Meine Krankheit als Bild: Chronische Erkrankungen durch Kunst verstehen

Eine Person sitzt an einem Tisch und malt mit einem Pinsel.

Psychosomatische Krankheiten, chronische Schmerzen und lang anhaltende Erkrankungen stellen das Leben von Klient:innen auf den Kopf, beeinträchtigen ihren Lebensalltag, die Beziehungen und die Arbeit. Manchmal bedrohen sie sogar ihr Leben. Mit der Kunst als Ausdrucksform können Betroffene lernen, die Sprache ihres Körpers besser zu verstehen. Die Werke öffnen eine erweiterte Perspektive auf belastende Themen.

„Wenn die Seele weint und der Mund schweigt, spricht der Körper“, sagt der Volksmund. Ungelöste innere Konflikte drücken sich in Krankheitssymptomen aus. Wir nennen solche Krankheiten psychosomatische Erkrankung, Konversionsstörung oder auch Depression mit somatischen Beschwerden, um nur einige Beispiel zu nennen. Auch wenn unser Verständnis von Krankheit im Wandel hin zu einer ganzheitlichen Perspektive ist, so kommen wir doch aus einer Zeit, die Krankheit als Störfaktor, als Abweichung von der Norm ansah. Wir nennen das umgangssprachlich „Reparaturmedizin“. Erst 2003 wurde das Fachgebiet „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ eingeführt. Wir differenzieren immer noch in somatische und psychische Beschwerden.

 

Von der Pathogenese zur Salutogenese

Die klassische Medizin definiert Gesundheit am Modell der Pathogenese, wonach ein Mensch gesund ist, wenn er an keiner diagnostizierbaren Krankheit leidet. Gesundheit wird als ein Normzustand beschrieben, Krankheit als Abweichung von der Norm. Die Pathogenese geht daher von einem statischen Zustand von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit aus.

Der ganzheitliche Ansatz der Salutogenese wurde schon Ende der 1970er vom Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonovsky als Erweiterung zur Pathogenese eingeführt. Danach sind Gesundheit und Krankheit keine feststehenden Zustände, sondern eine fließende Bewegung. Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern ein Gesundheits-Krankheits-Kontinuum. Die Abwesenheit von Symptomen bedeutet nicht zwangsläufig Gesundheit.

Einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf Gesundheit ist chronischer Stress. Für Antonovsky ist dieser Faktor ein zentraler Punkt. Stressfaktoren wie Krisen, Arbeitsbelastungen oder schwierige Lebensereignisse wirken auf das Individuum ein und lösen einen körperlichen und psychischen Spannungszustand aus. Dieser wird vom Körper zu bewältigen versucht. Antonovsky konstatiert, dass die subjektive Einschätzung der Stressoren sowie die Art der Bewältigungsversuche darüber entscheiden, welche gesundheitlichen Auswirkungen Stressfaktoren haben. Im Gegensatz zum pathogenen Konzept kann Krankheit auch sinnstiftende Auswirkungen haben. Viele Menschen mit schweren Erkrankungen schildern, dass die Krankheit eine Lehrmeisterin ist, die ihr Leben auch zum Guten verändert hat.

 

Künstlerischer Ausdruck hilft, das große Ganze zu überblicken

Die Kunst als Ausdrucksform kann diesen in den Grundpfeilern der Salutogenese beschriebenen Prozess unterstützen. Während die klassische Medizin im Detail operiert, können wir mit der Kunst als Ausdrucksform das große Ganze überblicken, Polaritäten vereinen, Meta-Botschaften generieren. Die Betrachtung einer Krankheit durch die Brille des künstlerischen Ausdrucks hilft bei der Auseinandersetzung mit der Diagnose und fördert Bewältigungsstrategien im Umgang mit den belastenden Folgen.

Zeichnung eines Hauses.

In meiner Gruppe „Krankheit als Bild“ arbeiten wir mit dem künstlerischen Ausdruck, um Themen hinter den Krankheiten sichtbar werden zu lassen. Um ein Praxisbeispiel zu nennen, der Auftrag zum obigen Bild lautete:

 

„Wenn du mit deiner Krankheit ein Haus wärest, wie würde das aussehen?“

Die Klientin mit Schilddrüsen-Karzinom wies darauf hin, dass ihr im Bild vor allem die Tür wichtig gewesen sei, als sie ihr Haus malte. Erst durch ihre lebensbedrohliche Krankheit habe sie gelernt, wirklich auf ihre Grenzen zu achten. Nicht jeder darf ins Haus eintreten, sondern müsse vorher anklopfen. „Es ist kein Haus der offenen Tür. Innen ist viel Licht, Liebe, Wärme und Geborgenheit. Ich bin die Tür. Sie öffnet sich, wenn ich es will“, so die Klientin.

Wie funktioniert das nun mit der Sprache der Kunst? Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann unterscheidet zwei Formen des Denkens: Das schnelle, assoziative Denken und das langsame, lineare Denken. Während das planmäßige und lineare Denken über Faktenchecks, Analysieren und Zerlegen von Bestandteilen in ihre Einzelteile langsame Schlüsse zieht, agiert das schnelle Denken für den aktiven Geist blitzschnell und oft unbewusst in endlosen vernetzten Assoziationsketten. „Wie Kräuselwellen auf der Oberfläche eines Teiches breitet sich die Aktivierung durch einen kleinen Teil des riesigen Netzwerks assoziativer Vorstellungen aus“, schreibt Kahneman (2011, S.71).

