Warum Männer eine gendersensible Beratung brauchen

Silhouette eines Mannes vor einem Sonnenuntergang

„Männer kennen keinen Schmerz!“ – überholte Rollenbilder machen es Betroffenen oftmals schwer, sich Hilfe zu holen, wenn sie welche benötigen. Beim Hilfetelefon Gewalt gegen Männer können sie sich anonym beraten lassen – und machen manchmal zum ersten Mal die Erfahrungen, mit ihrem Anliegen ernstgenommen zu werden. Berater und Leiter des Projekts in Bielefeld, Andreas Haase, erzählt im psylife-Interview von seiner Arbeit.

Herr Haase, wer kann sich beim Hilfetelefon melden? 

Jeder Mann, der jegliche Form von Gewalt erfahren und erlebt hat. Am häufigsten rufen Männer an, die psychische oder körperliche Gewalt im häuslichen Umfeld durch ihre Partnerin erfahren. Wir erleben als weitere Formen von Gewalt aber auch sexuellen Missbrauch und Mobbing. Auch Angehörige, Freunde und Bekannte von Betroffenen können sich bei uns melden. 

Foto von Andreas Haase

Warum wird über Gewalt an Männern immer noch so wenig gesprochen?

Für viele Männer ist es nach wie vor beschämend, über ihre erlebte Gewalt zu sprechen. Sich einzugestehen, dass man(n) Opfer von Gewalt wurde, passt für viele Männer nicht zu ihrem Selbstbild und so sprechen sie sehr wenig darüber. Häufig erleben wir an der Hotline, dass Männer das erste Mal über die Gewalt, die ihnen widerfahren ist, sprechen (können).

Welche Erfahrung machen die Männer damit, sich endlich jemandem anzuvertrauen?

Von dem, was wir mitkriegen, ist es für die Männer sehr erleichternd, dass sie überhaupt die Möglichkeit haben – auch in einem, wenn gewünscht, völlig anonymisierten Rahmen, wo das Gegenüber nicht sichtbar ist. Dadurch wird die Hemmschwelle etwas abgebaut. Das ist für viele Männer etwas anderes, als wenn sie es direkt in einer Beratungsstelle oder bei einem Psychotherapeuten aussprechen müssten. Bei uns müssen sie nicht ihren Namen sagen, sie müssen auch nicht sagen, wo sie sind oder wo sie wohnen. Es ist nur ihre Stimme bekannt. Das ist schon sehr hilfreich, um erstmal ins Gespräch zu kommen. 

Kann es sein, dass Männer mehrfach das anonyme, telefonische Angebot nutzen, bevor sie vielleicht auch gestärkt und bereit sind, sich vor Ort Unterstützung zu holen? 

Auf jeden Fall. Wir haben sicherlich Männer, die mehrmals anrufen. Manchmal fragen sie schon den Berater, wann derjenige wieder am Telefon ist, sodass sie dann darauf aufbauen können. Konzeptionell ist es so, dass wir auch bis zu fünfmal zurückrufen können.  

Telefonierender Mann von hinten in einem hohen Gebäude

Wie wird das Hilfetelefon bislang angenommen?  

Wir sind seit April 2020 am Netz und haben durchweg ca. 30-40 Anrufe plus 15-20 Mails pro Woche, Tendenz steigend. 

Welche Hilfe vermitteln Sie den Männern?  

Die wichtigste Hilfe scheint zu sein, zuzuhören und die Männer mit ihrem Anliegen ernst zu nehmen. Das öffnet bei den Männern das Zutrauen und darauf aufbauend können wir dann spezielle Beratungsstellen im örtlichen Umfeld empfehlen, wie Paarberatung, Männerberatungsstellen, sozialpsychiatrische Dienste etc. Wenn jemand gewillt ist, etwas zu verändern, dann nehmen die Männer diese Beratung oder diese Empfehlungen wirklich ernst und kümmern sich darum, geben manchmal auch per E-Mail noch eine Rückmeldung, dass sie z. B. in der kommenden Woche den ersten Termin in einer Beratungsstelle vor Ort haben.   

Wer arbeitet bei Ihnen im Team und welchen fachlichen Hintergrund haben die Berater*innen beim Hilfetelefon?  

In der man-o-mann männerberatung, die das Angebot des Hilfetelefons für Nordrhein-Westfalen übernommen hat, arbeiten nur Männer bei der Hotline, die entweder therapeutisch oder als Berater/Coach ausgebildet sind. 

