Nachgefragt: Wie funktioniert Psychotherapie mit Ketamin?

Person im weißen Kittel mit Spritze in der Hand

Als Partydroge missbraucht und in Verruf geraten. Das therapeutische Potenzial vieler bewusstseinserweiternder Substanzen wie Ketamin ist lange ungenutzt geblieben. Mittlerweile boomt die Forschung - wie es scheint, aus gutem Grund. Wir haben mit Frauke Nees gesprochen, die bereits zahlreiche Ketaminsitzungen therapeutisch begleitet hat.

Frauke, was ist Ketamin überhaupt?

Ketamin ist ein sehr sicheres Narkose- und Schmerzmittel. Das Medikament gibt es schon seit über 50 Jahren.

Wie nutzt man Ketamin im Rahmen von Psychotherapie?

Im Rahmen von Psychotherapie wird Ketamin im Off-Label-Use in einer niedrigen Dosis injiziert, um einen veränderten Bewusstseinszustand zu erzielen. Die Ketamininfusion dauert ca. über 40 Minuten und führt je nach Dosierung zu milden anästhetischen Wirkungen und einem traum- oder tranceartigen Zustand. Das Verarbeiten von schwierigen Erlebnissen und Inhalten kann so erleichtert oder auch erst ermöglicht werden.

Frauke Nees bei einem Workshop

Wie genau funktioniert das?

Durch die niedrige Ketamindosis entsteht ein tranceähnlicher Zustand. In diesem veränderten Bewusstseinszustand können die üblichen „Kontrollmechanismen“ entspannen. Dadurch haben wir einen offeneren Zustand. In der Psychotherapie ist das sonst ja oft das schwierige, dass Menschen sich überhaupt erst auf den Prozess einlassen können, weil sie Angst vor erneuter Verletzung oder Beschämung haben. Neue Erfahrungen oder eine Verhaltensveränderung sind dann nur schwer möglich. Durch das Ketamin werden negative und sich immer wiederholende, selbstbezogene Gedanken verringert.

Die Patient:innen erleben sich selbst anders. Sie begegnen ihren verschiedenen Persönlichkeitsanteilen mit mehr Offenheit, Neugier und Mitgefühl. Die Beziehung zu sich selbst wird gestärkt. So konnte eine Patientin mit starker Selbstwertproblematik nach einer Ketamininfusion sagen: „Ich bin gut, so wie ich bin.“ Eine andere Patientin, die Vernachlässigung in der Kindheit erlebt hatte, sagte nach wenigen Ketamininfusionen und Sitzungen: „Ich gebe mir selbst das Recht zu sein, wer ich bin. Es ist okay.“ Das Einnehmen einer neuen, anderen Perspektive wird ermöglicht. Es entsteht mehr Klarheit und Gelassenheit. Viele Patient:innen erleben auch mehr Leichtigkeit, Dankbarkeit, Verbundenheit und Zugehörigkeit. Oft findet eine Besinnung darauf statt, was einem wirklich wichtig ist im Leben.

Wie sieht die therapeutische Begleitung im Prozess aus?

Als Psychologin darf ich das Ketamin nicht selbst verabreichen, sondern arbeite mit Fachärzt:innen zusammen, welche die Ketamininfusion geben und überwachen. Sie führen das Vorgespräch und informieren über Indikation, Kontraindikation sowie Wechselwirkung mit anderen Medikamenten.

Die Ketaminsitzung wird therapeutisch vorbereitet, begleitet und nachgearbeitet. Das Ziel ist, dass die Patient:innen sich ganz sicher fühlen und loslassen können. Umso sicherer die Patient:innen sich im Prozess fühlen, desto mehr können sie loslassen und der Heilungsprozess kann sich entfalten.

Ich begleite den gesamten Prozess therapeutisch, auch die Ketamininfusion. Jeder Prozess sieht dabei anders aus: Manche Patient:innen sind während der Ketaminsitzung in einem inneren Prozess, haben die Augen geschlossen oder lassen sich von Musik leiten. Manche Patient:innen weinen heftig oder lachen auch. Das darf alles sein! Es geht darum, das nicht zu unterdrücken, sondern es zuzulassen, zu verarbeiten und zu integrieren.