Der bildhafte Ausdruck entspricht dem schnellen Denken. Assoziationen aktivieren wir über das Kunstwerk. Die Kunst als Ausdrucksform ist wie ein Orientierungssinn in der inneren Dunkelheit. Der künstlerische Ausdruck lebt von der Gleichzeitigkeit. Kunst kann Widersprüchliches nebeneinander zeigen und bestehen lassen. Auch Unaussprechliches darf sichtbar werden. Die Kunst hilft uns, das auszudrücken, was wir jenseits der Wortsprache wahrnehmen können. Ich beschreibe es gern auch als „Sehhilfe“, so als setzen wir uns eine Brille auf, die uns in eine andere Realität blicken lässt.

Ein weiteres Beispiel aus meiner Gruppe Krankheit als Bild illustriert das folgende Bild, das unter folgender Überschrift entstanden ist:

 

„Wenn deine Krankheit eine Märchenfigur wäre, welche wäre es?“

Die Klientin leidet unter Fibromyalgie. Es ist eine chronische Schmerzerkrankung, die mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Symptomen selbst von Ärzt:innen oft nicht ernst genommen und erst viel zu spät diagnostiziert wird.

Die Klientin dachte bei der Frage sofort an die Prinzessin auf der Erbse. Das Märchen von Hans-Christian Andersen, bei dem die sensible Königstochter durch viele Matratzen hindurch eine kleine Erbse fühlt, habe sie als Kind schon fasziniert. „Wie eine Prinzessin auf der Erbse wäre ich auch gern“, habe sie als Kind gedacht. Heute spüre sie täglich schmerzvoll ihren ganzen Körper. Die Fibromyalgie beeinträchtige ihr Leben massiv. „Man muss aufpassen, was man sich wünscht“, kommentierte sie ihren Kindheitstraum.

Zeichnung von Arzt und Patientin mit Dialog, der sich weiter unten im Artikel wiederfindet.

Die Klientin zeichnete das dargestellte Kunstwerk. Zu dem Bild entstand ein Dialog zwischen Arzt und Prinzessin, den die Klientin mit auf das Bild schrieb:

  • Prinzessin auf der Erbse: „Mir tut der ganze Körper weh, Kopf, Schulter, Arme, Rücken, Hände, Füße“
  • Arzt: „Ja, für die Schultern kann ich Ihnen Krankengymnastik aufschreiben.“
  • Prinzessin: „Und der Rest?“
  • Arzt: „Dafür haben wir jetzt keine Zeit, da müssen Sie sich neue Termine holen.“
  • Prinzessin zu Hause: „Eigentlich hätte ich gern mal, dass sich ein Arzt alles zusammen anschaut, vielleicht bedingt ja alles einander.“

Das mit Buntstiften gezeichnete Werk wirkt wie ein Comic, der Text unterstützt diesen Eindruck. Das Bett mit Leiter und die Umgebung macht einen kargen und wenig einladenden Eindruck. Einzig die Erbse sticht unter dem riesigen Matratzenstapel hervor. Die Hülsenfrucht wirkt wie ein grünes Auge, das unter dem Bettpolster hervorlugt. Die Frau hat ihr Bett verlassen. Sie steht mit gesenktem Blick und gebeugtem Buckel vor einem Mann, während sie in die Knie geht, als sackten ihr die Beine weg. Auf mich wirkt die Szenerie, als sei die Frau fast vor einem Zusammenbruch. Der Mann ihr gegenüber scheint in der Luft zu schweben. Mit seinen angespannten Armen und dem starren Blick zeigt er eine abwehrende Haltung. Mir kommen Sätze in den Sinn wie: „Was wollen Sie von mir“, „ich bin ratlos“, „ich weiß auch nicht weiter“.

Auch allen Gruppenteilnehmerinnen fiel besonders die gebückte Haltung der Figur auf, die so gar nichts von der typischen Prinzessin aus dem Märchen zeigt. Im Sprachgebrauch steht die sensibel Prinzessin, die schlaflose Nächte wegen einer Erbse unter dem Kissenhaufen durchlebt, für eine überempfindliche Person. Das kleinste Wehwehchen bringt sie aus der Fassung. Für die Härten des wirklichen Lebens scheint sie nicht gewappnet.

Auf dem Bild dagegen sehen wir eine schlichte Person in Pulli und Jeans, die sich – vielleicht vor Schmerzen - krümmt. Von Adel und Königshausambiente ist nichts zu sehen. Im Gegenteil, die Nüchternheit der Szenerie unterstützt die Kraftlosigkeit der Figur.

Bild und Textdialog zwischen Arzt und Person lassen uns spüren, wie wenig medizinische Unterstützung die Klientin mit ihren chronischen Schmerzen bisher erhalten hat. So wie die Erbse für andere nicht sichtbar ist, sei auch ihre Krankheit für die Außenwelt schwer zu fassen, so die Klientin. Dies gelte sogar für ihren Arzt, der nur einzelne Symptome behandle. Oft habe sie das Gefühl, dass die Menschen um sie herum dächten und auch manchmal sagten, was man über die Prinzessin auf der Erbse sagt: „Stell dich nicht so an, nun ist aber auch gut“.

Am Beispielsfall zeigt sich, dass der Klientin ihre Frustration über den ärztlichen Umgang zwar bewusst war, das Ausmaß und ihre Erschöpfung wurden ihr allerdings erst durch das erschaffene Werk deutlich. Gerade für Menschen, die schweren Zugang zu ihren Gefühlen haben, öffnet ein Bild einen anderen Zugang zu sich selbst. Als Therapeut:innen können wir das im Werk Sichtbare aufnehmen und Gefühle und Ängste besprechen.

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Ulrike Hinrichs (2023). Krankheit als Bild: Mit Pinsel und Farbe die Botschaft deiner Krankheit entschlüsseln. Books on Demand.

[Werbung] Aaron Antonovsky (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT-Verlag

[Werbung] Daniel Kahneman (2011). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Penguin Verlag.