Was wir vom Tod lernen können

Hast du dich schon mal bewusst mit dem Tod auseinandergesetzt? Wie gehen wir mit Sterbenden um? Und kann man sich überhaupt auf den Tod vorbereiten? Christin Konrad studiert Psychologie und ist auf Grund einer Erkrankung, wie sie selbst sagt,  „chronische Grenzüberschreiterin“ zwischen Leben und Tod. Ihr Herzenswunsch: sie möchte Sterbebegleiterin werden.

Der Tod ist etwas Schlimmes. So dachte ich als kleines Kind und somit zu einer Zeit, in der ich die meisten Angelegenheiten vorerst in die Dimensionen „Gut“ und „Böse“ einsortierte. Zwar wusste ich nichts Genaues, da über den Tod für gewöhnlich nicht gesprochen wurde. Doch das Wenige, was ich wusste, genügte mir, ihn zusammen mit vergleichsweise banalen Ärgernissen (wie Streitereien und unliebsamen Pflichten) als etwas anzusehen, worauf ich gut verzichten konnte. 

Mit der Zeit beurteilte ich viele Dinge differenzierter. Schlechtes hat schließlich meistens auch etwas Gutes und Gutes beinhaltet oft auch Schlechtes. Das galt jedoch nicht für den Tod. Seine Position festigte sich sogar, insbesondere nachdem ich einige Jahre später einem Familienmitglied beim Sterben zusehen musste. Was damals vor meinen Augen geschah, war so befremdlich und surreal und so weit weg von meinen kindlichen Vorstellungen über das Ende des Lebens, dass ich in diesem Moment weder traurig sein noch Angst empfinden konnte. War ich überhaupt wach? Träumte ich nur schlecht? 

Später, zu meiner Zeit als Ergotherapeutin auf einer neurologischen Intensivstation, gehörte der Tod plötzlich zum Alltag. Besonders stark blieb mir eine junge Frau in Erinnerung, die eines Abends einen schweren Schlaganfall erlitten hatte. Mit halboffener Schädeldecke und von Kopf bis Fuß verkabelt starb sie nur eine Etage über der Station, die sie wenige Stunden zuvor noch als Krankenschwester betreten hatte.

Solche Dinge sind tragisch, besonders wenn sie jungen, engagierten Menschen widerfahren. Doch Mitarbeiter*innen in Kliniken wissen damit umzugehen – meist indem sie den Tod zur täglichen Routine einordnen. „Sowas passiert eben“, sagen sie und lassen das Erlebte hinter sich. Ich selbst bildete da keine Ausnahme – obwohl ich wusste: Tod und Routine haben ungefähr so viel miteinander zu tun wie Schluckauf und Schuhcreme. 

Die fünf Sterbephasen 

„Ich warte schon auf ihn", verriet die weltberühmte Sterbeforscherin und Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross einmal in einem Interview, ein paar Jahre bevor sie starb. Ich weiß noch genau, wie vorfreudig sie wirkte, zugleich aber auch erbost, dass der Tod sich ausgerechnet mit ihr so viel Zeit ließ. Damals muss sie sich ohne Zweifel in der letzten ihrer berühmten fünf Sterbephasen befunden haben, der Akzeptanz. Die anderen Phasen heißen: Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln und Traurigkeit.

Die Sterbeforscherin betonte stets, dass ihr Modell nicht mit einer Maslow’schen Pyramide zu verwechseln sei, bei der jede Stufe das Fundament einer anderen bildet. Manche Ebenen werden gar nicht erst betreten, andere wiederum bis zum Schluss nicht verlassen. Letztendlich sind die Sterbephasen, die auch Trauerphasen genannt werden, als Modell für den Umgang mit Veränderungen, Verlusten und Krisen zu verstehen. Auch Alltägliches ist damit gemeint –  zum Beispiel wenn Kinder miterleben, wie ihre Eltern sich trennen, bei einem Umzug, wenn eine Beziehung zerbricht oder wenn eine Ärztin oder ein Arzt eine schlimme Diagnose ausspricht. 

Eine schlimme Diagnose schleppe auch ich seit einer Weile mit mir umher. Sie trägt den Namen Cranio-cervicale Instabilität (CCI), was ungefähr so viel heißt wie eine nicht funktionierende Zusammenarbeit der ersten beiden Halswirbel. Dadurch geraten mein Rückenmark und die blutversorgenden Gefäße meines Gehirns oft auf gefährliche Weise in Bedrängnis. Die Konsequenz ist ein chronisch irritiertes Nervensystem und somit eine Fülle abstrakter Symptome. 

