Körper, Stimme, Lebendigkeit – und was der Vagusnerv damit zu tun hat
Kennst du Zeiten, in denen die To-do-Liste so lang ist, dass du eigentlich nur noch im Funktionsmodus steckst? Die Arbeit mit Körper und Stimme kann einen Weg bieten, dich auch in solchen Phasen wieder mit dir und deiner Lebendigkeit zu verbinden. Welche Rolle der Vagusnerv dabei spielt und einige konkrete Übungen schildert dir die Musiktherapeutin Hannah Breithaupt.
Ich nenne meine Arbeit Körper-Stimm-Lebendigkeit, weil mich interessiert, wie wir mit der Kraft der Stimme und des körperlichen Spürens in unsere eigene Lebendigkeit und Authentizität, in klaren Ausdruck und in ein Gespür für uns und unsere Bedürfnisse kommen.
All diese Dinge können uns immer wieder verloren gehen, z. B. wenn wir gestresst sind und von unserer To-do-Liste „gejagt werden“, Angst vor bestimmten Situationen haben oder alte Emotionen getriggert werden. Das ist an sich kein Problem, denn Herausforderungen und Probleme gehören zum Leben dazu. Oft jedoch wachsen wir nicht an den Problemen, sondern sie überfordern uns, wir fühlen uns hilflos und haben keine Kompetenz, die schwierigen Dinge wirklich zu integrieren. Dazu kommt, dass wir uns heutzutage vor Herausforderungen gestellt sehen, die es früher nicht gab (Reizüberflutungen verschiedenster Art, eine rasante technische Entwicklung, Stress, globale Krisen und Entwicklungen usw.).
Es erscheint mir darum sehr wichtig, sinnvolle Methoden und Werkzeuge an der Hand zu haben, um das eigene Nervensystem nach stressigen Situationen und Erfahrungen immer wieder in einen ausgeglichenen und entspannten Zustand regulieren zu können. Diese können sowohl für die eigene Selbstfürsorge als auch für die Arbeit mit deinen Klient:innen nützlich sein – und neben der Selbstregulation auch wieder zu mehr Lebendigkeit führen.
Im Folgenden möchte ich dir einige dieser Tools vorstellen, und wie ich mit ihnen arbeite.
Tools auf der Körperebene
Es wird viel davon gesprochen, dass wir uns in stressigen Phasen beruhigen, hinsetzen oder hinlegen und ruhig atmen sollen. Weniger bekannt ist, dass der Körper auf Stress jedoch instinktiv mit Bewegung reagieren will, sobald das Nervensystem den Modus von „Flucht oder Kampf“ („fight or flight“) mobilisiert hat. Diese Bewegungsimpulse werden in der Regel nicht ausgelebt, sondern unterdrückt (schließlich haben wir schon als Kinder gelernt, nicht „herumzuzappeln“) – und bald nicht mehr als solche erkannt.
Stattdessen gehen wir „in den Kopf“, der Körper verspannt sich und wird starr. Unser Nervensystem kann dadurch nicht wirklich herunterfahren und bleibt in Anspannung. Die Folge sind u. a. Nervosität, Gereiztheit, Ein- und Durchschlafstörungen. Auch das Gefühl von Lebendigkeit geht durch diese Anspannung verloren.
Stress und Anspannung durch Schütteln abbauen
Eine Möglichkeit, Anspannung und Stress zu verarbeiten, bietet die Methode des Schüttelns, die ich explizit zu Beginn meiner Onlinekurse anleite. Das Schütteln geht dabei von den Kniegelenken aus, danach schütteln sich die Handgelenke und abschließend geht der ganze Körper in ein Schütteln oder Vibrieren über. Stress wird abgebaut, meine Teilnehmerinnen kommen wieder vom „Kopf in den Körper“, Taubheiten im Körper werden lebendig und es entsteht eine körperliche Präsenz. Dabei hilft Schütteln nicht nur, aktuellen Stress zu verarbeiten, sondern auch aus früheren Tagen Gespeichertes loszulassen.
Der Traumaforscher und Begründer der Methode „Somatic Experiencing“, Dr. Peter Levine, beschreibt die wichtige Funktion des „neurogenen Zitterns“, das sich auch bei Säugetieren beobachten lässt. Durch dieses unwillkürliche Zittern wird Stress verarbeitet und losgelassen. In der somatischen Arbeit mit Menschen, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, stellt sich ebenfalls dieses Zittern ein und unterstützt die Betroffenen, die Belastungen zu verarbeiten und loszulassen (Levine, 2011). Doch auch unabhängig von Trauma ist das Zittern hilfreich, denn so gut wie jede:r trägt in unserem heutigen Alltag Stress mit sich herum.