Wir sind eine Männerberatungsstelle in Bielefeld, in der ausschließlich Männer arbeiten, zumindest im therapeutischen Setting. Nur in der Paarberatung arbeiten wir in Tandems gemischt-geschlechtlich – also eine Frau, ein Mann. Die Kolleg*innen aus Augsburg machen das etwas anders. Dort sind auch Kolleginnen tätig, die am Telefon sitzen. Ob jetzt Männer auflegen, wenn eine Frau am Telefon ist, weiß ich nicht. Aber die Rückmeldung bei uns ist so, dass zumindest am Telefon viele Männer sagen: „Oh, das war gut, dass ich hier an einen Mann geraten bin, das habe ich mir gewünscht“. Viele machen eine ganz neue Erfahrung, wenn wir als Männer das Problem ernst nehmen, zugewandt reagieren und es nicht abwerten. Das wurde von vielen bisher so noch nicht erlebt, also dass ein Mann ihnen zuhört, sie unterstützt und sie ernst nimmt. Das ist etwas, das sie aus ihrem System nicht kennen. 

Es wäre super, wenn wir dahingehend eine Veränderung erreichen könnten, dass Männer insgesamt offener mit ihren Gefühlen umgehen oder das kundtun, was ihnen passiert bzw. widerfahren ist.  

Festnetztelefon auf einem Schreibtisch

Wie sieht der Alltag am Beratungstelefon für Sie und Ihre Kollegen aus?  

Die Hotline fordert von den Beratern und Therapeuten auf den Augenblick genau bereit zu sein, den Anrufer in ‚seiner Welt‘ mit seinem Anliegen zu empfangen und ernst zu nehmen. Wir wissen nicht, ob jemand anruft, wann jemand anruft und mit welchem Anliegen jemand anruft. Auf all diese Ungewissheiten müssen wir am Telefon spontan reagieren können – anders als in der Beratungsstelle, wo ich meinem Terminkalender habe und weiß, welcher Klient mit welcher Vorgeschichte kommt. Dann kann ich mich innerlich darauf einstellen. Beim Hilfetelefon muss ich davon ausgehen, dass die Männer, die anrufen, erst einmal um Worte ringen oder dass sie total aufgeregt sind und so schnell sprechen, dass ich kaum dazwischenkomme. Darauf muss ich mich in diesem Moment voll einlassen, egal, was vorher so an Arbeit angefallen ist. 

Was können niedergelassene Psychotherapeut*innen und Coaches tun, um betroffene Männer noch besser anzusprechen bzw. zu unterstützen? 

Wichtig für Therapeut*innen und Berater*innen ist es, Männern, die Gewalt erfahren haben, männer- und gendersensibel zu begegnen und sie entsprechend zu begleiten. Ich muss mir dafür die Sozialisation von Männern bewusst machen, also wie Männer aufgewachsen sind – gerade, wenn ich vielleicht noch ältere Männer in der Beratung habe, die in den 40er, 50er oder 60er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgewachsen sind. Mit welchem Männerbild kommen sie? Mit was für Rollenmodellen kommen sie in ihren Partnerschaften? Wo gibt es so Glaubenssätze wie „Männer kennen keinen Schmerz“ oder „Ich zeige als Mann keine Schwäche“? oder „Darf ich als Firmeninhaber überhaupt sagen, dass ich Angst habe?“.  

Es bedarf von Seiten der Berater*innen auch eine solidarische und gleichzeitig kritische Haltung gegenüber dem Betroffenen. Natürlich ist alles subjektiv, was die Männer uns am Telefon oder auch in Beratungen erzählen. Einen Teil der Subjektivität kann ich mitgehen, aber sie wird auch irgendetwas in mir auslösen, z. B. Bedauern oder auch Ärger. Bekomme ich mit, wie der Mann beschreibt, dass er Opfer geworden ist, aber gleichzeitig massiv aggressiv redet, dann schaue ich, was das in mir auslöst und melde das auch zurück: „Ich kann verstehen, dass Sie da so wütend sind, aber so wie Sie gerade reden, lösen Sie in mir auch eine hohe Aggression aus“. Das ist schon auch eine kritische Rückmeldung. Vielleicht erreicht sie den anderen, vielleicht kann ich an seinem Verhalten ein bisschen etwas verändern oder bewirken, dass er sein Verhalten für sich reflektiert.

Notausgangsschild

Sie bieten ja auch fachliche Beratung für Kolleg*innen an. Was sind die typischen Anliegen von Fachpersonen, mit denen diese an Sie herantreten?

Die Fachberatung macht normalerweise ein Kollege von mir und derzeit haben wir im Schnitt ca. fünf Anfragen in der Woche. Ich selbst habe z. B. mal eine Kollegin beraten, die einen Mann in Therapie hatte, der Mitte 30 war und bei dem es um das Thema Sexualität ging. Die Kollegin war unsicher, wie sie mit ihm eigentlich arbeiten könnte. Sie hatte viele Fragen: „Was projiziert er auf mich als Frau?“ oder „Wie kann ich das Thema Sexualität von mir aus mit ihm besprechen?“ Wir haben dann dahingehend gearbeitet, dass sie sich diesbezüglich mehr zugetraut hat. Wir sind immer offen dafür, dass sich Fachkolleg*innen bei Anliegen melden können.

Gut zu wissen:Mehr Infos zum Beratungsangebot und zur Sprechstunde für Fachpersonal findest du unter www.maennerhilfetelefon.de