Lipödem: Wenn neben den Beinen auch die Seele schmerzt

Eine Person, die nur von den Hüften abwärts zu sehen ist, steht in einem Zimmer. Ihre Oberschenkel sind kräftig.

Zehn Prozent aller Frauen leiden an Lipödem: einer chronischen Fettverteilungsstörung, die mit starken Schmerzen einhergeht. Bis zur Diagnose haben Betroffene oft einen jahrelangen Leidensweg hinter sich – weil die Erkrankung vergleichsweise unbekannt ist und oft fälschlicherweise mit einer Adipositaserkrankung verwechselt wird. Zu den körperlichen Symptomen kommen oft soziale und psychische Belastungen hinzu.

Frau A. leidet seit Jahren an starken Schmerzen in den Beinen und nimmt an Gewicht zu. Ihr Alltag ist von Schmerzen, Schwere in den Beinen und Erschöpfung geprägt. Die Ärzt:innen, bei denen sie vorstellig wird, konnten ihr bislang keine Erklärung für ihre Symptome geben. Frau A. fühlt sich mit ihren Symptomen allein gelassen und hilflos. Sie zweifelt an sich und zieht sich sozial immer mehr zurück.

Dabei leidet Frau A. unter einer chronischen Erkrankung: Lipödem. Es handelt  sich um eine lokalisierte Fettverteilungsstörung, die vorwiegend Frauen betrifft (vgl. ICD 10 E88.ff). Nach derzeitigen wissenschaftlichen Grundlagen ist das Lipödem diätresistent. Neben den Veränderungen des Gewebes an Beinen und Armen leiden betroffene Frauen unter berührungs– und/oder druckempfindlichem Gewebe, die sich in einer Schmerzsymptomatik zeigen und den Alltag von betroffenen Frauen beeinträchtigen können.

Eine Frau ist von hinten zu sehen, wie sie eine große und breite Treppe hinaufsteigt.

Das Hauptsymptom, mit dem betroffene Frauen täglich konfrontiert sind, ist der chronische Schmerz. Die Auswirkungen auf die Alltagsfunktionalität können sich dabei unterschiedlich zeigen: Das Tragen von Einkaufstüten oder das Treppensteigen können von Schmerzen geprägt und auch die Intimität und Sexualität können durch die Schmerzen beeinträchtigt sein.

 

Viele Frauen fühlen sich mit ihren Symptomen allein gelassen

Hochrechnungen zur Folge sind in Deutschland ca. 2-4 Millionen Frauen von der Erkrankung betroffen. Dennoch wird die Erkrankung häufig jahrelang nicht erkannt und auch die Versorgung ist gesetzlich nur unzureichend geklärt und gesichert. Betroffene wie Frau A. sind daher nicht nur mit der Erkrankung selbst, sondern auch mit der langjährigen fehlenden Diagnose konfrontiert. Sie fühlen sich unverstanden und alleingelassen, geben sich häufig die Schuld für ihre Symptome.

 

Die psychischen Komponenten des Lipödems sind in der Forschungswelt noch unzureichend geklärt und es gibt keine validen Daten dazu. In der Anamnese betroffener Frauen finden sich häufig Essstörungen oder affektive Erkrankungen. Dabei gilt es zu beachten, dass ein Lipödem weder für die alleinige Entstehung noch Aufrechterhaltung einer psychisch manifestierten Erkrankung verantwortlich ist, sondern dies eher als ein Bedingungsfaktor im Rahmen bio–psycho–sozialer Erklärungsmodelle zu werten ist.

Betroffene berichten beispielsweise über:

  • Scham auf Grund der vom aktuellen Schönheitsideal abweichenden Figur
  • Mobbingerfahrungen, Diskriminierung oder Ausgrenzung
  • Zahlreiche Diätversuche, die langfristig die Symptome eher verschlimmern und ein gestörtes Verhältnis zum Essen mit sich bringen können
  • Schuldgefühle
  • Geringes Selbstwertgefühl und Ablehnung des eigenen Körpers
  • Sozialer Rückzug
  • Hilflosigkeit, Selbstzweifel
  • Depressive Verstimmungen, Gefühle von Leere, Traurigkeit und/oder ausgeliefert sein
  • Angstgefühle auf Grund fehlender Hilfe und im Bezug zu einer fortschreitenden chronischen Erkrankung

Oftmals beginnt die Ausprägung des Lipödems bereits mit Einsetzen der Pubertät, was eine entsprechende Auswirkung auf die Identitätsentwicklung der Frau haben kann.

