Gut genug als Therapeut? Umgang mit dem inneren Kritiker
Kennst du das, diese innere Stimme, die dir manchmal sagt, dass du als Therapeut nicht gut genug bist? Hohe Ansprüche, Abwertung und Perfektionismus - diese inneren Kritiker haben oft biographische Hintergründe, machen auf Dauer aber unsicher und unzufrieden. Psychotherapeut und Autor Boris Pigorsch zeigt dir, wie du deine inneren Kritiker erkennen und zu einem wohlwollenden, wertschätzenden Umgang mit dir finden kannst.
„Deine Arbeit ist einfach nicht gut genug.“
„Wenn deine Patienten wüssten, wie ratlos du bist!"
„Du machst dir doch was vor.“
„Deine Kollegin / Dein Kollege hat es voll drauf … im Gegensatz zu dir!“
„Du kennst zu wenig Theorie! Du liest zu wenig!“
„Alle Patienten müssen dich mögen“
„Du musst dich noch mehr fortbilden, noch eine Weiterbildung machen.“
Auch Psychotherapeuten kennen (starke!) innere Kritiker
Wie Ohrfeigen können diese Sätze wirken, die der innere Kritiker vielen psychotherapeutisch tätigen Kollegen „um die Ohren haut“. Beziehungsweise mit denen sie sich im Berufsalltag regelmäßig selbst kritisieren, abwerten und in Frage stellen. Die oben genannten Beispiele sind dabei O-Töne von Psychotherapeuten, die ich in den letzten Jahren in Workshops befragte: „Was sind typische Sätze deines inneren Kritikers?“
Das Ausmaß der Selbstkritik machte mich oft sprachlos und erschreckte mich. Viele der Teilnehmer konnten die eigenen psychotherapeutischen Fertigkeiten kaum oder selten anerkennen. Immer gab es ein „Ja, aber….“, oft ein „….hätte besser sein können.“ Immer wieder wurde in Demonstrationen in den Seminaren deutlich, dass der innere Kritiker sich dabei auch nicht aufs Berufsleben beschränkte. Sondern bei stärkerer Ausprägung eben auch an der eigenen Wertigkeit als Partner, Sohn, Tochter, Vater, Mutter oder anderem herummäkelte. „Du bist keine gute Tochter….!“ Stets mit dem Tenor aus Sicht des inneren Kritikers: „Du bist nur dann gut genug, wenn….“ Nur wenn diffuse oder gerne auch mehr als perfektionistische innere (und zum Teil auch äußere) Ansprüche und Bedingungen erfüllt werden, „….dann……bist du in Ordnung, ok und liebenswert – …..mhh….zumindest annähernd!“
Reaktionen auf den inneren Kritiker
Wie geht es dir beim Lesen der O-Töne und damit einiger der typischen Aussagen innerer Kritiker von psychotherapeutischen Kollegen? Oft entsteht Betroffenheit, Erschrecken, Traurigkeit, manchmal auch Wut – jedoch auch eine innere Übereinstimmung, eine Art sich-wiedererkennen – beim Hören oder Lesen solcher belastenden Grundüberzeugungen.
Das Erleben der Bandbreite emotionaler wie schmerzhafter Reaktionen auf Kritikersätze ist meiner Erfahrung nach wichtig! Denn so kannst du eine Ahnung davon bekommen, was du dir damit antust, wenn du diese überkritische, perfektionistische und beinahe unmenschliche Haltung beibehalten solltest. Manche Kollegen sind dann erstmal baff, wenn sie erleben, dass andere an ihrer statt unter dem Überkritischen leiden – und das nur beim Zuhören.
Den inneren Kritiker verstehen und würdigen lernen
Doch halt! An dieser Stelle könnte ein Kardinalfehler begangen werden: nämlich wiederum den inneren Kritiker zu kritisieren, ihn zu verurteilen, ihn „wegtherapieren“ oder „wegsupervidieren“ zu wollen. Was meinst du, passiert dann? Genau, er wird meist mit aller Macht seine Sicht der Dinge wiederholen und gegenhalten! Warum? Weil er noch nicht in der biografischen Wichtigkeit seiner Funktionen für das Individuum verstanden wurde und noch nicht ausreichend darin gewürdigt wurde, was er für diesen Menschen getan hat. Wenn er (beispielsweise durch gute Leistungen oder aber ein sich-brav-anpassen) dabei half, etwas mehr Liebe und Zuwendung zu erfahren oder Strafe von wichtigen Bezugspersonen zu entgehen, dann war er das Beste, was das Kind oder der Heranwachsende tun konnte. Die beste Kompensation und Bewältigungsstrategie bezogen auf die eigenen Verletzungen, die gerade möglich ist.
