Wege aus der Mitgefühlsmüdigkeit

In der therapeutischen Arbeit bist du darauf angewiesen, Verständnis und Mitgefühl für deine Patienten aufrechtzuerhalten. Aber gerade junge Kollegen können davon bedroht sein kann, immer wieder mit den Problemen anderer zu tun zu haben. Mitgefühlsmüdigkeit – ein ernstzunehmendes Problem und Berufsrisiko für Therapeuten. Was du dagegen tun kannst, erklärt dir unsere Autorin Angelika Rohwetter.

1978 erschien das Buch Stress Disorders among Vietnam Veterans des amerikanischen Psychologen und Familientherapeuten C. R. Figley. Kurze Zeit später stellte der Forscher fest, dass sich ähnliche Symptome wie bei den Veteranen auch bei den Behandlern zeigten. Dieses Phänomen nannte Figley Sekundäre Traumatisierung. Als 2015 viele Flüchtlinge mit traumatisierenden Erfahrungen in Deutschland versorgt und zum Teil psychologisch behandelt werden mussten, geriet das Phänomen auch hier in die Aufmerksamkeit.

Nun arbeite ich selbst als niedergelassene Psychotherapeutin zuweilen mit traumatisierten Patienten, fühlte mich aber selbst keineswegs traumatisiert. Trotzdem traten Gefühle auf wie Langeweile, Ärger und Ungeduld. Machmal dachte ich während der Therapiestunden darüber nach, was ich in der Mittagspause essen würde – und schämte mich ein bisschen dafür. Dann entdeckte ich, dass ich mit diesen Gefühlen nicht allein war. Figley hatte sogar auch dafür ein Wort. Er nennt mein damaliges Problem "Compassion fatigue". Im Deutschen wurde dieser Begriff zuerst mit "Mitgefühlserschöpfung" übersetzt, wobei ich die Bezeichnung "Mitgefühlsmüdigkeit" zutreffender finde.

Haben wir nicht einen schönen Beruf?

Ich begann, mich vorsichtig bei Kollegen umzuhören, ob sie solche Gefühle auch kennen – und stieß eher auf Widerstand. Oft wurde mir beschrieben, was für einen schönen, sinnvollen und erfüllenden Beruf wir hätten. Als ob ich das nicht wüsste! Ich begann, mich weiter mit dem Thema zu beschäftigen und Fortbildungen dazu anzubieten, die immer gut besucht waren. Hier erfuhr ich von vielen Problemen der Kollegen, auch von solchen, die gar nichts mit den Patienten zu tun hatten, aber die Arbeit im Ganzen belasteten. Dazu gehörten die ganze Verwaltungsarbeit ebenso wie ein unsicherer Status – und private Probleme. Sicher, ein Therapeut, der gerade in einer schmerzhaften Trennungssituation lebt, kann vielleicht nicht gut Paare beraten. Gleichzeitig war es mir wichtig, die Ursachen von  Mitgefühlsmüdigkeit direkt in der therapeutischen Arbeit zu suchen.

Ursachen der Mitgefühlsmüdigkeit beim Therapeuten

Als erstes fiel mir auf, dass auch junge Kollegen, die gerade ihre Ausbildung beendet hatten, von dem Phänomen betroffen waren. Das klingt nur im ersten Augenblick verblüffend. Junge Kollegen sind sogar besonders gefährdet und zwar aus verschiedenen Gründen. Ihre Ausbildung gibt ihnen zwar Handwerkszeug für die praktische Arbeit mit, ist gleichzeitig an eine bestimmte therapeutische Methodik gebunden. Nun kann sich dieses Repertoire erschöpfen, vielleicht, weil es nicht für die Störung geeignet ist oder weil der Widerstand und die Übertragungsproblematik des Patienten nicht aufgefangen werden können. Ältere Kollegen arbeiten selten schulentreu, sie haben ihre Interventionsmöglichkeiten im Laufe der Jahre durch Fortbildungen erweitert.

Junge Kollegen haben häufig hohe Erwartungen an sich selbst, ganz besonders, wenn diese durch Äußerungen von Patienten verstärkt werden. Sie haben die Erfahrung noch nicht gemacht, nicht allen Menschen helfen zu können. Diese Erfahrung ist – bis zur Akzeptanz der eigenen Begrenztheit – mit einigen narzisstischen Verletzungen verbunden. Ich habe da schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Manchmal habe ich zum Beispiel mit Menschen eine Therapie begonnen, die mir in den ersten Gesprächen erzählten, wie viele Therapien sie schon durchlaufen haben, beziehungsweise wie viele Therapeuten ihnen vermittelt hätten, dass sie sich nicht in der Lage fühlten, mit ihnen zu arbeiten. Als junge Therapeutin habe ich viele schwierige Menschen in Behandlung gehabt, zum Beispiel Patienten mit Persönlichkeitsstörungen (unter anderem Borderline-Patienten) und sogar eine Patientin mit ausgeprägter Paranoia. So erwarb ich den Ruf, ich könne besonders gut mit sogenannten frühgestörten Patienten arbeiten, und ich war stolz darauf – bis sich bei mir die Mitgefühlsmüdigkeit einstellte.

