Wie Neuropsychotherapie bei chronischen Schmerzen wirksam sein kann

Sind Schmerzpatienten ohne körperliche Ursachen etwa Simulanten? Oder was steckt möglicherweise neurologisch dahinter? Ein Fallbeispiel zeigt, wie sinnvoll es ist, Erkenntnisse der Hirnforschung in die Psychotherapie von Schmerzpatienten mit einzubeziehen.

Wenn Ärzte keine körperlichen Ursachen für Schmerz finden, fühlen sich Schmerzpatienten oft genug als Simulanten. Bisher wurden solche Erkrankungen auf sehr unbefriedigende Art mit einem mysteriösen Sprung vom psychischen Konflikt zum Körperleiden gedeutet. Neuropsychotherapeutische Erklärungsansätze helfen, Schmerzen ohne Organbefund besser einschätzen zu können und entlasten die Patienten.

Was ist Neuropsychotherapie?

In der Neuropsychotherapie werden die Erkenntnisse der Psychologie und Psychotherapie mit denen der modernen Hirnforschung verknüpft. Die Tatsache, dass allem Erleben neuronale Muster zugrunde liegen und dass diese neuronalen Muster sich über die gesamte Lebensspanne durch neue Erfahrungen immer wieder verändern können (die sogenannte neuronale Plastizität) ist für die Psychotherapie von Bedeutung.

Neuropsychotherapie ist kein neues Therapieverfahren. Indem Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns in die Psychotherapie eingebunden werden, lässt sich aber erkennen, ob therapeutische Vorgehensweisen – unabhängig von ihrer jeweiligen Schulenzugehörigkeit – wirksam oder eben unwirksam sind. Darüber hinaus können psychische Erkrankungen nicht nur unter psychologischen Aspekten, sondern zugleich in ihren hirnphysiologischen Abläufen beschrieben werden. Für die therapeutische Praxis sind diese zusätzlichen Erklärungsansätze und Erkenntnisse bereichernd.

Ein Fallbeispiel aus der Schmerztherapie

Conrad, ein 36-­jähriger Lehrer, ist unglücklich gestürzt und hat sich dabei eine Prellung an der linken Hand zugezogen. Die Verletzung wurde sofort medizinisch behandelt. Doch obwohl keine organische Ursache mehr erkennbar ist, hält der Schmerz auch acht Monate nach dem Sturz unvermindert an.

Conrad war als zehnjähriger Junge schon einmal gestürzt und hatte sich dabei einen Bruch am Handgelenk zugezogen. Mehr noch als der Schmerz und die Bewegungseinschränkung quälte ihn damals der Spott des Vaters, der nicht aufhörte, sich über seine Ungeschicktheit lustig zu machen. Neben Prügel waren herablassende Bemerkungen beim Vater an der Tagesordnung: Conrad war nicht klug genug und konnte weder mit sportlichen Leistungen noch mit anderen Talenten punkten. Auch als er beschloss, Grundschullehrer zu werden, musste er den Spott des Vaters über sich ergehen lassen.

Conrad arbeitete gern als Lehrer. Doch als er sich als Schulleiter bewarb und die Stelle nicht bekam, erlebte er das als schwere Kränkung – und von da an machte ihm seine Arbeit keinen rechten Spaß mehr.

Ursache: Schmerzgedächtnis

Warum bleibt der Schmerz – trotz fehlender organischer Ursache? Der Handgelenkbruch, den Conrad im Alter von zehn Jahren erleiden musste, hat zusammen mit den Kränkungen durch den Vater ein Schmerzgedächtnis entstehen lassen. Das heißt, es kam zu Veränderungen im Gehirn: als Folge früherer erlebter Schmerzen (und den damit einhergehenden negativen Gefühlen) entstanden veränderte Nervenzellschaltungen, welche die Basis einer auf die Hand bezogenen gesteigerten Schmerzsensibilität bildeten. Bereits vergleichsweise harmlose Reize, wie etwa die durch den erneuten Sturz entstandenen leichten Beeinträchtigungen, haben – zusammen mit der Kränkung, die Schulleiterstelle nicht bekommen zu haben – Conrads Schmerzgedächtnis aktiviert.

