Männer trauern als Männer: Trauerbegleitung individuell und offen gestalten

Ein weißhaariger, älterer Mann sitzt am Tisch, blickt traurig auf ein Foto und streicht mit der linken Hand darüber.

Männliche Trauer wird häufig mit Aktionismus, emotionaler Härte und Verdrängung assoziiert. Aber trauern Männer wirklich anders als Frauen? Warum stereotype Zuschreibungen trauernden Menschen schaden und Trauer einen individuellen Ausdruck benötigt, erklärt uns Sozialarbeiter und Theologe Norbert Mucksch, der seit vielen Jahren trauernde Menschen in Gruppen und auch einzeln begleitet.

Herr Mucksch, Sie und Ihr Mitautor Traugott Roser haben ein Buch geschrieben mit dem Namen „Männer trauern als Männer“. Trauern Männer anders?

Wir haben sehr bewusst den Titel „Männer trauern als Männer“ gewählt. Natürlich ist es so, dass wir als Männer, wenn ich von meinem sozialen Geschlecht spreche, mit dem trauern, wie wir geworden sind, also mit unserer spezifischen Sozialisation. Aber zu sagen, dass Männer per se anders trauern als Frauen, dem widersprechen wir deutlich. Ich selbst begleite Gruppen von trauernden Menschen, z. B. von Eltern, deren Kinder im Verlauf einer onkologischen Behandlung verstorben sind, und Trauernden nach Suizid. Anhand konkreter Fallbeschreibungen von authentisch betroffenen Männern können wir in dem Buch zeigen, wie vielfältig und wie hochindividuell die Trauer von Männern bzw. von Menschen generell ist.

 

Es gibt nicht die eine Art zu trauern, egal ob Mann oder Frau.

Das ist unsere Grundannahme. Im Zusammenhang mit dem Buch haben wir auch ein Interview geführt mit dem US-amerikanischen Gerontologen, Psychologen und Trauerforscher Kenneth Doka. Er hat unser Denken sehr angeregt, als er sagte, er unterscheide nicht zwischen männlicher und weiblicher Trauer, sondern zwischen intuitiver und instrumenteller Trauer.

 

Wo ist da der Unterschied?

Die intuitive Trauer ist das, was wir in unserem Kulturraum tendenziell eher mit der Trauer von Frauen assoziieren: Spontan, aus der Emotion heraus zu reagieren, möglicherweise viel zu sprechen, auch Emotionen und Tränen freien Lauf zu lassen, sich anderen Menschen zu offenbaren.

Die instrumentelle Trauer bedeutet eher, ins Handeln und Tun zu gehen oder auch in die Kognition. Kenneth Doka sagt, es gibt Frauen, die intuitiv trauern und es gibt Frauen, die instrumentell trauern. Und es gibt Männer, die entweder in die eine oder andere Richtung ihre Trauer ausdrücken. Und sicher gibt es auch Menschen, für die beide Ebenen bedeutsam sind. Diese Unterschiedlichkeit, diese Individualität nimmt man komplett weg vom sozialen Geschlecht.

Das ist ein ganz entscheidender Denkansatz, um deutlich zu machen, dass es eben sehr individuell ist. Die Festlegung auf ein bestimmtes Geschlecht („Männer trauern so, Frauen trauern so“) ist unter Umständen für Betroffene ein echtes Problem, weil ihnen eine Rolle oder eine Art der Verarbeitung zugewiesen wird, die ihnen möglicherweise überhaupt nicht entspricht. Dies gilt umso mehr, als wir in einer Zeit leben, in der geschlechtliche Identitäten vielfältiger werden.

Porträtaufnahme von Norbert Muksch.

Welchen Stereotypen begegnen Männer, die trauern?

Es gibt dieses Bild: Männer, die trauern, sprechen nicht, sondern gehen in den Wald und hacken Holz. Oder: die „gestaltete Mitte“ einer Männer-Trauergruppe ist nicht irgendwie etwas Symbolisches, sondern da muss eine Kiste Bier stehen. Das ist natürlich überspitzt und platt gesagt. Solche Zuschreibungen sind jedoch überhaupt nicht hilfreich, weil es Menschen in ihrem emotionalen Spektrum so deutlich einschränkt, dass sie im schlimmsten Fall daran Schaden nehmen können.

 

Was sind die Probleme, die daraus entstehen?

Trauer braucht Ausdruck, Erlaubnis, Struktur und Zeugenschaft. Zeugenschaft bedeutet, es braucht Menschen, die bestätigen, dass das, was ein individueller Mensch individuell erlebt hat, eine riesengroße Katastrophe ist. Der Ausdruck ist ganz wichtig in der Trauer und kann sich eben über ganz unterschiedliche Weisen zeigen. Das, was man tendenziell sofort annimmt, sind Tränen, Emotionen, viel sprechen. Es gibt Männer, zu denen ich mich persönlich auch zählen würde, denen das ganz wichtig ist. Es gibt aber auch Frauen, die eher in einer instrumentellen Weise trauern, die insofern eher trocken und zurückgenommen sind und die vielleicht auch in der Begegnung mit ihrem sozialen Geschlecht, also mit anderen Frauen, irritieren, weil die Erwartung eine andere ist. Dabei geht der Blick auf die Individualität eines Menschen verloren.