Das Gefühl zu versagen

Gerade am Anfang einer selbstständigen psychotherapeutischen Arbeit sind junge Kollegen starken Ambivalenzen ausgeliefert. Ich meine den Wunsch (und Selbst-Anspruch), allen Menschen helfen zu können und auf der anderen Seite das Gefühl des Versagens, der Hilflosigkeit. Letztere kann zu Fragen führen wie: „Ist das überhaupt der richtige Beruf für mich? Habe ich mich vielleicht überschätzt?“ In seltenen Fällen mögen diese Fragen berechtigt sein, in den meisten sind sie ein Symptom – und eine Warnung: Achtung, Selbstüberforderung! Statt zu überlegen, was man noch besser machen könnte, ist es sinnvoller, über folgende Fragen nachzudenken:

Was kann ich anders machen, damit mir die Freude an meinem Beruf nicht verlorengeht? Habe ich vielleicht einfach zu viele Patienten? (Das kommt bei jungen Kollegen häufig vor, weil sie oft unter finanziellem Druck nach der teuren Ausbildung stehen). Versuche ich vielleicht, zu viele Menschen mit demselben Störungsbild zu behandeln? (Drei schwer depressive Patienten hintereinander sind wirklich schwer zu ertragen!) Auch gilt es, äußere Dinge zu überprüfen wie den Raum, in dem man arbeitet. Ist er hell genug und fühle ich mich in ihm wohl?

Erste Lösungen

Im oben Gesagten verstecken sich schon die ersten Lösungen. Sie dienen der Vermeidung der Mitgefühlsmüdigkeit bzw. der Auflösung der ersten Symptome. Vor allem: Liebe junge Kollegen, nehmt euch die Zeit, eure zukünftigen Patienten genau anzusehen. Nach den Psychotherapierichtlinien habt ihr drei Sprechstunden und vier probatorische Sitzungen! Einer meiner Lehrtherapeuten erklärte mir seine lange Entscheidungszeit so: „Ich muss sicher sein, ob ich jemanden so lange Zeit liebevoll begleiten kann.“ Im Kern gilt dieser Satz für mich noch heute. Und was ist zu tun, wenn mir ein Mensch einfach unsympathisch ist?

Mitgefühl allein reicht nicht, Mitleid ist eine deutliche Kontraindikation. Mitleid macht schwach, abhängig und erpressbar! Traut euch auch zu sagen, wenn euch eine bestimmte Störung zu schwierig zu sein scheint. Es ist eine gute Übung, den Patienten in diesem Punkt die Wahrheit zu sagen: „Mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung kenne ich mich leider nicht aus.“ Man kann dann noch einen Kollegen oder ein Institut empfehlen oder einfach die Telefonnummer des Terminvergabeservice der Kassenärztlichen Vereinigung oder des Psychotherapie Informationsdienstes des BDP herausgeben. So ist es nicht notwendig, sich für eine Absage zu schämen. Im Gegenteil: Diese offene Handhabung festigt die Rollensicherheit!

Ein therapeutischer Prozess ist ein Raum mit zwei Akteuren. Ich habe also dafür zu sorgen, dass es auch mir in diesem Raum gut geht.

Rollensicherheit als Vorbeugung

Zur Rollensicherheit gehört, dass der Therapeut ebenso viel Rechte hat, sich seinen Patienten auszusuchen wie umgekehrt. Dazu gehört auch, sich nicht die Gestaltung des therapeutischen Geschehens aus der Hand nehmen zu lassen. Ein therapeutischer Prozess ist ein Raum mit zwei Akteuren. Ich habe also dafür zu sorgen, dass es auch mir in diesem Raum gut geht. Sollte das nicht der Fall sein, braucht es eine Intervention, die meine Kohärenz wieder herstellt. Kohärent zu sein bedeutet, sich im Zustand des Sinnvollen zu fühlen. Zusammenhänge sind nachvollziehbar und alle Bedingungen dafür erfüllt, dass wir uns wohlfühlen. Man könnte diesen Zustand als frei von Störungen bezeichnen. Dieses Gefühl ist eine Grundlage für die Gestaltung einer Therapie.

Dazu gibt es eine Reihe von Interventionsmöglichkeiten, wie zum Beispiel eine vorsichtige Selbstäußerung: „Es fällt mir gerade schwer, Ihnen zuzuhören. Kann es sein, dass Sie das im Alltag öfter erleben? Woran mag das liegen?“ Ich kann dem Patienten eine Frage stellen, ihm ein Rollenspiel vorschlagen oder eine Geschichte erzählen. Sollte sich dabei Widerstand regen und der Patient eine Intervention ablehnen: Da gibt es ein Thema und Material zum Weiterarbeiten! Also keine Angst davor, Fehler zu machen!

Manchmal ist auch die Einführung eines Dritten in die Therapie sinnvoll. Man kann durchaus sagen: „Da weiß ich gerade nicht weiter, ich werde das Problem mit meinem Supervisor oder in meiner kollegialen Beratung besprechen.“ Psychotherapeuten sind nicht allwissend!

Und außerhalb der Therapieräume?

Das allerwichtigste Wissen eines Therapeuten ist das: Es gibt ein Leben nach der Therapie, außerhalb der Praxis! Dazu gehört die berühmte Work-Life-Balance. Auch wenn nach so vielen intensiven beruflichen Kontakten scheinbar kein Bedarf mehr besteht: Eine persönliche Begegnung mit gleichgestellten sympathischen Menschen hat immer eine heilende Wirkung. Private Interessen, mit Leidenschaft betrieben, beugen einer Mitgefühlsmüdigkeit vor oder können sie sogar heilen. Dazu gehören alle gänzlich berufsfremden Tätigkeiten, sei es Kochen, Gedichte schreiben, Wildwasser fahren, Reisen…

Mitgefühlsmüdigkeit ist ein ernstzunehmendes Problem. Man könnte es sogar als Berufskrankheit bezeichnen. Wir sind in unserer Arbeit darauf angewiesen, Verständnis und Mitgefühl für unsere Patienten zu erhalten. Dazu braucht es die eigene psychische Stabilität, die durchaus davon bedroht sein kann, immer wieder mit den Problemen anderer zu tun zu haben. In der größten Ausprägung braucht die Mitgefühlsmüdigkeit eine Auszeit, vielleicht eine Therapie oder eine intensive Supervision.