Wenn das Sammeln zur Sucht wird

Ein Raum, der von oben bis unten mit Büchern vorgestellt ist, und eine Frau, die suchend im Raum steht.

Wenn das Sammeln von Dingen zur Sucht wird, bauen sich Menschen ihre eigenen „Höhlen“. Betroffene sollen künftig einen besseren Zugang zur Versorgung haben: das „pathologische Horten“ wird als Diagnose im ICD-11 aufgenommen. Psychoanalytikerin Elisabeth Dokulil ist Gründerin der ersten Wiener Messie-Selbsthilfegruppe und erzählt im Gespräch über die fließenden Ordnungen der Messies – und was sie von Archivar:innen unterscheidet.

Frau Dokulil, ab welchem Punkt ist man ein Messie?

Im Sinne eines psychischen Leidens trifft die Bezeichnung zu, wenn das Alltagsleben massiv eingeschränkt ist. Wenn Küche, Klo und Bad nicht mehr benutzbar sind. Wenn das Vorzimmer ausgeräumt werden muss, bevor man die Wohnung verlassen kann. Oder wenn es immer wieder notwendig ist, Dinge vor der Wohnung oder außerhalb der Wohnung zu deponieren. Eine Wohnung muss so weit funktional sein, dass sich eine Person darin ihre Grundbedürfnisse erfüllen kann. Dazu zählen: sich reinigen, sich versorgen und es sich auch irgendwo gemütlich machen können.

 

Ein übervoller Kleiderschrank oder ein vollgeramschter Keller macht mich also noch nicht zum Messie?

Ich habe immer Schwierigkeiten damit, krank und gesund scharf voneinander zu unterscheiden. Betroffene machen etwas in einer extremen Form, aber es handelt sich um eine Erfahrung, die wir alle machen. Jeder hat doch einen Bereich in seiner Wohnung, von dem er nicht genau weiß, was sich dort befindet – die sogenannte Schmuddelecke. Betroffene bezeichnen das als „Messie-Nest“. Das kann eine Lade sein, der Keller, der Abstellraum etc. Immer wenn man von einem Ding nicht weiß, ob man es behalten oder weggeben soll, gibt man es dorthin. Und jeder weiß, dass man es in Überlastungszeiten so weit bringen kann, dass ein Zimmer nicht mehr auszuhalten ist. Als Studierende befüllt man leicht einmal den ganzen Schreibtisch und Boden mit den Unterlagen für die Abschlussarbeit.

Ein Strudel aus Büchern und Zeitschriften

Was genau ist dann das Destruktive daran, wie Messies sammeln?

Messies häufen die Dinge an, die auf sie zukommen. Sie wollen sie behalten. Oft glauben sie, diese noch verwenden zu können. Und sie sind nicht in der Lage, etwas auszusortieren oder wegzuwerfen. Betroffene benützen Dinge vor allem, um ihr Leben zu füllen – räumlich, zeitlich und emotional. Sie befüllen die freien Flächen auf ihren Möbeln; sie füllen Räume an, manchmal auch ganze Wohnungen; sie befüllen ihre Autos und die Taschen, die sie mit sich tragen. Messie-Spezialist und Psychotherapeut Rainer Rehberger würde sagen, dass es sich um einen analen Vorgang handelt. Man tut alles dafür, dass nichts vergeht. Am Ende kommt dabei aber nur ein Einheitsbrei heraus. Die Anhäufung führt gleichzeitig zur Zerstörung der Objekte. Man kann sich im Leben überhaupt nur eine gewisse Menge an Dingen aneignen.

 

Ein kultureller Versuch der Aneignung von Materialsammlungen sind Museen und Archive. Ich vermute, Messies und Archivar:innen verbindet ihre Empfindsamkeit für die Welt der Dinge. Wären Messies eigentlich gute Archivar:innen?