Manchmal ist es komisch zu wissen, dass nur ein unachtsamer Schulterblick mich schlagartig zum Pflegefall werden lassen und mich schlimmstenfalls sogar töten könnte. Trotzdem habe ich keine Angst. In Wirklichkeit löst das tägliche Hin und Her zwischen Leben und Sterben etwas ganz anderes in mir aus. Zum Beispiel Mut, neuen Herausforderungen zu begegnen, wie einst meinem Psychologiestudium. Vor meiner Erkrankung hätte ich mir das niemals zugetraut; heute könnte ich nicht zufriedener damit sein.  

Wahrscheinlich ist es schwer vorstellbar, dass die zunehmende Nähe zu etwas augenscheinlich Schlechtem die Lebensqualität steigern kann. Der Tod ist doch eigentlich etwas, wovor man sich fürchten muss. Zumindest ablehnend sollte man ihm gegenüber eingestellt sein, weil Ablehnung immerhin den Anschein von Kontrolle erweckt. Denn genau das ist so frustrierend: Der Tod nimmt uns unsere Kontrolle. Und davon wollen die meisten Menschen so lange wie möglich nichts wissen. Was also brächte es, sich voreilig mit dem Ende zu beschäftigen? 

Die wichtige Aufgabe der Sterbenden

Eine von Elisabeth Kübler-Ross' wichtigsten Botschaften lautet: Sterbende können uns viel beibringen; wir müssen nur zuhören. Als ich vor drei Jahren nur haarscharf eine schlimme Phase meiner Erkrankung überlebt habe, begriff ich, was damit gemeint ist. Sterbende sind nicht wie leere Batterien, die lediglich Platz rauben. Alles, was sie mit anderen teilen – Kummer, kleine Glücksmomente, Ängste, Erfahrungen, Wut oder Reue – mündet in einer Frage, der die meisten Menschen ihr Leben lang meisterhaft ausweichen: War ich glücklich?

Nicht grundlos wird diese Frage gefürchtet, denn sie verlangt Ehrlichkeit. Jemand, der eine steile Karriere aufgebaut hat, könnte merken, dass seine Tätigkeit ihn überhaupt nicht erfüllt. „Das sollte sie aber!“, widerspräche sein üppiger Lohnzettel oder das teure Auto in der Garage. Wahre Herzenswünsche werden zugunsten von etwas, das wie Vernunft aussieht, beiseitegeschoben. Doch sie verschwinden dadurch nicht einfach. Am Lebensende treten sie als Reuegefühl in Erscheinung und drängen darauf, dass der Betreffende nachholt, wovor er sich ein Leben lang gesträubt hat: Er lernt sich selbst als denjenigen kennen, der er am liebsten gewesen wäre. Sterbende schöpfen daraus ungeahnte Kräfte. Noch einmal leben, bevor der Tod kommt, ist ihr Leitgedanke, mit dem sie Menschen um sich herum die Augen öffnen – sofern diese zuhören. 

Wo liegt die Grenze zwischen Leben und Tod

Mir gefällt diese Balance aus Geben und Nehmen, besonders weil sie auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist. Aus der Ferne betrachtet sieht es vermutlich eher so aus als könnte ein Sterbender rein gar nichts geben, während die Menschen um ihn herum Zeit und Mühe investieren, seinen ausgedienten Körper so lange wie möglich beschwerdefrei zu halten. Diese Vorstellung begründet sich wohl in der Annahme, dass Leben und Sterben zwei voneinander getrennte Daseinsformen sind, die um nichts in der Welt vereint werden dürfen. Doch wo befindet sich dann die Grenze? Ist ein alter Mensch automatisch ein Sterbender? Oder muss er zudem auch noch krank sein? Bestimmen Ärzt*innen diese Grenze oder sollte jeder für sich selbst entscheiden, welcher Seite er sich zuordnen möchte? Als chronische Grenzüberschreiterin habe ich folgenden Kompromiss gefunden: Leben und Sterben sind ein und dasselbe. Daraus ergibt sich für mich, dass die Bedürfnisse Sterbender, die von Jammern bis Schimpfen über das Schmieden von Zukunftsplänen reichen können, bis zu ihrem Tod unbedingt genauso viel Beachtung erfahren sollten wie die Bedürfnisse von jedem anderen.

Gemeinsam allein

Früher war so etwas selbstverständlich. Die Menschen starben im Kreise ihrer Familien; sie wurden herzlich umsorgt und mit ihnen wurde gesprochen. Selbst Kinder durften an den letzten Wochen, Tagen und Stunden eines geliebten Familienmitglieds Anteil haben. 

