„Ja, aber...“ – Ein Fallbeispiel

Als Psychologische Psychotherapeutin hat unsere Autorin Claudia Rockstroh immer mal wieder Patient:innen in Therapie, deren Veränderungsmotivation ambivalent ist. Wie beispielsweise Frau A. Warum sich manchmal nichts bewegt und wie man damit umgehen kann, wenn man feststellt, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist, erfährst du in diesem Fallbeispiel.

Als sich Frau A. bei uns in der Sprechstunde vorstellte, lernte ich eine sehr gepflegte und stilvoll gekleidete 65-jährige Dame kennen. Sie schilderte, dass sie in den letzten Jahren vor ihrer Rente durch ihre Kolleginnen auf der Arbeit Ausgrenzung und Mobbing erfahren habe. Ein Jahr vor dem regulären Austritt aus dem Betrieb habe sie es nicht mehr ausgehalten und sei durch die Hausärztin mit schweren Depressionen und Angstzuständen zu einer stationären Therapie überredet worden. Nach dieser stellt sie sich bei uns vor.

Viele Veränderungen kurz vor der Rente

Frau A. war gelernte Frisörin und arbeitete nach der Wende bei einer großen Kette von Damensalons. Besonders intensiviert habe sich das Mobbing, als eine neue Filialleitung eingesetzt worden war. Diese habe alle Kolleginnen in neue Bereiche versetzt. Auch sie habe nun in gemischten Salons Herren und Kinder schneiden müssen, obwohl sie dies seit über 30 Jahren nicht mehr gemacht hatte. Ihre feste Stammkundschaft wurde ihr nach und nach entzogen. Einen Auffrischungskurs habe es ebenfalls nicht gegeben. Frau A. wirkt beim Erzählen sehr ruhig und zurückhaltend, Ärger oder gar Wut nahm ich nicht wahr. Auf Nachfrage schildert sie, dass sie sich verlassen gefühlt und unheimlich Angst gehabt hatte, Fehler zu machen und dann vor der ersehnten Rente gekündigt zu werden.

In der nächsten Sitzung fragte ich nach ihrem Ehemann. Dieser habe sie in der ganzen Zeit unterstützt. Er sei schon fünf Jahre vor ihr in Rente gegangen und habe sich zu diesem Zeitpunkt (gegen eine gemeinsame Absprache) wieder in den Vorstand eines Sportvereins wählen lassen. Diese Arbeit füllt den Alltag sehr aus und auch die Wochenenden seien durch Veranstaltungen und Wettkämpfe blockiert. Frau A. schildert, erneut ohne jeglichen Ärger, dass sie eigentlich mit ihrem Mann die Abmachung gehabt hatte, in der Rente herumreisen zu wollen. Die Ängste, die sie habe, verhinderten dies nun - aber auch dieses Ehrenamt. Vor einem Gespräch oder sogar der Forderung, als Vorsitzender zurückzutreten, schrecke sie zurück. Sie sei sehr dankbar, dass ihr Mann in der schweren Zeit zu ihr gehalten habe.

Es bewegt sich nichts

Auf die Frage, was sie sich von der Psychotherapie wünsche, formuliert sie die Besserung der Symptome. Also fing ich an zu arbeiten; schlug ihr die ein oder andere Intervention vor, die zur Besserung beitragen könnte. Aber Frau A. hatte immer ein Gegenargument parat, warum dies oder jenes nicht funktionieren würde und ließ sich auch nicht auf Experimente ein. „Ja, ich reise gern, aber die Angst von zu Hause weg zu sein, verhindert das.“, „Ja, ich möchte die Angst loswerden, aber ich probiere nicht aus, alleine einkaufen zu gehen. Das kann ich nicht.“

Am Anfang war ich sehr motiviert ihr den „Werkzeugkoffer“ vorzustellen, Veränderungsvorschläge so klein wie möglich zu halten, damit sie für sie bewältigbar waren, aber es kam immer wieder „ja, aber…“.

Ich bin ehrlich, ich war ziemlich frustriert und schon etwas genervt von ihrer Unbeweglichkeit. Wollte Frau A. denn nicht eine Besserung der Symptome erreichen? Gab es etwas, was sie daran hinderte? Oder gab es vielleicht auch einen Vorteil in der jetzigen Situation?

