Keine Angst vor der Sucht(therapie)

Eine Frau mit langen blonden Haaren und Kapuzenpulli steht vor halbgeschlossenen Jalousien am Fenster. Vor ihrem Gesicht qualmt Rauch.

Ob Alkohol, Computer oder Drogen: Sucht ist allgegenwärtig, auch in der Therapie. Gleichzeitig sind Behandelnde oft unsicher, wie sie mit Süchten umgehen sollen. Ich zeige dir typische Fallstricke in der Behandlung von Suchterkrankung und wie du eine klare, offene und zugewandte Haltung damit finden kannst.

Sucht ist allgegenwärtig. Es ist unmöglich, am Thema vorbeizukommen, sei es privat, in der Psychotherapie oder im Coaching. Jeder von uns hat Süchte oder Suchttendenzen: in Form von Smartphones, sozialen Netzwerken, Süßigkeiten, Arbeit, Gamen, YouTube, Netflix, Sex, Pornos, Rauchen, Alkohol oder anderen Drogen. Wann wolltest du das letzte Mal mit etwas aufhören, konntest es aber nicht? Wie hat sich das angefühlt? Sicherlich nicht angenehm. Wirst du dann noch von anderen damit konfrontiert, kommen vielleicht Scham, Selbstabwertung oder Wut dazu. Wir alle sind beim Thema Sucht befangen! Darum lohnt es sich, dazu eine klare Haltung zu entwickeln.

Ich möchte hier ein paar Perspektiven aufzeigen, die mir im Umgang mit Betroffenen geholfen haben. Menschen, die unter Süchten leiden, können uns sehr herausfordern. Anfänglich war ich unsicher. Ich wusste noch nicht, welches Verhalten und welche Beziehungsdynamiken ich zu erwarten hatte. So verarbeitete ich zum Beispiel einen Therapieabbruch als persönliches Versagen. Andere Erlebnisse lösten Gefühle von Enttäuschung oder Misstrauen aus.

Diese Unsicherheiten machen ein offenes und zugewandtes Beziehungsangebot von unserer Seite weniger wahrscheinlich. Wir sind dann mehr mit uns beschäftigt als mit unserem Gegenüber. Ein guter Start in die Therapie mit Betroffenen ist eine ehrliche und gründliche Selbstreflexion.
 

Sucht ist ein gesellschaftliches Phänomen und Problem

Allein die Alkoholabhängigkeit ist die häufigste psychische Erkrankung bei Männern und die zweithäufigste bei Frauen, nach Angsterkrankungen. Auch wenn du keine Klient:innen hast, die in erster Linie unter Süchten leiden: Fast immer spielt Sucht doch eine Rolle. Als Behandelnde brauchen wir sowohl das Wissen als auch eine Haltung diesem Thema gegenüber. Oft übersehen wir Süchte in den Therapien, weil wir nicht ausdrücklich danach fragen. Unsere Klient:innen sagen uns nichts, weil sie unsere Unsicherheit im Umgang damit spüren und befürchten, die gute Beziehung damit zu belasten.

Ein Paar steht am Strand und umarmt sich, aber dabei schauen beide auf ihr jeweiliges Handy.

Die Suchttherapie hat keinen guten Ruf

Klient:innen mit einer Suchtproblematik haben häufig Schwierigkeiten, eine ambulante Psychotherapie zu finden. Behandelnde sind oft unsicher, wie sie mit diesen Patient:innen umgehen sollen. Falsche und veraltete Ansichten oder Vorurteile sind auf allen Seiten weitverbreitet. Das führt dazu, dass viele Therapeut:innen Suchtpatient:innen lieber nicht behandeln – oder nicht so genau hinschauen. Wir brauchen aber eine Haltung, die uns offen und zugewandt an dieses Thema herangehen lässt – für unsere Klient:innen!

Entstigmatisierungskampagnen in Bezug auf andere psychische Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, sind sehr viel erfolgreicher als für Suchterkrankungen. Möchten Betroffene in Deutschland eine ambulante Psychotherapie beginnen, die von der Krankenkasse bezahlt wird, müssen sie innerhalb der ersten zehn Therapiestunden abstinent sein. Dies impliziert einen Umgang mit der Erkrankung, der nicht hilfreich ist: Die Sucht muss weg! Entsprechend versuchen Betroffene mit aller Kraft gegen ihre Sucht anzukämpfen. Das erzeugt einen immensen inneren Druck. Erleben sie dann Rückschläge, fühlt es sich wieder wie ein Scheitern an. Dies führt in eine Spirale aus Scham, Selbstzweifeln, Selbstvorwürfen und Wertlosigkeitsgefühlen, die nur durch erneuten Konsum gemildert werden können.
 

Sucht zerstört Beziehungen

Die Sucht entfaltet so ihre destruktive Kraft. Betroffene verlieren ihre Arbeit und den Kontakt zu ihren Lieben. Sie kapseln sich ab: in der Sucht. Aus diesem Teufelskreis finden viele Betroffene nicht selbst wieder heraus, schlimmer noch: Sie verlieren das Vertrauen in sich selbst, ihre Angehörigen und professionellen Begleiter:innen. Vertrauen, das sie so sehr brauchen.

Ein Mann sitzt in einem leeren Raum an einer Wand und hat die Arme um seine Knie geschlungen. Er neigt den Kopf nach unten und sein Gesicht ist nicht zu sehen.

