Wütend? Ich? – Körpertherapeutische Wutarbeit

Wirst du manchmal wütend? Wut ist ein Gefühl, das von vielen unterdrückt wird. Statt die Wut positiv zu nutzen, bauen wir innere Staudämme – und sind langfristig total angespannt. Unsere Autorin Evelyn Richter-Schäfer, die früher selbst nicht viel mit Wut anfangen konnte, liebt es mittlerweile, ihre Klienten körpertherapeutisch im Umgang mit der Wut zu begleiten. Wie sie das konkret macht, erfährst du hier.

Hätte mir jemand vor ein paar Jahren gesagt, dass der Umgang mit Wut mal in meiner Arbeit bedeutsam werden und ich sogar Freude daran haben würde, Menschen im Umgang mit ihrer Wut zu begleiten – ich hätte ihn vermutlich ziemlich skeptisch angeschaut. Ich konnte mit Wut nicht viel anfangen. Klar war ich ab und zu wütend – aber die Wut war nicht in meinem Bewusstsein und ich wollte auch nicht rein in dieses starke Gefühl. Vor allem hatte ich Angst davor. Das wurde mir so anerzogen oder aberzogen – auf alle Fälle zog es mich da nicht hin.

Erst in meiner körpertherapeutischen Ausbildung habe ich einen Zugang zu diesem kraftvollen und lebensbejahenden Gefühl gefunden. Erst etwas holprig, dann immer besser. Heute bin ich in der Lage, meine Klienten mit Mut darin zu begleiten, ihre eigene Wut als Wegweiser und Kraft zu nutzen. Und du?

Wut ist eine unterschätzte Lebenskraft

Wann wirst du wütend? Traust du dich in dein Wutgefühl oder hast du Angst – und wenn ja, wovor?

Wut begegnet uns vor allem an einer Stelle, nämlich an unseren eigenen Grenzen. Werden diese Grenzen von uns selbst oder anderen verletzt, signalisiert uns das unser Körper ganz deutlich und direkt mit Wut. Er ruft uns ein ‚Hey, da stimmt was nicht!’ zu – nur leider hören wir an dieser Stelle oft nicht.

Wut kommt auch dann auf, wenn wir uns selbst oder andere uns als Person nicht beachten und unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft nicht erfüllt wird. So haben Personen, die gemobbt werden, eine beträchtliche Wut in sich – unterdrücken sie jedoch anstatt sie würdevoll für sich zu nutzen.

Werden Bedürfnisse über längere Zeit nicht beachtet, der eigene Spielraum immer enger, dann kann Wut sich körperlich manifestieren oder in aggressives, gar hassgetriebenes Verhalten und Handeln umschlagen. Aggression und Hass nähren sich aus Feindseligkeit, Wut aus dem Wunsch nach Gestaltung.

Statt die Kraft der Wut kreativ und positiv zu nutzen, unterdrücken oder negieren viele ihre Wut. Statt, wie man körpertherapeutisch sagen könnte, die körperliche und somit seelische Lebenskraft fließen zu lassen, bauen wir lieber innere Staudämme, um Wut und andere unwillkommene Gefühle zu unterdrücken. Wieso machen wir das? Weil wir es ganz früh so gelernt haben.

Zwei Wutgeschichten aus der körpertherapeutischen Praxis

Birgits Vater wurde schnell aggressiv, ihre Mutter blieb hingegen still. Birgit lernte in ihrer Kindheit, dass es besser für sie war, lieb zu sein, den Sonnenschein zu spielen und den Vater aufzuheitern, statt mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen Raum einzunehmen oder gar mal wütend zu werden. Angst war ihr größter innerer Gegner und Retter zugleich. Als Erwachsene setzte sie dieses Verhalten fort: z.B. in ihrem Beruf als Krankenschwester. Und auch in ihrer Ehe nahm sie nicht viel Raum ein. Sie traute sich nicht. Als wir zu arbeiten begannen, zeigte sie deutliche Zeichen der Erschöpfung und leicht depressive Symptome – was ihrem unterdrückten Lebensenergiehaushalt entsprach. Ich unterstützte sie darin, ihre Energie und auch ihre Wut wieder in Bewegung zu bringen. Zum einen fokussierte ich durch Standübungen darauf, ihr ein Gefühl von Stabilität zurückzugeben. Zum anderen half ich ihr durch körpertherapeutische Übungen Raum für sich einzunehmen und mit ihrer Wut zu experimentieren. Sie staunte, wieviel Kraft eigentlich in ihr steckte. Irgendwann war sie dann da, ihre Wut, voller Tränen, Kraft, Zorn, Stimme und Erleichterung. Diese körperlich erfahrene Kraft stärkte ihr Selbstwertgefühl und ermutigte sie, sich ihrer Angst vor Zurückweisung im Alltag zu stellen.