Heute geschieht Sterben viel diskreter. Bevor Elisabeth Kübler-Ross die Gründung unzähliger Hospize anstieß, war es sogar üblich, Sterbende in Kliniken sich selbst zu überlassen. In gewisser Weise ist das noch immer so. Für Ärzt*innen ist der Tod oft wie eine Niederlage und somit lange nicht spruchreif. Auch Angehörige sträuben sich davor, den Lauf der Dinge stattfinden zu lassen. Für sie ist der Sterbende nicht nur ein wichtiger Teil ihres Lebens, den sie nicht verlieren wollen, sondern zugleich wie ein Spiegel, der Hilflosigkeit, Kontrollverlust und auch die eigene Sterblichkeit zeigt. Der Blick in solch einen Spiegel ist ohne Zweifel unangenehm und wird deshalb am liebsten vermieden – auch dann, wenn ein Sterbender bereit ist, sich seinem Tod zu stellen und Begleitung sucht. Sterbende sollen stark und optimistisch bleiben. „Du darfst nicht aufgeben! Kämpfe!“ steht dabei gegen „Ich habe Angst vor dem, was kommt.“ Deutlich wird: Selbst im Beisein der Lieben ist ein*e Sterbende*r mitunter ganz allein. 

Ich werde Sterbebegleiterin 

Ich kenne diese Misere. Einerseits ist da der Wunsch, mit jemandem über den Tod zu sprechen. Andererseits reagieren Freunde und Familie mit Widerstand – aus Liebe natürlich und weil sie sich hilflos fühlen. Dann braucht es manchmal jemanden, der eine Brücke bildet und sowohl Angehörige als auch Sterbende dort abholt, wo sie stehen. Und zwar jetzt, nicht erst nach einem halben Jahr Wartezeit, wie es oft bei Psychotherapeut*innen der Fall ist. Und genau so jemand möchte ich sein. Mein Wunsch ist es, Sterbebegleiterin zu werden.   

Seit ein paar Monaten schon bin ich Mitglied in einem Hospizverein. Im Rahmen eines ausführlichen Kurskomplexes lasse ich mir zeigen, wie ich eine Begleitung für Schwerstkranke und Sterbende sein kann. Wir sind nur eine Handvoll Teilnehmer*innen, deshalb reicht uns ein kleiner Büroraum. Ein Stuhlkreis ist schnell hingerückt und der Tod von der ersten Minute an so präsent ist wie unsere lächelnden Gesichter. Und gelacht wird viel. 

Bestimmt klingt das makaber. Lachende Sterbebegleiter*innen? Müssten solche Leute nicht mehr Pietät und Ernsthaftigkeit aufbringen können? Würde Sterbebegleitung bedeuten, sich bis zur Unkenntlichkeit zu verstellen, ja. Doch Sterbende verlangen etwas viel Wichtigeres: Echtheit. Und genau das wird in so einem Kurs reaktiviert – für den Fall, dass es einigen von uns abhandengekommen sein sollte. Denn ein Sterbender wird sich keinesfalls mit weniger zufrieden geben und erst recht nicht mit jemanden, der ihm die letzten Augenblicke voller Spaß vermiesen will.

Wut und Verzweiflung kehren oft schnell genug zurück. Und das dürfen sie auch, insbesondere im Beisein von Sterbebegleiter*innen. In solchen Momenten gelingt das Schimpfen und Jammern manchmal sogar besser als in der Gegenwart von Angehörigen, vor denen ein Sterbender nur ungern Schwäche zeigen möchte – oder darf. Doch der Ausdruck von Emotionen ist sehr wichtig, besonders kurz vor dem Tod. Denn es ist ein wichtiger Teil des Loslassens.

Begleitung aber nicht Vorbereitung

Vielleicht erweckt es manchmal den Anschein, Sterbebegleiter*innen wären dazu da, Sterbende auf ihren Tod vorzubereiten. Doch das können weder sie noch jemand anderes. Sterben baut auf dem Leben auf und jedes Leben ist einzigartig. Wenn überhaupt, kann die beste Vorbereitung auf den Tod nur darin bestehen, das beste Leben gelebt zu haben. Damit ist nicht unbedingt materieller Reichtum gemeint oder Ruhm, obwohl auch nichts dagegen spricht. Worauf es letztlich ankommt, so Kübler-Ross, ist das Gefühl, selbstverantwortlich und authentisch gelebt zu haben. Denn wenn sich das Leben erfüllt anfühlt, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als dem Tod mit Vorfreude zu begegnen. 

Zum Weiterlesen:

Kübler-Ross, E. (2012). Über den Tod und das Leben danach. Güllesheim: Silberschnur Verlag.