Die Frage ist also nicht, wie wir Betroffenen helfen, einen Teil von sich zu bekämpfen, sondern: Wie können sie mit der Sucht als Lebensthema umgehen – egal, ob sie abstinent leben oder nicht? Wie können sie dem so begegnen, dass sie sich selbst immer weniger schaden müssen?
 

Die Arbeit mit Betroffenen ist anspruchsvoll und besonders

Therapieausfälle, Verheimlichungen, impulsives Verhalten, Misstrauen auf unserer Seite, Betroffene werten uns ab, um sich selbst vor ihrem vernichtenden Urteil zu schützen. Anfänglich habe ich diese Besonderheiten persönlich genommen und immer wieder an meiner therapeutischen Kompetenz gezweifelt. Ich habe mich so lange wirkungslos und ohnmächtig gefühlt, bis ich mehr über die typischen Dynamiken gelernt hatte und verstand, was diese Erkrankung mit sich bringt. Jetzt kann ich ohne persönliche Enttäuschung reagieren, wenn Betroffene rückfällig werden.

Die Suchttherapie bietet Berufseinsteiger:innen viele Chancen für eine persönliche und professionelle Entwicklung. Allerdings ermöglicht sie wenig narzisstische Zufuhr für uns Behandelnde. Wir „konkurrieren“ mit der Sucht: Patient:innen lassen uns sitzen, weil sie konsumieren, oder sie verheimlichen den Konsum vor uns. Wichtig ist dann, dass wir uns nicht infrage stellen. Sonst werden unsere Klient:innen das Gefühl haben, dass sie uns zuliebe abstinent sein müssen. Das wiederum erschwert es, dass sie bei sich bleiben und mit uns gemeinsam verstehen wollen, was los ist.
 

Achte darauf, wo deine Klient:innen stehen

Wir sind viel eher in Kontakt mit unseren Klient:innen, wenn sie uns sagen können, dass sie der Abstinenz gegenüber ambivalent sind, als dass sie uns leere Abstinenzgelübde ablegen müssen. Sie haben sich lange genug nach den Erwartungen anderer gerichtet. Deshalb konsumieren ja viele! Sie holen sich ihre Freiheiten auf diesem Weg zurück. Wir dürfen nicht in Versuchung geraten, Betroffenen aufgrund unserer Unsicherheit die Abstinenz verkaufen zu wollen. Das kann für manche der richtige Weg sein, für andere ist er das vielleicht noch nicht. Wir müssen achten, wo unsere Klient:innen stehen! Auch gegenüber der Sucht müssen wir eine gewisse Neutralität bewahren. Die Entscheidung, welchen Weg Betroffene einschlagen, bleibt ihnen überlassen. Jede:r Betroffene hat einen Teil, der weiter konsumieren möchte, und einen, der aufhören will.

Das Bild zeigt drei übereinandergelegte Fotos einer jungen Frau, die auf zwei Bildern von der Kamera weg und auf dem dritten in die Kamera schaut.

Wie weit wir mit Betroffenen mitgehen, wenn sie den Weg der Veränderung wieder verlassen haben, ist eine andere Frage. Wir müssen selbst klären, wo die Grenzen für uns und unser Setting liegen. Unsere Klarheit hilft auch unseren Klient:innen. Wir können mit ihnen definieren, wo unsere Begleitung aufhört, und sie einladen, jederzeit wiederzukommen, wenn sie wieder auf dem Weg sind. Ganz nach dem Motto: You can always start fresh! Das ist für die Suchttherapie und die Selbstachtung unserer Klient:innen wichtig. Wenn wir diese Haltung nicht deutlich machen, werden sie das Gefühl haben, bei Konsum ihr Gesicht zu verlieren, und ein:e andere:n Behandler:in aufsuchen, denn sie wollen sich und die Beziehung zu uns schützen!
 

Findet gemeinsam heraus, was deine Klient:innen brauchen

Gerade jüngere Therapeut:innen tappen gern in die Helferrolle. Sie übernehmen viel Verantwortung für die Betroffenen und glauben fest daran, dass nur mit ihrer Hilfe alles anders wird. Wenn ihre Klient:innen doch wieder in alte Bahnen zurückgeworfen werden und konsumieren, sind sie enttäuscht. Manche Therapeut:innen werden auch zu strengen Richtern oder Regelsetzern, um irgendwie mit dem Chaos umzugehen, welches die Sucht mit sich bringt. Einige Betroffene fühlen sich dadurch entlastet, da eine klare Führung angeboten wird. So bleiben sie aber in der Kindrolle und können in dieser Beziehung nicht erwachsen werden.

In der Suchttherapie können wir als Behandelnde lernen, bei uns zu bleiben und uns nicht von den Erfolgen, Rückschlägen oder Rückmeldungen der Betroffenen abhängig zu machen. Wir haben die Chance, uns mit eigenen Süchten und Suchttendenzen auseinanderzusetzen. Wir müssen in Kontakt mit unserer Empathie, Klarheit, Unabhängigkeit und der eigenen Aggression sein. Das bringt uns als Behandelnde weiter und ist so wichtig in der Therapie.

Wir brauchen keine Berührungsängste mit Betroffenen und deren Süchten zu haben! Wir müssen auch niemandem die Abstinenz verkaufen! Wie bei allen psychischen Erkrankungen können wir gemeinsam versuchen, zu verstehen, was los ist und was unsere Klient:innen wirklich brauchen. Dafür müssen und dürfen wir unbefangen, zugewandt und neugierig bleiben.

 

Zum Weiterlesen [Werbung]:

Winkler, J. (2022). Suchttherapie inside. Erfahrungswissen für junge Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Stuttgart: Schattauer.