Eine Frau sitzt zusammengekauert da und hat die Arme um ihre Beine geschlungen.

Schmerzen und Belastungen werden zum Teufelskreis

Wie bereits bei anderen chronischen Schmerzerkrankungen bekannt ist, finden wir auch beim Lipödem einen engen Zusammenhang zwischen körperlichen, psychischen sowie sozialen Aspekten. Eine Studie von Erbacher und Bertsch (2020) weist darauf hin, dass psychische Belastungen und Erkrankungen (auch wenn sie vor Auftreten des Lipödems bestehen) einen Einfluss auf die empfundenen Schmerzen und die Schmerzverarbeitungen haben können: Sie beeinflussen, wie stark die Schmerzen wahrgenommen werden. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Behandlung des Lipödems dringend psychosoziale Säulen berücksichtigen sollte. Sie bestätigen damit die gängige Therapieempfehlung (siehe auch die S1-Leitlinien, werden zum aktuellen Zeitpunkt überarbeitet).

 

Psychotherapie verändert nicht das Lipödem, aber das Wohlbefinden

Die Behandlung des Lipödems sollte im besten Fall auf einem multimodalen Behandlungskonzept aufgebaut sein:

  • Konservative Behandlung: Zur konservativen Behandlung zählen zum einen die Maßnahmen der Bewegungs– und Ernährungstherapie, Manuelle Lymphdrainage, das Tragen einer Flachstrickkompression sowie psychologische und bei Bedarf soziale Unterstützung.
     
  • Operative Behandlung: Neben der konservativen Behandlung besteht die Möglichkeit, das Gewebe durch eine operative Therapie – der Liposuktion – zu entfernen. Hierbei ist zu beachten, dass es sich um einen medizinisch indizierten – also einen notwendigen - Eingriff (zur Therapie und damit zur Schmerzreduktion) handelt.

Sowohl die konservative als auch die operative Versorgung ist aktuell unzureichend gesetzlich geklärt und stellt Betroffene vor eine große Herausforderung. Zum Teil wird auch Hilfe verwehrt.

Eine Frau steht in Sportkleidung vor dem Spiegel und schaut lächelnd auf ihren angespannten Bizeps.

Eine Psychotherapie kann als zusätzliche Säule einer multimodalen Behandlung das Wohlbefinden betroffener Frauen verbessern und die Lebensqualität stärken. Ziele der Therapie können – je nach individueller Anamnese und Problemlage – sein:

  • Auseinandersetzung mit der chronischen Erkrankung: Was bedeutet die Erkrankung für mich, meine Biografie und für meinen Alltag?
  • Verbesserung der Körperakzeptanz: durch körperorientierte Techniken, Übungen zur Körperwahrnehmung und Achtsamkeit sowie Auseinandersetzungen mit dem eigenen Körperschema
  • Grenzwahrung und Grenzsetzung: Erlernen, eigene Grenzen zu wahren und/oder zu setzen und sich auch für das eigene Recht stark machen zu können
  • Förderung sozialer Teilhabe (ggf. Besuch einer Selbsthilfegruppe) und Aktivitäten, mit Fokus auf dem, was Betroffenen Freude und Spaß bereitet
  • Stressmanagement: Erlernen von Copingstrategien im Umgang mit negativem Stresserleben
  • Ggf. kognitive Umstrukturierung: Veränderung negativer Gedanken
  • Behandlung komorbider psychischer Erkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen

 

Betroffene Frauen haben einen jahrelangen, zum Teil auch jahrzehntelangen Erkrankungsweg hinter sich, der zu psychischen und sozialen Auswirkungen und Folgeerkrankungen führt. All diese Faktoren müssen in einem multimodalen Behandlungskonzept Berücksichtigung finden, um den Frauen entsprechende Hilfe und Begleitung anbieten zu können.

 

Zum Weiterlesen:

Erbacher, E. & Bertsch, T. (2020). Lipödem und Schmerz – Welche Rolle spielt die Psyche? Phlebologie; 49: 305–316.

Rapprich, ter Balk & Hirsch (2022). Das Lipödem in Abgrenzung zur Adipositas. Parallelen und Herausforderungen in der Praxis. Adipositas, 16(01): 51-56, DOI: 10.1055/a-1722-8119

Weitere Informationen über das Erkrankungsbild sind auch auf der Homepage der LipödemGesellschaft unter www.lipoedem-gesellschaft.de zu finden.

 

Disclaimer: Die Fotos zeigen keine von Lipödem betroffenen Frauen.