Schütteln ist in gewisser Weise eine Simulation des neurogenen Zitterns, das bewusst aktiviert wird, um den Körper im Stressabbau zu unterstützen. Gleichzeitig ist es auch eine gesunde Aktivierung, löst Starre und Taubheiten auf, Menschen fühlen sich wieder mehr „im Fluss“.
Zum Ausprobieren: Leg dir deine Lieblingsmusik auf, beginne von den Kniegelenken aus mit dem Körper zu wippen, schüttele deine Handgelenke und komme dann in ein stärker werdendes ganzkörperliches Schütteln. Tue das mindestens 5 Minuten und spüre danach, wie es dir geht! Wie fühlst du dich? Ist dir z. B. wärmer? Fühlst du dich wacher? Oder entspannter?
Zur Bedeutung der Stimme
Eine der vielen Erklärungen, warum Singen und Tönen so gesund ist, ist neben der Ausschüttung verschiedenster Botenstoffe (u. a. Oxytocin, Serotonin und Noradrenalin) die Aktivierung des Vagusnervs und des parasympathischen Nervengeflechts. Der Vagusnerv ist der Nerv im Körper, der vom Stammhirn ausgehend alle Organe innerviert und wesentlich ist für unsere Regulationsfähigkeit, also unsere Balance zwischen An- und Entspannung (Porges, 2019).
Dieser wichtige Nerv zieht auch durch den Kehlkopf. Das parasympathische Nervensystem, ebenfalls wichtig für Zustände von Tiefenentspannung, zieht wiederum durch die Ohren. Kehlkopf und Ohren werden beim Singen und der eigenen Hörerfahrung auf natürliche Weise aktiviert.
In meinen Onlinekursen führe ich darum nach dem Schütteln in die Stimmarbeit, die häufig im Liegen stattfindet, so dass das körpereigene Tönen („toning“) in eine tiefe Entspannung führen kann, die gleichzeitig aktiv und sehr präsent ist. Wir erforschen verschiedene Resonanzräume im Körper (wie Kopf, Hals, Brustkorb, Bauch oder Becken). Diese verschiedenen Bereiche zu tönen, verstärkt das Gefühl des Zuhause-Seins im Körper und fördert das Erleben verschiedener Klangfarben, die durch das körperliche Singen entstehen.
Durch die Erweiterung des Stimmumfangs und der stimmlichen Klangfarben können zudem unterdrückte Persönlichkeitsanteile lebendig werden. Manchmal fühlen sich Menschen positiv in ihre Kindheit zurückversetzt, in frühere Anteile, die ihnen über die Zeit verlorengegangen sind. Das Experimentieren mit den körpereigenen Klängen fördert eine eigene Verspieltheit und Kreativität zutage, die uns manchmal abhandenkommen kann und die ich als wesentliche Komponente für ein reichhaltiges, lebendiges Leben empfinde.
Ich fordere häufig auf, die Stimme in dem Sinne zu befreien, als dass wir uns von gängigen ästhetischen Normen verabschieden, wie eine „schöne Stimme“ klingt. Das bedeutet, dass Teilnehmerinnen auch raue, geräuschhafte, schräge, quietschende usw. Töne machen dürfen. Diese Praxis wird als befreiend erlebt, weil damit auch Persönlichkeitsaspekte ausgedrückt werden können, die eben nicht angepasst sind, oder auch sogenannte Schattenanteile, die zu den Facetten eines jeden Menschen gehören und im stimmlichen Ausdruck integriert werden können.
Zum Ausprobieren: Leg dich nach dem Schütteln auf den Boden, hab es warm, vielleicht mit einer Decke zugedeckt. Spüre deinen Atem, der durch das Schütteln vertieft sein sollte. Wo im Körper kannst du den Atem spüren? Dann beginne einen entspannten Summton, also ein „mmmmh“ zu tönen, auf der Tonhöhe deiner Wahl. Wo spürst du diesen Ton im Körper? Im Hals sicherlich... vielleicht auch im Brustkorb? Im Bauch? Wo fühlt es sich besonders angenehm an, die Vibration des Tönens zu spüren? Kannst du den Ton von dort aus ausbreiten...?
Abschließend bleibst du noch einige Minuten liegen und atmest tief, um das Schütteln und Tönen zu integrieren.
Fazit
Was mich an der Arbeit mit Körper und Stimme fasziniert und begeistert ist Folgendes: Wir sind in unserem Erleben scheinbar oft vom Außen abhängig. Ein direkter Zugang zur eigenen Lebendigkeit über Körper und Stimme ermöglicht stattdessen, dass wir uns unabhängig von äußeren Umständen auftanken und erfüllter fühlen – und auf diese Weise auch unseren Klient:innen mehr zu geben haben.
Zum Weiterlesen
[Werbung] Porges, S. W. (2019). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Lichtenau: Probst, G.P. Verlag.
[Werbung] Levine, P. A. (2011). Sprache ohne Worte. München: Kösel Verlag.