Mitgefühl und Mitleiden in der Psychotherapie – Interview mit Jochen Auer
Eine Psychotherapie ohne Mitgefühl ist kaum vorstellbar. Was aber, wenn man als Therapeut zu stark mitleidet? Jochen Auer, Diplom-Psychologe, Achtsamkeitsforscher/-coach, Buchautor und leitender Kreativtherapeut der Parkklinik Heiligenfeld, erklärt, warum uns einige therapeutische Fälle stärker persönlich belasten als andere und gibt praktische Tipps dazu, wie man es schafft, sich persönlich abzugrenzen und Mitgefühl aktiv in der Psychotherapie einzusetzen.
Warum liegt Ihnen das Thema „Mitgefühl in der Psychotherapie“ so am Herzen?
Persönlich ist es mir wichtig, weil es den menschlichen Aspekt der Beziehung in die Therapie bringt. Wenn sich zwei Menschen in der Psychotherapie begegnen, ist meistens Mitgefühl vorhanden. Die meisten Psychologen oder Psychotherapeuten haben sich diesen Beruf mit dem Wunsch ausgesucht, andere Menschen glücklich zu machen und das ist ein zutiefst mitfühlender Wunsch. Daher ist es naheliegend, diesen Wunsch auch in der Psychotherapie nicht zu vergessen, sondern explizit auszudrücken. Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass Mitgefühl heutzutage wichtiger ist denn je. Nicht nur in der Psychotherapie, nicht nur mit Menschen, sondern auch mit anderen Lebewesen, weil unser Planet begrenzt ist und wir daher auch darauf angewiesen sind, Mitgefühl mit anderen Wesen zu haben, um überhaupt überleben zu können.
Ist Therapie ohne Mitgefühl des Therapeuten überhaupt möglich?
Wenn wir ein Weltbild verwenden, das zwischenmenschliche Kommunikation auf Verhaltens- und kognitiver Ebene versteht, dann würde man die Frage eher bejahen. Es gibt Beispiele, die zeigen, dass Menschen auch etwas lernen oder sich verändern können, ohne dass irgendein äußeres Mitgefühl dafür notwendig wäre. Also ganz provokant formuliert: Lernen durch Schmerz gibt es ja auch - leider. Wobei ich mich persönlich frage, was davon am Ende übrigbleibt. Es stellt sich auch die Frage, was Therapie eigentlich ist. Wenn wir es aus der Zielperspektive definieren, dann könnten wir sagen, Psychotherapie hat das Ziel, Menschen wieder gesund zu machen oder ihnen einen Perspektivwechsel zu ermöglichen. Um das allein zu erreichen, wäre es vielleicht auch nicht unbedingt nötig, Mitgefühl zu haben. Wenn ich aber die Therapie als Methode definiere, also als Veränderung oder Gesundung einer Person in Form von Kommunikation zwischen zwei Menschen – in dem Fall zwischen Therapeut und Patient –, dann komme ich ohne Mitgefühl eigentlich nicht mehr aus. Weil wir alle fühlende Wesen sind, dementsprechend in Resonanz gehen mit anderen Menschen und dann automatisch Mitgefühl in einem gewissen Grad vorhanden ist. Ich bin der Meinung, dass Mitgefühl ein positiver Verstärker für den Heilungsprozess ist. Damit meine ich, dass es förderlich ist, Mitgefühl zu kultivieren und bewusst einzusetzen.
Glauben Sie, dass Mitgefühl etwas ist, das man als Therapeut mitbringen muss oder kann man das lernen?
Aus meiner persönlichen Erfahrung würde ich sagen, dass man es mit Sicherheit lernen kann und damit stehe ich nicht allein da. Der Buddhismus behauptet, dass man es erlernen kann und dass es nicht nur erlernbar ist, sondern als Samen in jedem Menschen schon vorhanden ist. Ob dieser Samen kultiviert worden und zu einer Blume herangewachsen ist oder eben noch bewässert werden muss und ein bisschen Dünger braucht, hängt davon ab, in welchem sozialen Umfeld wir aufgewachsen sind.
Therapeuten sollten die Fähigkeit haben, den empathischen Zustand ins Bewusstsein zu bringen und (…) umzuformulieren, in den aktiven Wunsch, dass es diesem Menschen besser gehen möge.