So könnte ein Kind beispielsweise aufgrund starker Strenge, Kälte oder auch Vernachlässigung im Elternhaus einen starken inneren Antreiber respektive Kritiker entwickeln, um mit ihm bessere Leistungen in Schule und Zuhause zu erbringen. Bloß die Erwartungen der Eltern treffen und (über-)erfüllen! Um dann von Vater oder Mutter mehr Lächeln, Zuneigung und Wärme zu bekommen oder weniger Ausschimpfen, Schweigen oder andere Strafen zu erfahren. Erkennst du diese oder ähnliche Hintergründe auch bei dir? So versucht das Kind oder der Heranwachsende seine völlig angemessenen und wertzuschätzenden Grundbedürfnisse nach Wärme, Zuwendung und Sicherheit halbwegs zu befriedigen! Und der Erwachsene führt dies (unbewusst) mit den alten oder auch neuen Interaktionspartnern fort.
Die Arbeit mit dem inneren Kritiker als Prozess
Wie geht es dir spontan damit, den eigenen inneren Kritiker in diesem Licht zu betrachten? Erlebst du eine innere Übereinstimmung, eine Ablehnung oder ein Gefühl? Ganz gleich, was es auch sein mag, jede Reaktion ist wichtig und kann ein wertvoller Hinweis über dein Verhältnis mit deinem inneren Kritiker sein. Auch wenn du Ablehnung, Gleichgültigkeit oder Verwirrung beim Lesen empfinden solltest, ist das in Ordnung. Aus persönlicher Erfahrung und der aus vielen Therapien, Supervisionen und Workshops kann ich teilen, dass das Kennenlernen und die Auseinandersetzung mit der selbstkritischen Seite unserer Selbst ein längerer Prozess ist. Der sich meines Erachtens jedoch sehr lohnt. Wie wäre es für dich, wenn du wohlwollender mit dir umgehen würdest? Sei es im beruflichen Alltag oder im Privatleben? Wie würde es sich anfühlen, wenn du dich ein wenig bedingungsloser annehmen würdest? Es mag sein, dass dies – Profession hin oder her, wir sind schließlich auch nur Menschen – zum jetzigen Zeitpunkt noch kaum möglich erscheint. Und doch gibt es diesen Vorgeschmack, dass es sehr entlastend, erleichternd, befreiend und beruhigend sein wird, fairer und wertschätzender mit dir umzugehen.
Auf dem Weg zu mehr Wohlwollen
Was könnten also die wichtigsten 5 Schritte und Strategien im Umgang mit dem eigenen inneren Kritiker sein?
- Werde dir deines eigenen inneren Kritikers und seiner Aussagen bewusst (das braucht auch Mut!)
- Trete mit diesem eigenen inneren Anteil in einen Dialog – innerlich oder (oft hilfreich) mit Hilfe einer Intervisionsgruppe, einer Supervision oder auch in der eigenen Therapie
- Beginne, ihn als kindlichen, heute noch aktiven Lösungsversuch wahrzunehmen beziehungsweise diese „Sinnhaftigkeit“ zu verstehen (cave: in sehr krassen Fällen sollte man nicht zwanghaft nach einem solchen Sinn suchen!) und ihn damit zu würdigen
- Möglicherweise kannst du ihm irgendwann danken (ein herausfordernder Schritt) und ihm eine neue Aufgabe zuweisen, so dass er dir konstruktiv dienen kann
- Lerne deinen eigenen liebevollen Begleiter für dich selbst kennen, einen selbstfürsorglichen inneren Anteil, der sich aus Erfahrungen mit liebevollen Bezugspersonen speist(e). Lerne mit Hilfe dieser Erlebnisse in kleinen Schritten, wohlwollender, wertschätzender auch mit dir selbst umzugehen. Konkret könntest du mehr Pausen einlegen, deinen Körper gut pflegen, Zeit in Freundschaften investieren, die in dir Freude auslösen…anstatt dich weiter im Hamsterrad von Selbstkritik, Arbeit, Ehrgeiz oder Anpassung an andere zu bewegen.
Ich wünsche dir und euch auf diesem Weg viele erkenntnisreiche Momente, Geduld und die nötige Unterstützung. Denn ich denke, dass jeder Mensch mit innerem Kritiker liebevolle Güte, Mitgefühl und Verständnis braucht und verdient.