Wie Therapeut*innen mit Wartezeit umgehen können
Die Wartezeit auf Therapieplätze ist ein zentrales und oft diskutiertes Thema, wenn es um die Patient*innenversorgung geht. Die Corona-Pandemie hat die psychischen Belastungen in der Bevölkerung noch einmal verstärkt. Ängste, Einsamkeit und Trauer sorgen dafür, dass mehr und mehr Menschen sich Hilfe suchen - und die Wartezeiten auf einen Therapieplatz weiter steigen. Was kannst du als Therapeut*in tun, wenn deine Warteliste immer länger wird? Über Praxismanagement, Sprechstunden und andere Möglichkeiten.
Wartezeit, ist sie wirklich ein Problem? „Fette Sorgen.“ So nennt meine Frau Probleme, die aus dem Überfluss entstehen. Als ich meine Praxis eröffnete, hatte ich keinen Kassensitz. Die Akquise von Privatpatient*innen und das Kostenerstattungsverfahren fand ich herausfordernd. Als ich dann den ersehnten Kassensitz kaufen konnte, ging es los mit den „fetten Sorgen“. Ach war das schön, täglich meldeten sich Patient*innen, die gerne bei mir eine Therapie machen wollten und in kurzer Zeit war mein Wochenplan voll.
Nur, dann meldeten sich nicht weniger Menschen…
Ich begann eine Warteliste zu führen. Nach 12 Monaten hatte ich eine Liste von wartenden Patient*innen, bei der die Menschen auf den hinteren Plätzen mehr als drei Jahre warten mussten, um bei mir einen Therapieplatz zu bekommen.
Mein Supervisor machte mir deutlich, dass dies keine Lösung sei und ich die Wartezeit auf maximal zwei Jahre begrenzen müsse. Selbst das natürlich ein unverhältnismäßig langer Zeitraum, wenn ein Mensch Hilfe sucht.
Ein Einzelschicksal?
Die jüngste Erhebung der Bundespsychotherapeutenkammer ergab, dass die durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapieplatz mindestens drei bis neun Monate beträgt (diese Zahlen stammen jedoch aus 2019 - vor Pandemie und Lockdown). Eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung vom Januar 2021 zeigt, dass 40 % der Patient*innen zu diesem Zeitpunkt länger als 6 Monate auf einen Platz warten müssen. Dabei gibt es erhebliche regionale Unterschiede. In Großstädten ist die Wartezeit meist kürzer, in ländlichen Regionen oft länger (womit klar ist, wo sich meine Praxis befindet).
Durch die lange Wartezeit besteht die Gefahr, dass sich Krankheiten chronifizieren, was dann ggfs. durch eine länger dauernde Behandlung ausgeglichen werden muss. Darüber hinaus steigen nach meinem Eindruck bei langen Wartezeiten die Erwartungen an den Therapieerfolg in den unrealistischen Bereich.
Was also können Therapeut*innen tun, um die Wartezeit sinnvoll zu gestalten?
Praxisorganisation
Zunächst gilt es, die Organisation der wartenden Patient*innen in den Griff zu bekommen. Dazu reicht eine einfache Tabelle im Praxisverwaltungssystem oder auch eine Excel Tabelle. Wichtig ist, sich über die Sortierreihenfolge klar zu werden. Meine Liste sortiere ich nach dem ersten Datum des ersten Sprechstundentermins. Auch eine Sortierung nach dem Datum der Kontaktaufnahme ist möglich.
Entscheiden muss ich mich auch, ob ich mir Eingriffe in die Priorisierung erlaube, oder ob ich die Patient*innen strikt nach der Wartezeit in die Therapie aufnehme. Hier habe ich für mich entschieden, klar nach der Wartezeit vorzugehen. Die einzigen Ausnahmen bisher waren Akutbehandlungen bei denen durch ein schnelles Eingreifen unmittelbare Risiken abgewendet werden können (z. B. unmittelbar drohende Obdachlosigkeit).
Wichtig erscheint mir darüber hinaus, dass ich nachfragenden Patient*innen zu jedem Zeitpunkt mitteilen kann, auf welcher Wartelistenposition sie aktuell stehen. Stets mit dem frustrierenden Hinweis versehen, dass ich noch nicht abschätzen kann, wann ein Therapieplatz frei wird.
Patient*innen-Management in der Wartezeit
Ab der ersten Sprechstunde sind die Patient*innen „meine Patient*innen“.
D. h. ich bin ihr Ansprechpartner bei Nachfragen und versuche sie im Rahmen meiner Möglichkeiten bereits in der Wartezeit voranzubringen. Daher begann ich, meinen wartenden Patient*innen regelmäßig Übungen zuzusenden, um sie bei der aktiven Nutzung der Wartezeit zu unterstützen. Diese Vorgehensweise hat zwei „Haken“:
- Der organisatorische Aufwand, zu notieren, welche Patient*innen bereits welche Übung bekommen hatten, und dann die nächste zu schicken, hat sich nach kurzer Zeit als kaum umsetzbar dargestellt. Daher habe ich die Übungen in einem Patient*innen-Ratgeber zusammengefasst und kann diese Sammlung in der Sprechstunde den Patient*innen mitgeben.