Wo würden Sie die Grenze ziehen zwischen Mitgefühl und Mitleiden?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zunächst Empathie und Mitgefühl voneinander abgrenzen. Empathie ist die Fähigkeit, sich in den Schmerz oder das Leid eines anderen Menschen einzufühlen. Das ist sozusagen die Grundvoraussetzung und das können alle Menschen, es sei denn, sie haben sich radikal abgeschnitten, überhaupt etwas zu fühlen. Wenn wir uns ein Bild anschauen, auf dem jemand stark verletzt wird und dessen Leid wir sehen, dann aktivieren sich schon bei dem Anblick die gleichen Gehirnareale wie bei dem betroffenen Menschen selbst. Das heißt, wir leiden sozusagen automatisch mit. Dieser empathische Zustand kann dazu führen, dass wir dann selbst stark leiden, bis hin zur Erschöpfung.
Mitgefühl geht eine Stufe weiter, denn es beinhaltet zusätzlich den tiefen Wunsch, dieses Leid zu lindern. In klassischen Mitgefühlsübungen wird das dann auch so formuliert: „Ich sehe dein Leid, mögest du sicher/gesund sein“. „Ich wünsche dir aktiv, dass es dir im Leben besser geht.“ Therapeuten sollten dementsprechend die Fähigkeit haben, den empathischen Zustand ins Bewusstsein zu bringen und auszudrücken. Es geht darum, dieses Gefühl zu erfassen und umzuformulieren, in den aktiven Wunsch, dass es diesem Menschen besser gehen möge. Und das ist ein großer Unterschied.
Dass Empathie und Mitgefühl zwei unterschiedliche Dinge sind, lässt sich auch neuronal bestätigen. Der buddhistische Mönch und Molekularbiologe Matthieu Ricard hat sich selbst für MRT-Messungen zur Verfügung gestellt und konnte zeigen, dass die im empathischen Zustand aktivierten Gehirnareale durch buddhistische Mitgefühlsübungen wieder neutralisiert werden und stattdessen Bereiche aktiviert werden, die beispielsweise bei einer liebenden Mutter aktiviert sind, die sich ihrem Kind zuwendet. Es resultieren also positive Gefühle, die das Leid neutralisieren.
Gibt es unterschiedliche Bedürfnisse bei Patienten, wieviel Mitgefühl sie vom Therapeuten brauchen?
Mitgefühl ist prinzipiell etwas, das ich in einer mitfühlenden Haltung geben kann oder ich führe es als therapeutische Intervention aktiv in Form einer Mitgefühlsübung mit Patienten durch. Ich kann mir aktiv im Stillen sagen, dass ich meinem Patienten alles Gute oder Sicherheit wünsche. Das wäre die mitfühlende Haltung. Das würde der Patient im Bewusstsein vielleicht gar nicht mitbekommen, aber im Unterbewusstsein mit Sicherheit, weil das ja meine Reaktion auf ihn beeinflusst. Bei aktiven Mitgefühlsübungen tauschen die Patienten in der Gruppe mit anderen Mitgefühl aus oder lernen, mit sich selbst liebevoll umzugehen. Es gibt Patienten, die aufgrund ihrer Krankheitssymptomatik mit Selbstliebe gar nichts am Hut haben. Für die ist es am Anfang am schwierigsten, aber am Ende profitieren sie am meisten davon. Ich bekomme häufig noch nach ganz langer Zeit E-Mails von Patienten, die sagen, dass das genau die Übung war, die ihnen in sechs oder acht Wochen Klinikaufenthalt am meisten geholfen hat, sich selbst annehmen zu können.
Was sind Warnsignale dafür, dass man persönlich zu sehr involviert ist?
Ich glaube das größte Warnsignal ist, wenn ich als Therapeut reagiere statt agiere. Das Erste was ich regelmäßig bemerke, wenn ich Therapeuten supervidiere, die zu sehr involviert sind, ist, dass sie den Patienten in Schutz nehmen wollen. Das heißt, sie sind dann eigentlich schon eins mit dem Patienten. In dem Moment nehmen sie dem Patienten die Selbstverantwortung ab und übernehmen für ihn das Kommando. Das bedeutet nicht, dass das zwangsläufig immer falsch ist. Wenn es aber in Form einer automatischen Reaktion passiert, dann ist man schon direkt mit dem Patienten nicht nur involviert, sondern auch identifiziert. Das ist dann ein wichtiger Moment, um sich zu distanzieren. Das kann man durch Achtsamkeitsübungen machen oder durch Supervision. Und dann ist es gut, sich anzuschauen was man denn eigentlich selbst damit zu tun hat. Warum bin ich da so involviert? Und wenn man diese Frage beantworten kann, dann kann man es schon mal klarer trennen. Wenn man von Patienten träumt, ist auch ganz klar, dass man nicht loslassen konnte. Es bedeutet, dass man ein ganzes Stück aus der Therapie mit ins Privatleben genommen hat und versucht, es im Traum zu bearbeiten. Ein weiteres Phänomen ist die unbewusste Übernahme von Emotionen, tiefenpsychologisch betrachtet durch Übertragungs- und Gegenübertragungsmechanismen. Wenn wir diese Emotionen dann in unserer Paarbeziehung ausleben, kann das zu Veränderungen der Beziehung oder zu Krisen führen. Das, denke ich, sind Dinge, die schneller passieren als man denkt, und daher ist es gut, immer wieder Abstand zu gewinnen. Entweder indem man selbst viel Achtsamkeitsübungen macht oder sich in engen Intervallen supervidieren lässt.