Es stimmt, dass das Verbindende die Wertschätzung gegenüber Altem ist. Bei den meisten Messies ist auch das Bedürfnis da, Gegenstände vor der Vernichtung zu retten. Viele denken sich: „Das ist ein schönes Ding, das will ich bewahren.“ Betroffene vergleichen sich gerne mit Museumsdirektor:innen oder Schlossbesitzer:innen. Sie fühlen sich wie die Verwalter von Sammlungen, die – hätten sie nur genügend Raum – ihrer Meinung nach durchaus wertvoll wären. Da ist natürlich auch etwas dran, wenn man sich ansieht, was zum Beispiel in Museen aufgehoben wird. Nicht alles hat hier einen Sinn. Es ist eine gesellschaftliche Übereinkunft, keltische Scherben aufzuheben. Warum sind Joghurtbecher aus den fünfziger Jahren oder die ersten Tetra Paks weniger wertvoll? Menschen sammeln ganz vieles im Kampf gegen die Vergänglichkeit. Dennoch gibt es aber einen großen Unterschied zwischen dem Sammeln und dem Horten – das Design Museum hat zwei alte Joghurtbecher, Betroffene fünfzig. Hier geht es um das Fehlen von Grenzen. Messies sammeln auf eine Art und Weise, die sie selbst verletzt und schwächt.

Eine Frau öffnet eine Archivschublade.

Was machen Archivar:innen anders?

Sie schaffen es, eine nachhaltige Ordnung zu etablieren, die auch Bestand hat, wenn sich zum Beispiel die Leitung eines Archivs ändert. Die Ordnungssysteme der Messies sind immer fließend und häufig auch miteinander konkurrierend. Bücher und Zeitschriften werden zum Beispiel einmal nach Jahrgang sortiert, dann wieder nach Thema oder nach Alphabet. Betroffene werden nie fertig mit ihrer „Arbeit“.

 

Was macht das Loslassen so schwer?

Die Dinge können Ersatz für enge Beziehungen sein. Das ist allerdings nichts Messie-Spezifisches. Auch Kinder haben Kuscheltiere im Bett, wenn die Mutter nicht da ist. Man spricht dann vom sogenannten Übergangsobjekt. Der englische Sozialanthropologe Daniel Miller beschreibt in seinem Buch „Der Trost der Dinge“ den Umgang der Menschen mit ihren Objekten in einem relativ normalen Bereich. Anhand seiner Schilderungen lässt sich erkennen, dass es sich um etwas allgemein Menschliches handelt. Dinge geben Trost, Sicherheit und Halt. Im Unterschied zum Durchschnitt ziehen sich Messies stark in ihre Dingwelten zurück.

 

Was liegt diesem Rückzug zugrunde?

Menschen mit psychischen Problemen neigen häufig dazu, sich zurückzuziehen. Isolation ist ein großes Problem in unserer Gesellschaft. Wer alleine lebt, hat aber trotzdem das Bedürfnis, sich mit Vertrautem zu umgeben. In diesem Fall können die Dinge zum Ersatz von Bezugspersonen werden. Oft beginnt das Sammeln damit, dass Dinge übrig bleiben von vertrauten Menschen, die man verloren hat. Mir ist es allerdings wichtig darauf hinzuweisen, dass das auch im normalen Leben eine Rolle spielt. Viele Menschen würden sich zum Beispiel den Schal der verstorbenen Großmutter aufheben. Ich glaube, eine Schwierigkeit liegt darin, zu akzeptieren, dass es auch Erinnerungen gibt, zu denen kein Material vorhanden ist.

Ein Teddybär von hinten, auf einem Bett sitzend und aus dem Fenster schauend.

Häufig liest man auch, dass die Dinge wie eine Art Schutzschicht für die Betroffenen seien. Psychoanalytiker:innen stellen den Vergleich zum Mutterleib als Rückzugsort und Ort der Sicherheit her. Stimmt das?

Man hat tatsächlich oft das Gefühl, eine Höhle zu betreten, wenn man in eine Messie-Wohnung kommt. Und jede Form von Höhle lässt sich analytisch als Gebärmutter deuten. Man darf nicht vergessen, dass das für viele Leute vermutlich wirklich der einzig sichere Ort in ihrem Leben war. Viele Betroffene haben sehr frühe Störungen in der Beziehungsentwicklung erlebt. Das muss nicht immer ein Missbrauch sein. Es reicht schon, dass man als Baby über Wochen oder Monate im Spital war, oder dass zum Beispiel die Mutter nach einem unerwarteten Unfall für einige Zeit ins Krankenhaus kam. Solche Einflüsse können die ganz frühe Ordnung stören. Ein Mensch muss dann erst selbst eine Form von Geborgenheit für sich finden. Diese kann man sich mithilfe der Dinge herstellen.

 

Man könnte also auch sagen, dass es sich um eine kreative Coping-Strategie handelt…?