Den Schmerz beobachten

Auch wenn das Schmerzgedächtnis nicht immer gänzlich zu beseitigen ist, so lässt es sich doch beruhigen. In der Therapie halte ich Conrad dazu an, zu beobachten, in welchen Situationen seine Hand besonders stark schmerzt. Er entdeckt, dass die Schmerzen ihm immer dann unerträglich erscheinen, wenn er sich unwohl fühlt – beispielsweise bei einem Besuch bei seinen Eltern. Auch das Gefühl, ein Versager zu sein, lässt den Schmerz in den Vordergrund treten: Nicht nur bei dem Gedanken an die ausgebliebene Beförderung schmerzt die Hand, sondern auch dann, wenn er sich zurückgesetzt fühlt, etwa von Freunden.

Die initiale Situation durchleben

Als ich ihn bitte, sich den erlittenen Sturz noch einmal vorzustellen, entdeckt Conrad, dass ihm noch während des Fallens der Gedanke durch den Kopf schoss, was für eine lächerliche Figur er gerade abgab. Das spöttische Gesicht des Vaters tauchte vor ihm auf und er spürte Scham und Wut zugleich. Conrad wird bewusst, dass er sich noch immer um die Anerkennung seines Vaters bemüht – eines Vaters der ihm mit Prügel und Demütigungen viel Unrecht zugefügt hat und dessen Anerkennung er vermutlich nie bekommen wird.

Positive Erfahrungen aufbauen

Conrad versteht, dass negatives Erleben und Kränkungen sein Schmerzgedächtnis und seine Schmerzwahrnehmung verstärken. Der Zusammenhang zwischen negativen Gefühlen und Schmerzverstärkung basiert auf der Existenz eines emotionalen Schmerzgedächtnisses, das sich mit dem ursprünglichen Körperschmerz herausbildete und nun dafür sorgt, dass negative Gefühle auch in der Gegenwart - in einem gänzlich anderen Kontext - schmerzverstärkend wirken können. Conrad lernt, sein Schmerzgedächtnis wieder zu beruhigen, indem er über angenehme Tätigkeiten nachdenkt. Als ich ihn auffordere, sich möglichst viel Gutes zu tun, fällt ihm auf, dass er eigentlich nicht so genau weiß, was er gern macht. Der Beruf war bisher auch sein Hobby. Er versucht sich neu zu orientieren. Er würde gern eine längere Reise nach Australien machen. Die Hand schmerzt hier wie dort. Warum also nicht? Und in seinem Alltag sucht er jetzt mehr Ruhe und Entspannung, etwa beim Musikhören. Er entdeckt Neues, das ihm Freude bereitet: Besuche im Theater und Literaturlesungen gehören dazu. Die Tatsache, dass seine Hand immer noch schmerzt, hindert ihn nicht mehr daran, etwas zu unternehmen. Auf diesem Wege werden neue, positiven Gedanken und Gefühle, sowie die dazugehörigen neuronale Erregungsmuster aufgebaut, die sich der Schmerzwahrnehmung entgegenstellen.

Meditieren hilft, Schmerzen zu reduzieren

Durch Meditationsübungen erlebt Conrad das ihm bisher unbekannte, wohltuende Gefühl, mit sich selbst im Reinen zu sein. Während er meditiert, spürt er keinen Schmerz, weil nun im Gehirn Bereiche aktiviert werden, die dem Schmerz entgegenstehen. Auch Imaginationsübungen, in denen Conrad seinen Schmerz mit allen Sinnen symbolisiert – etwa in einer Farbe, einem Geruch, einer Form – bewirken eine Schmerzreduktion durch die anschließend mit Schmerzfreiheit assoziierte erneute Veränderung von Farbe, Form und Ton. Hier werden implizite Gedächtnisbereiche angesprochen, in denen neue, mit Gesundheit einhergehende neuronalen Muster aufgebaut werden und so zur Schmerzreduktion beitragen.

Chronischer Schmerz kann verschwinden

Als die Psychotherapie endet, sind Conrads Schmerzen so gut wie verschwunden. Nur in emotional aufreibenden Situationen tauchen sie wieder auf. Doch Conrad hat gelernt, den Schmerz als Alarmsignal zu sehen, das ihn auf unverarbeitete Kränkungen hinweist, die sein Schmerzgedächtnis aktivieren. Er hat Mittel und Wege entwickelt, mit denen er es wieder beruhigen kann. Der Schmerz hat die zentrale Rolle in seinem Leben verloren.