Sollte es tatsächlich so sein, dass ich selbst zu stark mitleide, dann ist es wichtig, mir das als Therapeut bewusst zu machen (…) und es dem Patienten zu sagen.
Wie beeinflusst es den Patienten, wenn der Therapeut zu sehr mitleidet?
Zuerst fühlt er sich verstanden. Dann aber verstärkt sich die Problematik, weil es keine Lösung gibt, da der Therapeut dann auch leidet und dadurch die Hilflosigkeit noch einmal verstärkt wird. Manchmal zieht sich der Patient dann zurück, weil er sieht, dass der Therapeut leidet. Sollte es tatsächlich so sein, dass ich selbst zu stark mitleide, dann ist es wichtig, mir das als Therapeut bewusst zu machen. Und ich würde in dem Fall kein Blatt vor den Mund nehmen und so mutig sein, es dem Patienten zu sagen. Denn spüren tut er es sowieso. Aber wenn ich den Mut fasse und ihm sage, dass es mich wirklich hart trifft, was er erlebt hat, dann bringt das erstens ein Commitment und zweitens auch die Bestätigung „ja das ist so“. Dadurch ist es möglich, aus der Hilflosigkeit rauszukommen. Ansonsten bleibt es beim Leiden, das still hingenommen wird.
Ist es Ihnen selbst schon einmal passiert, dass Sie mit einem Patienten zu sehr mitgelitten haben? Wie sind Sie damit umgegangen?
Ja, mit Sicherheit. Bei den Dingen, die ich als Therapeut erlebe, ist jeder Kriminalfilm langweilig geworden. Wenn eine Katastrophe mit traumatischen Auswirkungen geschieht, wie ein Tsunami auf Bali oder ähnliches, dann sind uns diese Dinge bewusst und wir lernen damit umzugehen. Schwierig ist es, wenn wir mitleiden, aber nicht wirklich wissen warum. Da ist es dann so, dass wir von Erfahrungen angetriggert werden, die unserer eigenen Biografie in irgendeiner Weise sehr ähneln. Und das ist der Moment, wo es einen selbst erwischt. Gleichzeitig ist es ein sehr spannender Moment. Deshalb mag ich die Psychotherapie, weil solche Situationen immer wieder ein Aufruf sind hinzuschauen, was da grad los ist und zu hinterfragen, was es mit einem persönlich zu tun hat. Ich würde sagen, die Selbsterfahrung in der psychotherapeutischen Arbeit ist mindestens so zeitaufwändig wie die Arbeit mit dem Patienten und ich finde, Psychotherapie macht so lange Spaß, wie man Freude daran hat, sich selbst immer wieder neu zu entdecken.
Was würden Sie Ihren Kollegen raten? Worauf sollte man achten, um ein zu starkes Mitleiden zu vermeiden?
Am Anfang der Therapie steht immer der Abschnitt, in dem wir als Therapeuten den Patienten kennenlernen und die Beziehung aufbauen. Besonders spannend ist es immer dann, wenn wir einen Patienten auf Anhieb sehr sympathisch oder unsympathisch finden. Genau dann scheint irgendeine Überschneidung unserer Biografie mit der des Patienten sehr stark zu sein. Und genau bei solchen Patienten sind wir besonders anfällig, entweder sehr stark oder gar nicht mitzuleiden. Das wäre für mich auch ein Warnsignal zu hinterfragen, warum das gerade bei mir so ist. Ich habe begonnen, direkt nach der psychotherapeutischen Einheit nicht gleich zu analysieren und rational zu reflektieren, sondern mich hinzusetzen und zehn Minuten Achtsamkeitsmeditation zu machen. Für mich ist das ein inneres seelisches bzw. mentales Aufräumen. Um einfach klarzukriegen, was es in mir macht und was es auslöst. In dieser ganz konkreten Bewusstwerdung kann ich die Emotionen dann loslassen. Das kann ich wirklich jedem empfehlen. Es wirkt Wunder.