„Wer sich schämt, möchte verschwinden“
Wir möchten uns abwenden und kleinmachen: Scham ist ein höchst unangenehmes Gefühl, das wir zu verstecken versuchen. Dennoch sitzt es oft wie ein „300-Kilo-Gorilla“ mit im Therapieraum. Wie begegnet man Scham? Die Schweizer Psychologin und Hypnose-Psychotherapeutin Silvia Zanotta erzählt im Gespräch über den schwierigen Umgang mit einem eigentlich nützlichen Gefühl.
Frau Zanotta, liege ich mit meinem Eindruck richtig, dass das Gefühl der Scham erst in den letzten Jahren verstärkt von Psychotherapeut:innen thematisiert wird?
Ja, das stimmt. Als ich begann, mein Buch „Wieder ganz werden. Traumaheilung mit Ego-State-Therapie und Körperwissen“ zu schreiben, gab es noch recht wenig Literatur. Einerseits denke ich, dass selbst Therapeut:innen Scham nicht als solche erkennen oder vermeiden. Andererseits ist man durch die Weiterentwicklung der Traumatherapien in den letzten Jahren immer wieder besonders auf das Thema der Scham gestoßen.
Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?
In meine Praxis kamen häufig traumatisierte Personen, die während der Stunde plötzlich dissoziierten, das heißt gedanklich völlig abdrifteten oder sich nicht mehr spürten und daher auch für den therapeutischen Prozess nicht mehr zugänglich waren. Um ehrlich zu sein, war ich damit zu Beginn meiner Tätigkeit recht überfordert. Ich versuchte daraufhin, besonders freundlich zu sein, was die Sache aber häufig noch verschlimmerte. Erst viel später bemerkte ich, dass sich diese Leute eigentlich in Grund und Boden schämten, weil sie überzeugt waren, dass sie schlecht sind oder an allem selbst schuld.
Wieso ist Freundlichkeit kein günstiger Umgang mit Scham? Was ist die Alternative?
Für Traumatisierte sind Klarheit und Abgrenzung sicherheitsspendend, nicht unbedingt Freundlichkeit. Diese fühlt sich für jemanden, der etwa sexuellen Missbrauch erfahren hat, mitunter sogar gefährlich an. Er hat ja viele Male erlebt, dass man der Freundlichkeit nicht trauen kann. Das ist im Körper gespeichert. Der Klient versucht sich demzufolge zu schützen, reagiert mit Ablehnung oder blockiert. So sagte eine in der Kindheit schwer traumatisierte Person einmal zu mir: „Ich hasse es, wenn Sie so sanft mit mir sprechen!“ Daher beginne ich heute mit Psychoedukation. Das heißt, ich erkläre den Menschen, dass das, was ihr Körper macht, eigentlich ein Schutzmechanismus ist, zum Beispiel die Dissoziation. Und ich tue alles, damit sich die betroffene Person sicher fühlt.
Gehen wir nochmals einen Schritt zurück: Warum brauchen Menschen überhaupt das Gefühl der Scham?
Die Scham spielt eine wichtige Rolle in der kindlichen Entwicklung und sie hat eine Anpassungsfunktion in der Gemeinschaft. Mir gefällt der Ansatz von Dr. Peter A. Levine, dem Gründer der Traumatherapie-Methode Somatic Experiencing, der sagt, dass die Scham so eine intensive Emotion sein muss, damit gewisse Dinge wirklich verinnerlicht werden. Ein Beispiel: Wenn Kinder mit circa achtzehn Monaten beginnen die Welt zu erkunden, müssen ihre Eltern ihnen in Gefahrensituationen ganz klar gewisse Grenzen aufzeigen. Etwa dass es nicht geht, auf die Herdplatte zu greifen oder auf dem Balkongitter herumzuklettern. Die Klarheit und vielleicht auch Schärfe, mit der dies gesagt werden muss, ruft beim Kind zuerst ein Erschrecken, dann ein Zurückziehen, sich Abwenden und Verbergen, einen Vorläufer der Scham hervor. Man kann dieses Phänomen übrigens auch gut bei Tieren beobachten. Wenn kleine Elefanten etwas tun, das für die Herde gefährlich ist, werden sie sofort gemaßregelt. Die Kleinen senken daraufhin den Kopf zu Boden und gehen in eine typische Scham-Physiognomie.
