Setze dir zuerst selbst die Sauerstoffmaske auf: Wie tägliche Selbstfürsorge gelingt

Eine Frau hält sich eine Sauerstoffmaske vors Gesicht.

Wir wissen, was Selbstfürsorge ist – doch handeln wir danach? Sie im Alltag bewusst umzusetzen, kommt erfahrungsgemäß oft zu kurz, weil wir uns nicht die Zeit nehmen, sie im Terminstress hintenanstellen oder die Entspannung selbst zur Pflicht wird. Mit 6 konkreten Übungen nimmst du deine Selbstfürsorge wieder in den Blick und schaffst es, dir selbst zugewandt und wohlwollend zu begegnen.

Als Reisende im Flugzeug leuchtet es uns sofort ein: im Notfall zunächst sich selbst die Sauerstoffmaske aufzusetzen, um dann in der Lage zu sein, anderen Personen zu helfen. In der Psychotherapie, in der Medizin, in helfenden Berufen kommt die Selbstfürsorge in der Weiterbildung und auch im Alltag meistens zu kurz. Oft bilde ich als Dozentin in Ausbildungszusammenhängen mit dem Thema Selbstfürsorge den krönenden Abschluss. Manchmal wird das Thema gar belächelt oder ganz vergessen.

Als ich inmitten der Coronapandemie an meinem Buch über Selbstfürsorge in helfenden Berufen schrieb, fragte ich viele Psycholog:innen und Menschen in anderen helfenden Arbeitsfeldern: „Was ist Selbstfürsorge denn eigentlich für euch?“ Die Antworten können wir in Fachbüchern abdrucken, also das Wissen ist da:

  1. Sich selbst wahrnehmen
  2. Die eigenen Bedürfnisse erkennen und ernst nehmen
  3. Wissen, was mir gut tut
  4. Grenzen setzen können
  5. Freundlich mit mir sein
  6. Aktivitäten, die mir guttun

Entscheidend ist allerdings, nicht nur zu wissen, was Selbstfürsorge ist oder sein könnte, sondern sie im Alltag bewusst umzusetzen.

 

1. Selbstfürsorge täglich in den Blick nehmen

Damit die eigene Selbstfürsorge nicht nur eine Idee bleibt, braucht sie Aufmerksamkeit. Ein tägliches, kurzes Innehalten und Aufschreiben hilft dabei, die Selbstfürsorge ganz konkret in den Blick zu nehmen. Viele meiner Klient:innen und auch ich selbst haben mit folgenden Fragen die Selbstfürsorge fest im Alltag verankern können:

Morgens:

  • Worauf freue ich mich?
  • Was kann herausfordernd werden?
  • Wie und wann sorge ich gut für mich?

Abends:

  • Wie bin ich mit den Herausforderungen umgegangen?
  • Wie habe ich für mich gesorgt?
  • Wofür bin ich dankbar?

Diese Fragen (siehe auch Handout in Juchmann, 2022) über einige Wochen kurz schriftlich zu beantworten, etabliert die Selbstfürsorge fest im Alltag. Eine Teilnehmerin meiner Kurse fasste es so zusammen: „Wenn ich morgens meine Selbstfürsorge plane, dann denke ich auch tagsüber daran. Sie wird einfach ein wichtiger Teil des Tages.“

Blick von oben auf einen Schreibtisch mit Kaffee, Crossaints und Notizbuch, in das eine Person etwas schreibt.

2. Der innere Chor der Selbstfürsorge

Für die gelingende Selbstfürsorge braucht es eine gute Zusammenarbeit verschiedener Seiten der eigenen Persönlichkeit. Das Modell der inneren Vielstimmigkeit hat sich sowohl in der Schematherapie als auch in der systemischen Therapie längst etabliert. Viel zu selten wird das Modell auf das Thema Selbstfürsorge angewandt. Dabei ist es so sinnvoll, herauszufinden, wer im Inneren Pausen und Zeiten der Selbstfürsorge ablehnt und wer sich für Ausruhen oder Bewegung stark macht. Die inneren Stimmen sind wie Persönlichkeitsanteile zu verstehen, die für verschiedene Bedürfnisse der Person eintreten.

Durch Reflexion und Meditation lässt sich eine bewusste innere Mitte, eine Dirigentin etablieren, die die inneren Stimmen kennt, fördert, begrenzt und zu einem guten Zusammenspiel führt. Sie kann die inneren Antreiber und Kritikerinnen wertschätzen, aber auch, wenn nötig, begrenzen. Kraftvoll ist es, wenn die handlungsstarken Teile mit den wohlwollenden inneren Teilen, der inneren Genießerin, der Ruhebedürftigen, aber auch der inneren Gesundheitsbeauftragten zusammenarbeiten. So mündet Selbstfürsorge nicht in ein passives Verhalten, sondern kann auch Spaziergänge, Sport und Hobbies beinhalten. Die innere Dirigentin sorgt dabei für ein wertschätzendes inneres Klima, damit die Selbstfürsorge nicht wieder zu einer Pflicht wird oder mit einem hohen Leistungsanspruch einhergeht.

 

Der Tipp für die Praxis lautet:

Nimm dir ein Blatt Papier und schreibe innere Stimmen auf, die Botschaften zu deiner Selbstfürsorge enthalten. Ordne sie und bringe sie in ein konstruktives Zusammenspiel. Welche Seiten müssen im Sinne der Selbstfürsorge mehr begrenzt werden, welche Stimmen brauchen mehr Gehör und Ermutigung (Juchmann, 2022, 2023)?

