Das Gutachterverfahren wird abgeschafft!?

Frau sitzt am Laptop im Büro

Quasi über Nacht und ohne vorher Expert*innen anzuhören wurde der Psychotherapiereform eine tiefgreifende Änderung beigefügt: das Gutachterverfahren soll abgeschafft werden. Einerseits unbeliebt, sichert es seit über 50 Jahren ein einmaliges psychotherapeutisches Versorgungssystem. Worauf musst du dich als Psychotherapeut*in künftig einstellen? Unser Autor Ingo Jungclaussen informiert dich über die Hintergründe der Reform und den aktuellen Stand.

Der Bericht an den Gutachter: von vielen ungeliebt, sichert er doch, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen eine ambulante Psychotherapie bekommen können und diese vorab auch als prognostisch günstig und wirtschaftlich eingeschätzt wird. In diesem Fall bist du als Psychotherapeut*in von einer nachträglichen Wirtschaftlichkeitsprüfung ausgenommen (Vorab-Wirtschaftlichkeitsprüfung“). Ein Privileg, das es in dieser Form in keinem anderen Feld der Gesundheitsversorgung gibt und das jetzt auf dem Prüfstand steht

Das Gutachterverfahren gibt es seit 50 Jahren. Doch nun beinhaltet die Reform der Psychotherapieausbildung von 2019/20 diesbezüglich tiefgreifende Veränderungen: Mit der Verabschiedung des Gesetzes wurde der Beschluss gefasst, dass bis Ende 2022 neue Formen der Qualitätssicherung entwickelt werden und damit das Gutachterverfahren abgeschafft werden soll. Ab 2023 würde es dann den Bericht an den Gutachter nicht mehr geben.     

Wie kam es zu dieser tiefgreifenden Änderung? 

Während sehr viel über die neue Psychotherapiereform diskutiert wurde, blieb die Veränderungen des Gutachterverfahrens bis zuletzt der Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Die Abschaffung durch den Gesetzgeber schien eher eine „Nacht- und Nebel-Aktion“ zu sein: Die entscheidende Änderung wurde nur wenige Tage vor der Abstimmung in den allerletzten Änderungsantrag der Regierungskoalition hineingeschrieben. 

Dies wurde von berufspolitischer Seite kritisch diskutiert, denn zum Änderungspunkt hatte weder eine öffentliche Debatte noch eine Expert*innenanhörung im Bundestag stattgefunden. Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) e.V. war der einzige therapeutische Verband, der vor Abstimmung eine kritische Stellungnahme verfassen konnte welche aber nur wenige Menschen überhaupt erreichte. Schließlich wurde das gesamte Gesetz inkl. der Abschaffung des Gutachterverfahrens am Ende eines langen Plenartages im Bundestag nach 23 Uhr angenommen – mit den Stimmen der Regierungskoalitionsfraktionen, gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und AfD.

Sicht auf den Bundestag von oben durch die Glaskuppel.

Ging es nicht ursprünglich um eine Verbesserung der Ausbildungssituation?

Ja. Das Reformgesetz hatte ursprünglich eine andere Zielrichtung, nämlich die Reform der Psychotherapieausbildung. Das heißt, mit der Abschaffung des Gutachterverfahrens wurde etwas in ein Reformgesetz hineingeschrieben, das mit der eigentlichen Thematik und Zielsetzung gar nichts zu tun hatte. Solche Änderungen werden auch Omnibusgesetze oder Goldplating genannt: Man nutzt die Gunst der Stunde, dass gerade die Zeichen auf Änderung stehen, um noch etwas „hineinzuregeln“, was man sonst nicht hätte ändern können.

Was bedeutet die Veränderung konkret? 

Anstelle des Gutachterverfahrens soll es künftig neue Formen der Qualitätssicherung geben. Konkret wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitssystem (IQTIG) beauftragt, diese neuen Formen zu erarbeiten. Seit November 2019 haben sich entsprechende Arbeitsgruppen formiert, die derzeit Vorschläge erarbeiten. 

Seit Frühling 2020 wurden dazu bundesweit auch Psychotherapeut*innen aufgerufen, sich im Rahmen eines Vortests an der Erprobung eines neuen Fragebogens zu beteiligen. Der Aufruf wurde über berufspolitische Kanäle verbreitet. Du findest ihn im Original hier auf der Seite des IQTIG-Instituts. Die Auswertung der Befragung soll bis zum ersten Quartal 2021 erfolgen. Eine Teilnahme war bis Juni 2020 möglich. 

Den vollständigen Wegfall des Gutachterverfahrens und die zu erwartenden neuen Formen der Qualitätssicherung werden von vielen Psychotherapeut*innen mit Sorge gesehen.

Zwei Frauen sitzen am Schreibtisch und zeigen mit dem Zeigefingerauf einen Laptop.

Wie könnten die neuen Formen der Qualitätssicherung aussehen? 

Nicht unwahrscheinlich ist es, dass Bögen erhoben werden, die psychometrische Daten der Patient*innen erfassen, wie zum Beispiel Symptomverlaufsbögen. Aber inwieweit erfassen psychometrische Instrumente auf valide Weise den Therapieerfolg und Therapieprozess? Dies wird kontrovers diskutiert. Auch die Akzeptanz solcher Instrumente ist unter den verschiedenen Psychotherapieverfahren unterschiedlich groß. 

Während eine solche Form der Qualitätssicherung aus technischer Hinsicht mit Praxisverwaltungssystemen keine große Hürde darstellen würde, ist in (berufs-)politischer und rechtlicher Hinsicht mit großen Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes zu rechnen. Es ist nicht auszuschließen, dass es seitens der Patient*innen einen aktiven Widerstand geben wird und dass eine hohe Anzahl an Patient*innen und Therapeut*innen einer Weitergabe von Daten aus ihren Behandlungen für die Qualitätssicherung widersprechen werden. 

Die Notwendigkeit scheint umso größer, alternative Modelle der Qualitätssicherung anzubieten, die den Anforderungen gerecht, aber auch von Patient*innen und Psychotherapeut*innen in der Praxis angenommen werden. Dem Gesetzesentwurf ist zu entnehmen, dass für die Qualitätssicherung auch bewährten Methoden wie Intervision, Supervision und Qualitätszirkel berücksichtigt werden sollen. 

Eine weitere offene Frage ist, ob die oben genannte Vorab-Wirtschaftlichkeitsprüfung im Rahmen der neuen Qualitätssicherung erhalten bleibt oder wegfallen wird. Ein Wegfall könnte dazu führen, dass sich Psychotherapeut*innen bei Regressforderungen den Kassen gegenüber rechtfertigen müssten, z.B. wenn ihr Abrechnungsverhalten aus dem Raster der Durchschnittswerte fällt. 

Kugelschreiber in der Hand über Collegeblock

Fazit 

Es ist denkbar, dass die Umsetzung des neuen Gesetzesauftrages mit erheblichen Schwierigkeiten bzw. großen Anforderungen verbunden sein wird. Die gesetzlichen Fristen zur Umsetzung des neuen Modells sind recht eng gehalten und es wurden von berufspolitischer Seite erste Proteste angekündigt. Du kannst in jedem Falle die Kanäle deines Berufsverbandes nutzen, um dich sowohl über den weiteren Verlauf der Entwicklungen zu informieren als auch um deine eigenen Interessen zu kommunizieren. Der BDP informiert dich über regelmäßige Artikel zum Thema in seiner Verbandszeitschrift report psychologie

Tipp: In dem untenstehenden Link findest du eine Sammlung von entsprechende Artikeln rund um die Reform der Richtlinien zum kostenlosen Download.