Scham als Anpassungsfunktion klingt positiv. Wie kommt es, dass viele Menschen später im Leben trotzdem eher mit Schamgefühlen kämpfen?
Was Sie ansprechen, ist das Ergebnis von Beschämung. Kommen wir zurück zu dem Beispiel des Kindes, das etwas Verbotenes oder Gefährliches tut. Reagieren die Eltern auf das Verhalten des Kindes mit Beziehungsabbruch, indem sie das Kind hart strafen oder wegschicken, so lernt das Kind nicht: „Das, was ich hier tue, ist nicht okay“, sondern: „Ich bin als Ganzes nicht okay“. Passiert dies regelmäßig, wird das zu einer Selbstabwertung, die das Kind verinnerlicht, und es fängt selbst an sich abzuwerten. Es sind diese Prägungen, die uns im Erwachsenenalter dann immer noch blockieren. In der Therapie ist es daher wichtig, dass die Leute verstehen: Ich wurde beschämt, das kommt von außen, das gehört nicht zu mir. Und: Das ist nicht okay, ich hätte es verdient, geliebt zu werden.
Woran erkennen Sie als Therapeutin „toxische Scham“?
Scham ist oft schwer zu erkennen. Peter Levine sagt zwar, dass die Scham wie ein Dreihundert-Kilo-Gorilla mit im Therapieraum sitzt, zumeist versteckt sie sich aber hinter anderen Gefühlen wie Angst, Wut oder Ekel. Scham ist ein äußerst unangenehmes Gefühl: Wer sich schämt, möchte sich zurückziehen oder verschwinden. Ich habe in meiner Praxis erlebt, dass manche Menschen fast kollabieren oder in einer Verkrampfung verharren.
Sie meinen also, ein beschämter Mensch bricht körperlich zusammen?
Ja, er kann starken Schwindel und eine grenzenlose Ohnmacht erleben. Auch die Sprache führt uns vor Augen, wie schlimm dieses Gefühl ist. Schwer traumatisierte Personen sagen zum Beispiel: „Ich möchte mich auflösen“.
Wie arbeiten Sie dann in der Therapie mit Klient:innen, die ihre Scham bearbeiten sollen?
Wenn man mit der Scham arbeitet, ist es wichtig, ihr etwas Starkes entgegenzusetzen. Ich muss also vorher ganz viel Ressourcenarbeit machen, um auch die Würde und Lebensfreude eines Menschen mit im Boot zu haben. Auf der Körperebene halte ich es für ratsam, im Stehen zu arbeiten.
Neben Scham und Beschämung gibt es auch noch die Schuld. Der Psychoanalytiker Jens Tiedemann sagt: „Im Gegensatz zur Schuld kann die Scham nicht durch Beichten gelindert werden.“ Wo sehen Sie den Unterschied zur Schuld?
Wenn ich mich schuldig fühle, habe ich immerhin eine Art von Verantwortung. Scham hingegen wird nur als schwach erlebt. Schuld kann man lindern, man kann sich ent-schuldigen. Alles, was mit Selbstabwertung zu tun hat, hat immer mit Scham zu tun. Man möchte sie verstecken und sich nicht damit befassen. Manche Menschen wehren Scham auch ab, indem sie andere beschämen oder überheblich, aggressiv und zynisch reagieren.
Zum Weiterlesen:
Dies ist eine gekürzte und leicht veränderte Fassung des Textes „Wer sich schämt, möchte verschwinden“ von Dagmar Weidinger. Das vollständige Interview sowie 18 weitere Gespräche mit bedeutenden Vertreter:innen der internationalen Psychotherapie-Szene findest du in:
[Werbung] Weidinger, Dagmar (2022). Unterwegs im weiten Land - Gespräche über die Psyche. Wien: Picus Verlag.
Wir danken der Autorin und dem Verlag, die uns diesen Text zur Verfügung gestellt haben!
Weitere Literatur:
[Werbung] Zanotta, S. (2022). Wieder ganz werden. Traumaheilung mit Ego-State-Therapie und Körperwissen. Heidelberg: Carl-Auer.