 

3. Innehalten und sich wahrnehmen

Meditation ist eine wunderbare Hilfe, um in die eigene Mitte zu kommen und wahrzunehmen, wie es uns gerade geht. Dabei hilft die folgende Übung des bewussten Innehaltens:

  1. Nimm eine andere Körperhaltung ein, um aus dem Tun-Modus auszusteigen. Werde dir deiner Gedanken, deiner Gefühle und deiner Körperempfindungen bewusst. Alles darf so sein, wie es auftaucht.
  2. Dann fokussiere dich beim Atmen im Körper. Bewusst spürst du das Einatmen und das Ausatmen. Der Atem darf genau so sein, wie er kommt und geht.
  3. Lass deine Aufmerksamkeit weit werden wie der Horizont am Meer. In dieser inneren Geräumigkeit kann alles Platz finden, was da ist. Mit einer inneren Haltung von Akzeptanz kannst du erkennen: so ist es gerade in diesem Moment.

Das bewusste Innehalten ermöglicht es, sich wahrzunehmen. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, ihnen Raum zu geben und auch nach ihnen zu handeln.

Eine Frau sitzt auf einer Decke am Strand und blickt aufs Meer.

4. Sich selbst beruhigen und trösten

Der Forscher Martin Grunwald hat in seinem Haptik-Labor an der Universität Leipzig in zahlreichen Studien festgestellt, wie fundamental wichtig der Tastsinn für den Menschen ist. So konnte er beispielsweise zeigen, dass ein Fötus sich durch Selbstberührungen im Gesicht selbst beruhigt. Diese Berührungen nehmen zu, wenn der Stresslevel der Mutter steigt. Die tröstende, beruhigende Wirkung der Selbstberührung können wir auch als Erwachsene zur Selbstfürsorge nutzen. Viele Menschen in meinen Kursen empfinden es als entspannend und wohltuend, eine Hand auf den Bauch und eine Hand auf den Herzbereich zu legen und einfach nur den Atem zu spüren. Das braucht nur wenig Zeit und tut doch gut. Außerdem kultivieren wir dadurch eine freundliche wohlwollende Haltung zu uns selbst.

 

5. Freundlich mit uns selbst und anderen sein – die Metta-Meditation

Als Menschen in helfenden Berufen haben wir gelernt, zu anderen Personen freundlich zu sein. Für unsere Selbstfürsorge ist es wichtig, auch zu uns selbst wohlwollend sein zu können. Beide Fähigkeiten - die Freundlichkeit zu sich selbst und zu anderen - lehrt die im Buddhismus verankerte Metta-Meditation. Das Wort Metta stammt aus der altindischen Sprache Pali und lässt sich übersetzen mit Freundschaft, liebender Güte, Sanftheit. Die Metta-Meditation beginnt klugerweise mit der freundlichen Zuwendung zur eigenen Person. Daraus entsteht dann eine liebvolle Grundhaltung allen Wesen gegenüber.

Die bereits vorgestellte Selbstberührung der Hände mit dem Herzbereich kann ein Zugang zu Metta sein. Auch die Erinnerung an eine Situation, in der du wohlwollend mit dir warst, kann den Zugang zu den Metta-Qualitäten von gelassener, kraftvoller Freundlichkeit gewähren. Durch das stille, lautlose Wiederholen der Metta-Sätze in der Meditation beruhigen wir den Geist und öffnen unser Herz für uns und andere: „Möge ich glücklich sein. Möge ich mich sicher und geborgen fühlen. Möge ich gesund sein. Möge ich frei und mit Leichtigkeit leben.“

Viele Studien zeigen, dass diese Meditation bei sozialem Stress hilft, positivere Emotionen einlädt und eine gute Medizin gegen Selbstkritik ist. Also eine sehr wertvolle Übung für eine gelingende Selbstfürsorge. Deshalb ist sie auch bei so vielen meiner Kurs- und Seminarteilnehmer:innen sehr beliebt.

Eine Frau liegt auf einer Decke im Wald und hat die rechte Hand auf den Bauch und die linke aufs Brustbein gelegt.

6. Schütteln belebt und entspannt Körper und Geist

Und zum Schluss meines Beitrags möchte ich noch auf das Schütteln hinweisen. Den Körper im Liegen oder im Stehen auszuschütteln, braucht kaum Zeit, keine Hilfsmittel und ist sehr wirkungsvoll. Am besten probierst du es gleich aus. Du stehst auf, verwurzelst deine Füße gut am Boden und beginnst mit durchlässigen Knien, deinen Körper zu schütteln. Du kannst sanft oder stärker schütteln, so wie es dir jetzt guttut. Und vielleicht möchtest du jetzt auch etwas abschütteln, was dich belastet oder einengt, dann schüttle es einfach weit in den Raum hinein ab. Danach wirst du dich wahrscheinlich entspannter und wacher fühlen.

 

Zum Weiterlesen [Werbung]:

Martin Grunwald (2017). Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München: Droemer.

Ulrike Juchmann (2020). Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie bei Depressionen und Ängsten. MBCT in der Praxis. Weinheim: Beltz.

Ulrike Juchmann (2022). Selbstfürsorge in helfenden Berufen. Wie Achtsamkeit im Arbeitsalltag gelingt. Stuttgart: Kohlhammer.

Ulrike Juchmann. In Balance – 25 Übungskarten für Achtsamkeit, Kraft und Gelassenheit.