eine waren Menschen: warum sie so sind, wie sie sind, warum die einen Dinge tun und die einen Dinge lassen, und warum sie manchmal vorgeben, etwas anderes zu sein. Da war ich als Kind schon sehr neugierig und wollte wissen, wer die Menschen hinter ihren sozialen Masken sind. Natürlich wusste ich als Kind nicht, dass man es so nennt. Die anderen beiden Dinge sind das Tanzen und die Musik, die ich schon als kleines Kind immer geliebt habe. Während meines Studiums der Sprachheilpädagogik an der Universität in Köln lernte ich dann die Tanztherapie kennen. Susanne Bender hatte damals einen Lehrauftrag an der Heilpädagogischen Fakultät im Bereich heilpädagogische Leibeserziehung. Sie hatte zeitgleich ihr Institut für Tanztherapie in Köln gegründet. Als sie mir davon erzählte, merkte ich, dass Tanztherapie alles das vereint, was mich interessiert: Menschen, die Musik, den Tanz, aber auch das 'hinter die Kulissen schauen'. Ich ahnte, der Körper ist da ehrlicher als der Verstand (lacht). Ich habe mich dann für eine tanztherapeutische Gruppe angemeldet, um auch die andere Seite kennenzulernen. So bin ich zur Tanztherapie gekommen. Die Tanztherapie ist in vielen Bereichen und für viele Menschen nützlich. Da gibt es eigentlich keine Ausnahmen. Die Vielfalt ist so groß, weil der Körper - im Vergleich zur Sprache - nochmal ganz andere und neue therapeutische Bereiche eröffnet, über die Sie Informationen bekommen und mit denen Sie arbeiten können. Tatsächlich ist meine Erfahrung, dass der Körper der ehrlichste Ratgeber ist, den wir uns wünschen können, denn er vergisst nicht und er lügt nie. Das ist etwas, was ich zu hundert Prozent sagen kann.
Der Körper gibt ziemlich deutliche Signale?
Das Problem ist heutzutage, dass wir es verlernt haben, hinzuschauen und hinzuhören. Ebenso wie wir hier oben ein Gedächtnis haben, hat der Körper auch eines. Alles was wir erfahren - ob das Emotionen, Gefühle, Lebenserfahrung und körperliche Erfahrungen sind - wird im Körper abgespeichert, wie z.B. in den Muskeln, in den Zellen und den Gelenken. Das, was da abgespeichert ist, kann über den Verstand, aber auch über den Körper wieder gelöst werden. Was mich immer wieder fasziniert - und es ist egal, ob sie da mit Kindern oder Erwachsenen arbeiten -, ist die Tatsache, wie schnell sich diese Dinge lösen können.
Können sie mir da ein Beispiel nennen?
Bei den Erwachsenen ist das eigene Ich-Konzept sehr ausgeprägt: Jeder von uns hat ein Bild im Kopf, von dem er oder sie denkt: 'So bin ich'. Dieses Konzept hat aber in den meisten Fällen sehr wenig damit zu tun, wie sie wirklich sind. In der Bewegung kommen dann oft Dinge zum Vorschein, von denen die Leute gar nicht gewusst oder vergessen haben, dass sie in ihnen stecken. Ich kann Ihnen als Beispiel von einer Frau erzählen, die zu mir kam, weil sie davon überzeugt war, dass sie nicht viel Raum braucht und nicht gerne im Mittelpunkt steht. Gleichzeitig fühlte sie sich in ihren Bewegungen nie wirklich weiblich und hatte das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden. Wir haben damals mit den sogenannten Kinesphären experimentiert. Das sind kleine oder große Bewegungsräume, die jeden Menschen umgeben und in denen wir uns ausdrücken. Die Klientin hat sich zu unterstützender Musik in den unterschiedlich großen Kinesphären bewegt. Es war sehr interessant zu beobachten, wie unterschiedlich sich die Klientin dann bewegte. Je größer der Bewegungsraum wurde, desto mehr Energie wurde in ihrem Körper freigesetzt, desto vitaler, ausdrucksstärker und fröhlicher wurde sie, was auch in ihrem Gesicht direkt abzulesen war. Am stärksten war die Energie und Vitalität im größten Bewegungsraum, also im unbegrenzten Raum. Da kamen plötzlich ganz natürlich andere, sehr weibliche Bewegungen aus ihr heraus, die die Person gar nicht von sich kannte.