Trauer ist ja auch kulturell abhängig. Wir reden hier erst mal von unserer westeuropäischen Kultur. Es gibt in anderen Kulturen ganz andere Formen, mit Tod und Trauer umzugehen. Das ist ein Beleg dafür, dass Trauer nicht männlich oder weiblich ist, sondern sie ist vor allem geprägt durch Kultur, durch Sozialisation und durch familiäre Erziehung.

 

Wie sieht genderbewusste Trauerbegleitung aus?

In erster Linie geht es darum, erst mal wahrzunehmen, dass mein Gegenüber ein trauernder Mensch ist. Natürlich muss ich ein Bewusstsein dafür haben, dass dieser Mensch mit seinem tatsächlichen Geschlecht (sex), aber eben auch mit seinem sozialen Geschlecht und seinem „Gewordensein“ vor mir steht. An dieser Stelle fangen die Differenzierung und die Notwendigkeit für einen weiten Blick ja schon an. Dass ich eben nicht sage: „Aha, das ist jetzt ein Mann, da muss ich anders agieren“, sondern dass ich dem Menschen mit der Offenheit in der Trauerbegleitung begegne, die er verdient. Nicht gleich in Kategorien denken, sondern offenbleiben. Menschen sind vielfältig, dies zeigt sich auch in jeder Trauergruppe. Die Begegnung von sehr unterschiedlich trauernden Menschen in Trauergruppen ist für alle außerordentlich hilfreich, denn so entstehen Kontakte und Solidarisierung über die Erfahrung eines gemeinsamen Schicksals. Insofern bin ich auch ein großer Verfechter von Trauerbegleitung im Gruppenkontext.

 

Sie sprachen eben auch von Zeugenschaft. Die ist im Gruppenkontext wahrscheinlich schnell vorhanden.

Genau! Die jeweils anderen können sehr authentisch bezeugen, was es bedeutet, einen Menschen durch Suizid oder ein Kind zu verlieren, ohne mit Stereotypen oder Floskeln darauf zu reagieren. Die Menschen haben einen anderen Zugang zueinander.

Ein Mann sitzt zusammengesunken auf einer Couch, eine Person sitzt neben ihm und hat die Hand auf seine Schulter gelegt.

Wie arbeiten Sie in der Gruppe und wie sieht die Begleitung konkret aus?

Ich denke da als Beispiel an die Elterngruppe. Die begleite ich gemeinsam mit einer Kollegin. Das finde ich ganz wichtig, auch an der Stelle eine unterschiedliche Besetzung zu haben, was das soziale Geschlecht angeht. Dass Männer in der Gruppenbegleitung z. B. eine männliche Identifikationsfigur erleben können und Frauen eine entsprechend weibliche; vielleicht mit der Überraschung, dass da ein Mann in der Gruppenbegleitung sitzt, der ganz anders damit umgeht, als es ein Mann, der teilnimmt, erstmal erwarten würde.

Wir versuchen im Wesentlichen, diese Menschen ganz intensiv ins Gespräch zu bringen und dies professionell zu begleiten. Wir setzen Themen, die tendenziell die Emotionalität ansprechen. Ein Beispiel – das setzen wir aber eher gegen Ende eines Gruppenprozesses ein -, dass wir die Eltern bitten, Fotos ihrer verstorbenen Kinder mitzubringen, ihre Gesichter so mit in die Gruppe hineinzunehmen und zu sagen, was sie für sie bedeutet haben. In diesen emotionalen Kontakt auch hineinzugehen. Die wechselseitige Wertschätzung, die dann entsteht, weil das ja für alle gilt, die bringt oft eine unglaublich hohe Dichte in diese Gruppe hinein. Das geht natürlich nur, indem man sich vorher ein Mandat geben lässt von allen Gruppenmitgliedern, dass sie damit einverstanden sind. Wir machen keine Vorgaben, sondern wir fragen nach: „Ist das in Ordnung? Wir würden uns freuen, wenn es Ihnen möglich wäre.“

 

Welche anderen Wirkfaktoren bringt eine Gruppe mit sich, neben Zeugenschaft und Wertschätzung? Sie haben eben die Struktur erwähnt…

Der Aspekt Struktur ist nicht geringzuschätzen. Alleine das Angebot einer Gruppe gibt einen Zeitrahmen. Die Teilnehmenden wissen, sie haben 6-10 Termine (je nachdem, wie die Gruppe aufgebaut ist), an denen sie sich dort mit anderen gleichbetroffenen Menschen treffen, auch mit einer gewissen Verbindlichkeit, die wir schon erwarten. Allein das gibt eine ganz große Strukturhilfe, weil es feste Orte dafür gibt.