Ich fasste den Plan, Frau A. in den nächsten Sitzungen auf vielfältige Art und Weise in ihren Aussagen zu validieren und hielt mich mit Vorschlägen zurück. Nach ca. 5-6 Stunden fuhr sie mich wütend an, warum sich ihr Zustand nicht bessere und warum ich keine Veränderungsvorschläge mehr machen würde. Ich schilderte ihr meine Bedenken, dass meine Vorschläge vielleicht nicht umzusetzen seien, und dass ich sie nicht unter Druck setzten wolle. Nun wurde Frau A. sehr still. Sie erzählte, dass ihr Mann und ihre Kinder, sowie Freunde und Nachbarn, immer fragen, wann es denn nun endlich mit ihr besser würde und sie sich sehr schäme, wenn sie zugeben müsse, dass sie noch krank sei. Sie vermeide daher Geburtstage und ähnliche Veranstaltungen; ihr Mann gehe da inzwischen immer allein hin. Weiterhin äußert sie, dass sie gerne mit Würde in die Rente verabschiedet worden wäre. Aber da sie Angst habe, das Geschäft zu betreten, könne sie auch keinen Abschied forcieren.

Die Symptome als Rettungsanker

Ich spürte die tiefe Traurigkeit, die Frau A. aufgrund dieser Angelegenheit empfand. Ich fragte sie, ob sie eine solche Traurigkeit, aber auch eine solche Angst aus der Vergangenheit kenne. Sie schilderte zögerlich, dass sie als Kind keine Schwäche hätte zeigen dürfen. Die Eltern seien sehr streng gewesen und unerbittlich. Faulenzen oder gar schlechte Noten seien nicht möglich gewesen. Sie sei zu Gehorsam und Fleiß erzogen worden. Sie glaube fest, dass sie dies später in der Ausbildung, im Beruf und auch zur Wende gerettet habe. Durch ihren Fleiß habe sie sich viele Privilegien erarbeitet. Sie sei sehr stolz darauf gewesen – bis die neue Filialleitung eingesetzt worden war und das alles nicht mehr gegolten habe. Ich fragte vorsichtig, ob die Krankheit sie vor noch mehr Demütigung geschützt habe. Sie nickt vorsichtig und ergänzt gleichzeitig: „Ich habe immer funktioniert.“

Nun begriff ich, dass für Frau A. die Symptome auch ein Rettungsanker waren. Sie konnte sich „rechtmäßig“ von der Arbeit fernhalten und zu Hause nahm ihr der Ehemann vieles ab. Sie musste nicht mehr funktionieren und „durfte“ nun auch mal „nichts tun“. In unserer nächsten Stunde zeigte ich ihr behutsam diesen Kreislauf auf, der natürlich auch Geister aus der Vergangenheit wachrief: „Du musst fleißig sein, du darfst dich nicht ausruhen!“ und Unmut ihrer näheren Umgebung: „Wann geht es dir denn mal besser?“ Frau A. zeigte sich höflich interessiert, aber mehr auch nicht.

Noch nicht der richtige Zeitpunkt

Was würde es für sie bedeuten, an dem Teufelskreis etwas zu verändern? „Ja, aber wenn das alles nichts bringt und sich trotzdem nichts verändert?“ Sie wich mir wieder aus, verschanzte sich erneut hinter ihrem „Ja, aber...“ und ließ mich nicht noch einmal hinter die Fassade blicken.

Am Ende der Psychotherapie bat sie nicht um eine Verlängerung und ich bot ihr auch keine an. Sie hätte sie nur aus ihrem Pflichtbewusstsein angenommen, nicht weil sie sie gern gewollt hätte, davon bin ich fest überzeugt. Ich glaube, dass für Frau A. noch nicht der Zeitpunkt für eine Psychotherapie gekommen war.

„Manchmal brauchen die Dinge Zeit und ungewöhnliche Wege.“ Dies stand auf der Abschiedspostkarte, die ich Patiente:innen gern zum Abschluss einer Behandlung mitgebe. Sie gab mir eine Umarmung und verabschiedete sich höflich. Ja, aber wenn sich unsere Wege noch einmal kreuzen, dann bin ich gespannt!

Zeit für Reflektion

Als Psychotherapeut:in begegnen einem Patient:innen mit einer ambivalenten Veränderungsmotivation immer mal wieder. Ich bin kein Freund davon auszugehen, dass Motivation bereits eine Voraussetzung für eine Psychotherapie sein muss. Vielmehr denke ich, dass es auch zu unseren Aufgaben gehört, diese zu schaffen. Bei der oben beschriebenen Patientin war es mir trotz einer motivorientierten Beziehungsgestaltung nicht gelungen, eine echte Veränderungsmotivation zu erreichen. Ich denke, das lag vor allem an zwei Faktoren. Erstens: Es war wahrscheinlich nicht der richtige Zeitpunkt. Und der zweite Faktor war sicherlich auch mein Alter. Zwischen uns lagen damals 37 Jahre Altersunterschied. Eine Psychotherapie auf Augenhöhe war dadurch, trotz aller meiner Bemühungen, sicherlich nicht gegeben.