Daniel war ein Mamakind, wie er sich selbst nannte, und wurde von den Frauen in seiner Familie großgezogen. Sein Vater war als Beziehungsperson nicht existent. Diese Frauen taten vor allem eines: reden und mit diesem Reden viel Raum einnehmen. Daniel wurde zu einem perfekten, stillen Zuhörer, der nur sprach, wenn er gefragt wurde. Als Daniel zu mir kam, hatte er sich gerade mit Müh und Not von seiner Freundin getrennt, die, nach dem, was er mir erzählte, narzisstische Persönlichkeitsmerkmale aufwies. Sie beeinflusste ihn wie eine Marionette und seine größte Angst bestand darin, sie könnte ihn anrufen und er wäre nicht in der Lage aufzulegen. Schlimmer noch – sie könnte ihn zurückhaben wollen und er würde so wieder in ihr ‚Spinnennetz‘ gezogen werden. Auch in seinem Beruf passierte es ihm immer wieder, dass Kollegen auf ihn zukamen und ohne Unterlass redeten. Er hörte zu, ohne eine Grenze zu ziehen oder anzumerken, dass er gerade mit anderen Dingen beschäftigt sei. Mit Daniel arbeitete ich kraftvoller. Ich erfuhr, dass er ein Faible für Heavy Metal hatte und er diese Musik mit Freiheit verband. So begaben wir uns nach einigen Stunden Vorarbeit in einen Raum, in dem wir laut werden konnten und er sich körperlich gezielt ausarbeiten durfte. Seine Lieblingsmusik unterstützte ihn dabei. Unter Einbezug von Körper, Atem und Stimme ließ er Themen los und holte sich z.B. seine Aufmerksamkeit und Liebesfähigkeit zurück. Nach den körpertherapeutischen Übungen hatte er keine Angst mehr vor einem möglichen Anruf seiner Expartnerin. Sein Selbstwertgefühl stieg und damit auch die Bereitschaft, sich selbst mehr ins Zentrum seines eigenen Lebens zu stellen. Wut sei Dank!

Körpertherapeutische Wutarbeit in der Praxis: ein paar Beispiele

Nun hat natürlich nicht jeder Therapeut die Möglichkeit, in seinen Räumlichkeiten lauter zu werden als gewohnt. Nicht jede Art von Wutarbeit passt in das Flair meiner Praxis, weshalb ich dafür auch externe Räume nutze. Nichtsdestotrotz gibt es Übungen, die ich für sehr alltagstauglich halte und jedem empfehle einmal auszuprobieren. Sie mögen etwas ungewöhnlich sein, sind jedoch hochgradig effektiv, da sie angestaute Energie wieder in den Fluss bringen und der Wut damit ein gezieltes Ventil bieten.
 

1. Das Handtuch auswringen

Viele der Anspannungen, die aus zurückgehaltener Wut entstanden sind, sitzen im Nacken und Armbereich und bekommen zu wenig Möglichkeit der Ausarbeitung. Was tun? Man nimmt ein kleines Handtuch, rollt es zusammen und beginnt es auszuwringen. Man kann dem Klienten oder sich selbst noch die Idee anbieten, sich vorzustellen, der wutauslösenden Person den Hals umzudrehen – natürlich nur in der Vorstellung. Wichtig ist hier, nebst der gezielten Kraftanstrengung und der Möglichkeit zum Selbstausdruck Stimme und Atem beizugeben. So soll der Atem weder angehalten noch gepresst werden und auch die Stimme darf mitmachen mit einem ‚Aaaah‘ oder ‚RRRRRRh‘, ohne dabei die Zähne zusammen zu beißen. Körper, Atem und Stimme dürfen fließen und einen Ausdruck finden. Leitet man einen Klienten dazu an, macht man mit – Training der eigenen Komfortzone inklusive!

2. Ins Handtuch beißen und knurren

Das Handtuch kann man gleich für noch eine Übung nutzen und zwar folgendermaßen: Man nimmt das eingerollte Handtuch zwischen die Zähne und beißt kräftig darauf, während man knurrende und aggressive Geräusche macht. Klingt lustig? Das ist es auch. Vielmehr jedoch ist es wirksam: Denn auch im Kiefer versteckt sich gerne aufgestaute Wut und wird somit gelockert und aufgelöst. Auch hier heißt es mitmachen und den Klienten mit dieser Übung nicht allein dastehen lassen. Das bringt nicht nur den Klienten mit seinem Thema weiter, sondern fördert auch die Beziehung zwischen dem Klienten und dem Therapeuten sehr.

Zwei kleine, spannende Übungen mit großer Wirkung. Ob und wie du dich an die Wut heran oder in körpertherapeutisches Arbeiten hinein traust, liegt natürlich in deiner Hand. Für mich gilt mittlerweile: Wutarbeit? – ja unbedingt!