Es ist sicherlich eine kreative Aktion. In manchen Messie-Wohnungen sehen Sie Anhäufungen, die wie kleine Architekturen oder Kunstwerke aussehen. Das Schlimme ist allerdings, dass das Ganze einen stark selbstquälerischen Zug hat. Das Horten lässt die Freude an der Kreativität nicht zu, sondern hat etwas Bestrafendes. Es ist schon ein Käfig, den sich Betroffene hier bauen. Die schlimmsten Käfige bauen sich die Menschen immer selbst: Wenn sie sich etwas nicht trauen, sich etwas nicht zugestehen oder etwas Freudvolles nicht beginnen. Das Verschieben ist eine große Gemeinsamkeit aller Messies. Sie verschieben sogar die Verwendung der Dinge. Vieles wird für die Zukunft gekauft und dann verpackt in der Wohnung liegen gelassen und nie verwendet. Es gibt also eine große Scheu vor dem Gebrauch.

 

Die Dinge beziehungsweise die Beschäftigung mit den eigenen Sammlungen geben also dem Leben Ordnung und Struktur?

Die Beschäftigung mit den Dingen spielt sicherlich eine große Rolle für die Menschen. Wobei das Ganze manchmal eher Leerlaufcharakter hat, weil sich die Menschen nicht mit dem Grund ihrer Qual beschäftigen. Diese Form von Beschäftigung hat etwas Ablenkendes. Es ist offensichtlich zu schwer, sich anzusehen, was einen wirklich ausfüllt. Darum ist es auch so wichtig, die Ansammlungen in der Therapie gemeinsam mit dem betroffenen Menschen zu besichtigen.

Ein Mann und eine Frau räumen ein Zimmer auf.

Besichtigt werden Messie-Wohnungen auch im Fernsehen. Es gibt mittlerweile eine Fülle von beliebten Reality-TV-Shows, in denen Psycholog:innen in Messie-Haushalten aufräumen. Häufig sogar in Abwesenheit der Betroffenen. Was halten Sie davon?

Von meinen Betroffenen weiß ich, dass Eingriffe von außen als grober Übergriff erlebt werden. So etwas kann passieren, wenn eine Messie-Wohnung von wohlmeinenden Bekannten während eines Spitalsaufenthalts oder während eines Urlaubs aufgeräumt wird. Dies kann zu richtiggehenden Zusammenbrüchen bei den Betroffenen führen. Ich kannte nur eine einzige Person, die sagte: „Ich habe zwar einen Zusammenbruch erlebt, aber letztlich bin ich dankbar.“ In ihrem Fall handelte es sich um gute Freunde, die das Ausräumen übernommen hatten. Das Wesentliche war, dass sie der Betroffenen im Nachhinein in dieser schwierigen Situation beistanden. Sie halfen sogar mit, einen Teil ihrer Sammlung wieder aufzubauen, und begleiteten sie beim Trauern um manches, das verschwunden war.

 

Zuletzt meine Frage, wie sind Sie zu den Messies gekommen? Und was fasziniert Sie daran?

Eine Journalistin machte mich im Jahr 2000 auf das Thema aufmerksam; ich fand das sofort spannend. Gemeinsam mit einer Kollegin leitete ich bald darauf eine erste Gruppe in freier Praxis. Als wir 2005 die SFU (Anm. d. Red.: Sigmund Freud Privatuniversität Wien) gründeten, nahm ich das Thema mit an die Uni, wo es noch heute ist. So leicht wird man Expert:in. (lacht) Ich beschäftige mich halt damit. Eigentlich habe ich mehr Fragen als Antworten. Das Thema übt nach wie vor eine gewisse Faszination auf mich aus: Wie schwer es ist, Dinge wegzugeben, wie schwer es ist, eine Ordnung zu finden. Und ich denke, die Menschen spüren das. Diese Wertschätzung braucht es in jeder Therapie.

 

Zum Weiterlesen:

Dies ist eine gekürzte und leicht veränderte Fassung des Textes „Die schlimmsten Käfige bauen sich die Menschen selbst“ von Dagmar Weidinger. Das vollständige Interview sowie 18 weitere Gespräche mit bedeutenden Vertreter:innen der internationalen Psychotherapie-Szene findest du in:

[Werbung] Weidinger, Dagmar (2022). Unterwegs im weiten Land - Gespräche über die Psyche. Wien: Picus Verlag.

Wir danken der Autorin und dem Verlag, die uns diesen Text zur Verfügung gestellt haben.