Wie geht man mit diesen Eindrücken dann um?
Nach so einer Erfahrung ist es sehr wichtig, das auch zu reflektieren, z.B. nachzufragen: Wie war es? Wie hast du dich gefühlt? Wie war deine Empfindung und Erfahrung? Es ist oft so, dass die Eigenwahrnehmung nicht mit der Fremdwahrnehmung übereinstimmt. So auch in diesem Fall. Die Person hat sich nicht groß gefühlt, jedoch konnte man es ganz klar sehen. Dadurch, dass sie jahrelang ein anderes Konzept von sich hatte, konnte sie es in dem Moment nicht annehmen, dass sie anders gewirkt hat. Es hat noch bis zum Ende der Seminarwoche gedauert, bis sie es annehmen konnte. Es ist immer wieder verblüffend, wie schnell sich ein Leben durch das Annehmen dieser Erfahrung zum Positiven verändern kann.
Ich finde es spannend, dass man es auf diese Art und Weise lösen kann. Welche praktische Ratschläge können Sie geben?
Was ich ganz wichtig finde, ist sich Zeit für Stille zu nehmen. Mit Stille meine ich, dass man in sich hineinfühlt und sich fragt: Wie geht es mir eigentlich? Wie fühle ich mich körperlich und was brauche ich heute? Wie gucke ich mich heute im Spiegel an und wie liebevoll bin ich zu mir selbst? Das mache ich immer ganz gerne nach dem Aufstehen. Das andere ist Atmung. Viele atmen sehr flach und sind nicht richtig mit ihrer Atmung verbunden. Morgens ein paar tiefe Atemzüge oder Atemübungen zu machen, finde ich da hilfreich. Ebenso das Aufrichten: Ich sehe in der Bahn immer viele Menschen, die sehr gebeugt sitzen, meistens den Kopf über ihrem Handy hängen lassen und nicht aufrecht stehen. Wenn man sich mal richtig aufrichtet oder groß macht, fühlt man sich direkt besser, stärker und größer. Ich kann mich nicht mit aufrechter Wirbelsäule, ausgerichtetem Blick und breitem Brustkorb hinstellen und mich klein fühlen. Das geht nicht. Es gibt viele kleine Sachen, die man sich in das Bewusstsein rufen kann. Im Alltag kenne ich das selber vom Autofahren in München, weil mich das manchmal stresst. Da ertappe ich mich dann mit zusammengekniffenen Pobacken, der Stirn in Falten und nach vorne gebeugt, und denke: 'Oh, Gott'. Dann schüttele ich mich, sortiere mich neu, richte mich auf und lege schöne Musik auf.
Sich ein wenig die Erlaubnis geben, sich gut zu fühlen.
Ja, genau. Die Frage ist, worauf man den Fokus setzt. Setzte ich ihn nur auf die Dinge, die gerade schlecht laufen oder lege ich den Fokus auf das, was gerade gut ist? Denn wenn du morgens aufstehst und denkst, dass der Tag nur schlecht werden kann, dann wird er auch schlecht. Seinen Fokus zu bewahren, ist aber auch eine große Herausforderung. Vorher sollte man sich bewusst werden: Was ist eigentlich mein Fokus?
Was begeistert Sie am meisten an ihrem Beruf?
Was mich am meisten begeistert, ist zu sehen, wie Menschen ihr Potential entdecken und wirkliche Transformationen erleben. Zum Beispiel wenn plötzlich ein Mensch vor mir steht, der weniger Maske und mehr er selbst ist. Das sind immer sehr bewegende und teils auch magische Momente, wenn man sieht, wie sie plötzlich über sich selbst hinauswachsen. Das berührt mich sehr. Ich werde mich immer dafür einsetzen, dass Menschen sich trauen, sich in ihrer ganzen Größe zu zeigen.