Manchmal haben wir Menschen in der Gruppe, die eher einen ganz vollen Terminkalender haben. Ich habe auch schon mal jemanden gehört, der sagte: „Wenn ich mir keine Termine in den Kalender eintrage für meine Trauer, dann geht das einfach unter. Es tut mir gut, einfach bewusst zu haben, hier gibt es eine Struktur und einen Termin. Da kann von mir aus eine Vorstandssitzung sein, das ist egal, dieser Termin zählt“. Einfach zu wissen, es gibt Haltepunkte. Alle 4-6 Wochen bei so einer Elterngruppe können sie andocken an dieses Gruppensystem und finden nicht nur durch die Anbieter:innen dieser Gruppe eine Struktur, sondern auch bei den anderen Teilnehmenden.

Blumen sind auf einem Grabstein abgelegt, auf dem "In Loving Memory" geschrieben steht.

Was würden Sie trauernden Männern gerne mit auf den Weg geben?

Ich kann da einen betroffenen Mann sinngemäß zitieren, der gegen Ende eines Interviews dazu sagte: Zieht euch nicht zurück. Sucht euch aktiv Unterstützung, wo auch immer. Es gibt bundesweit immer mehr Gruppenangebote. Geht in Kontakt und sucht euch die Kontakte, die euch guttun. Nutzt nicht nur die vermeintlich typisch männlichen Wege, wie die Laufschuhe anzuziehen und eine Langstrecke zu laufen, sondern geht in den Kontakt und drückt euch aus. Habt ein Zutrauen auch zu eurer Fähigkeit und eurer Ressource, Trauer zu empfinden und zu leben.

Wir erleben Freude als Fähigkeit, aber auch Trauer ist eine Fähigkeit. Es gibt ein schönes Sprichwort, dass Tränen das Grundwasser der Seele sind. Vielleicht kennen Sie auch die Redewendung, dass jemand nah am Wasser gebaut ist. Ich hatte mal jemanden in einem Kurs, die sagte: „Ich bin nicht nur nah am Wasser gebaut, ich wohne sogar auf einem Hausboot.“ Das ist großartig, wenn jemand das selbst in eine so leichte akzeptierende Form bringt. Ich habe dann den Satz dazu gelegt: „Nah am Wasser ist fruchtbares Gelände“. Da wo es total trocken ist, da kann auch nichts entstehen. Wir haben ja nicht ohne Grund diese Fähigkeit, Tränen zu weinen.

 

Das erlaubt einen ganz anderen Blick auf Trauer und Weinen! Ich habe oft das Gefühl, dass es Menschen unangenehm ist, diese Gefühle zu zeigen.

Und mitunter ist es in unserer Gesellschaft tatsächlich auch noch mal schwieriger für Männer, damit umzugehen.

 

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was sollte sich in Bezug auf Tod und Trauer auch gesellschaftlich verändern?

Zum einen, dass Sterben und Tod einen Platz im Alltag im Leben bekommt. Und dass es insgesamt eine größere Akzeptanz für gelebte Trauer gibt. Dass man das ernster nimmt und es dafür auch einen Raum gibt. Dass die Initiativen, die entstanden sind, um Trauerbegleitung in den Fokus zu nehmen und Menschen in solchen Situationen gut zu begleiten, auch durch die Politik finanziell mehr unterstützt und Trauerbegleiter qualifiziert werden. Dabei denke ich gar nicht an hochprofessionelle Hilfe, denn Trauer ist keine Krankheit, sondern ein ganz normales Erleben in Verlustsituationen. Trauer ist eine menschliche Fähigkeit! Natürlich gibt es trauernde Menschen, die eine so dramatische, möglicherweise auch traumatisierende Erfahrung gemacht haben, dass sie im Einzelfall therapeutische Unterstützung benötigen. Es ist aber nach meiner festen Überzeugung nie die Trauer selbst, die krank macht, sondern es sind die spezifischen Umstände eines konkreten Todesfalls, die im Einzelfall krank machen können. Die allermeisten trauernden Menschen brauchen im Wesentlichen Begleitung und dies im allerbesten Fall durch tragfähige soziale Kontakte in der Familie oder im Freundeskreis.

 

Vielen Dank für das Interview, Herr Mucksch!

 

Über Norbert Mucksch:

Norbert Mucksch ist Diplom-Theologe und Diplom-Sozialarbeiter. Er arbeitet an einer Heimvolkshochschule im Münsterland und leitet dort den Fachbereich Sterbe- und Trauerbegleitung, wo Ehrenamtliche, Neben- und Hauptamtliche in dem gesamten Feld von Hospizarbeit, Palliativ Care, Trauer- und Sterbebegleitung fortgebildet werden. Sein eigener Schwerpunkt ist die Trauerbegleitung. Norbert Mucksch ist seit mehr als 10 Jahren im Bundesverband Trauerbegleitung engagiert.

https://bv-trauerbegleitung.de/mitglied/norbert-mucksch/

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Mucksch, Norbert & Roser, Traugott (2023). Männer trauern als Männer: Praxisbuch für eine genderbewusste Trauerbegleitung. Göttingen: V&R.