- Das gute Wartezeitmanagement empfinden die Patient*innen als sehr wertschätzend und es erzeugt eine überdurchschnittlich hohe Bindung der Wartenden an meine Praxis. Die Patient*innen sind daher viel weniger bereit, sich auch bei anderen Therapeut*innen auf die Warteliste setzen zu lassen. Für dieses Problem („fette Sorgen“) habe ich noch keine Lösung gefunden und bin für Ideen dankbar!
Die Sprechstunde nutzbar machen
Die Psychotherapeutische Sprechstunde stellt in meiner Praxis ein sehr gutes Mittel zum Wartezeitmanagement dar. Ich versuche alle wartenden Patient*innen 3x im Jahr in einer 50-minütigen Sprechstunde zu sehen. Vorteile dieses Vorgehens sind:
- Verlaufsdiagnostik in der Wartezeit: Manchmal frustrierend, jedoch wichtig erscheint mir in den Sprechstunden den Verlauf der psychischen Erkrankung nachzuverfolgen.
- Eskalationsmanagement: Bei deutlicher Verschlechterung der Symptome nutze ich die Sprechstunde, um Kriseninterventionsmöglichkeiten zu klären (z. B. psychosomatische Reha, tagesklinische Behandlung) oder bei gefährlichen Verläufen (akute Suizidalität) die Einweisung in eine Klinik zu veranlassen.
- Fördern der Veränderungsmotivation: Durch meine Fragen in der Sprechstunde, z. B. „Was haben Sie seit unserem letzten Termin bereits unternommen, damit Sie vorankommen?“, „Was hat Ihnen geholfen?“, „Was können Sie in den nächsten Monaten bereits tun?“, wirke ich von der Therapiemotivation in Richtung Veränderungsmotivation. Dies erleichtert dann auch den Einstieg in die Therapie.
- Unterstützung beim Suchen von Alternativen: Hier reflektiere ich mit den Patient*innen, welche anderen Möglichkeiten zur Verbesserung der Symptome bestehen. Neben Reha Maßnahmen spreche ich auch über die medikamentöse Behandlung. Ein wichtiges Thema sind dabei die Möglichkeiten, die ein Coaching oder eine Beratung bieten können.
Kann ich nicht auf eine Warteliste verzichten?
Auf eine Warteliste zu verzichten, geht. Mir erscheint es jedoch eine Erleichterung zu Lasten der Patient*innen. Wer keine Warteliste führt, bittet die Patient*innen meist, sich in regelmäßigen Abständen wieder zu melden. Wenn dann beim Anruf ein Therapieplatz frei geworden ist, kann ich ihn diesem/dieser Patient*in anbieten. Dieses Vorgehen mag aus Sicht der Therapierenden sinnvoll erscheinen. Es überfordert jedoch Patient*innen, die aktuell nicht stabil sind.
Coaching und Beratung in der Wartezeit?
Psychische Erkrankungen gehen oft mit Problemen im Beruf und in privaten Situationen einher und nicht selten sind diese Probleme aktueller Auslöser einer psychischen Erkrankung. Daher erscheint es manchmal sinnvoll, während der Wartezeit auf einen Therapieplatz, Coaching und Beratung zu empfehlen. Gerade bei akuten Problemsituationen (z. B. drohender Arbeitsplatzverlust durch Absentismus) kann durch gezieltes Coaching meist eine Eskalation verhindert werden. Dem deutlichen Nutzen dieser Angebote stehen oft wirtschaftliche Restriktionen entgegen, insbesondere bei Menschen, die schon länger psychisch krank sind. Hier kann gemeinsam nach kostengünstigen Beratungslösungen institutioneller Hilfseinrichtungen gesucht werden. Für gläubige Patient*innen stellen oft auch seelsorgerische Leistungen von Pfarrer*innen oder Geistlichen anderer Konfessionen eine gute Unterstützung dar.
Brauchen diese Patient*innen dann noch eine Therapie?
Manchmal nein, oft ja. Natürlich gibt es Spontanremissionen. Bei manchen Patient*innen nimmt der Druck durch die Maßnahmen in der Wartezeit auch so sehr ab, dass sie keinen Therapiebedarf mehr sehen. Zugleich sind schwerere Krankheitsverläufe meist erst durch eine Psychotherapie langfristig erfolgreich zu behandeln.
Fazit
Die lange Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz stellt ein aktuelles Versorgungsproblem dar. Zugleich kann die Wartezeit sinnvoll genutzt werden. Dann werden Veränderungsmotivation, Frustrationstoleranz, Selbstreflexion und Selbstwirksamkeitserfahrungen unserer Patient*innen weiterentwickelt.