Neben Beziehungsaufbau und Anamnese mache ich schon im Vorhinein ganz gezielt Körperübungen mit den Patient:innen. Dadurch sind sie in der Arbeit mit dem Körper vertrauter, verlieren Hemmnisse und haben auch Techniken an der Hand, die sie für sich anwenden können. Dazu gehören z. B. Klopftechniken und Self-Soothing-Techniques (bei denen Patient:innen sich selbst durch leichte Berührungen am Körper beruhigen können), aber auch Trauma Releasing Exercises und Atemübungen (z. B. langes Ausatmen). Es geht nicht darum, Gefühle durch Atmung zu regulieren, sondern sich durch etwas unangenehmes durchzuatmen (anstatt wie in einer traumatischen Situation den Atem anzuhalten). So kann Erlebtes prozessiert und auch integriert werden. Das Atmen darf auch gerne mit Stimme sein. Als Therapeutin begleite ich den Prozess, gehe in Resonanz, atme mit und gebe Hilfestellungen. Ein bisschen wie bei einer Geburt. Da muss man sich als Therapeut:in drauf einlassen und damit umgehen.

Zwei Frauen im psychotherapeutischen Gespräch. Die Patientin liegt auf der Couch, die Therapeutin sitzt neben ihr.

Für wen eignet sich ketamingestützte Psychotherapie? Und für wen nicht?

Die Behandlung von Depressionen mithilfe von Ketamin wird wissenschaftlich von vielen Studien gestützt (Feifel, Dadiomov & Lee, 2020; Phillips et. al, 2020; Zhang, Yao, Wang & Liu, 2020, Xiong et al., 2021). Wobei die nachgewiesene kurzfristige antidepressive Wirkung von Ketamin durch begleitende Psychotherapie auch langfristig gefestigt werden muss. Dabei hilft die durch Ketamin erhöhte Neuroplastizität, um Veränderungen zu bewirken.

Ketamin wenden wir auch bei Angst- und Zwangsstörungen an sowie bei PTBS (Feder et al., 2021). Auch bei der Behandlung von chronischen Schmerzen kann eine Ketamintherapie helfen. 

Patient:innen, die im Rahmen einer Psychose unter Halluzinationen leiden, dürfen nicht mit Ketamin behandelt werden, da die psychotischen Symptome verstärkt werden können.

Ketamin führt zu einem leichten Anstieg des Blutdruckes und des Augeninnendruckes. Deshalb müssen Patient:innen mit hohem Blutdruck oder grünem Star zunächst auf normale oder allenfalls leicht erhöhte Druckwerte eingestellt werden. Patient:innen mit koronarer Herzkrankheit sollten ebenfalls von der Behandlung absehen.

Wie reagieren Patient:innen auf das Angebot?

Durch das Ketamin bekommen viele Patient:innen eine neue Klarheit. Sie sehen aus ihrem erwachsenen, gesunden Selbst heraus z. B. das kleine verletzte Kind von damals und können Mitgefühl entwickeln. Verletzte Anteile werden nicht länger unterdrückt. Damit können wir dann auch nach den Ketaminsitzungen weiterarbeiten. Eine Frau hat zum Beispiel gesagt: „Vorher war alles fragmentiert und jetzt verbindet es sich“.

Frau sitzt niedergeschlagen mit verschränkten Armen und gesenktem Blick da.

Warum arbeitest du als Therapeutin so gerne mit Ketamin?

Erst mal vorweg: Es ist nicht für jede:n Patient:in die geeignete Methode. Und es braucht auch nicht jede:r! Aber für viele Patient:innen macht es diesen Prozess und auch Psychotherapie überhaupt erst möglich. Du hast wirklich was an der Hand, das es leichter macht. Es beeindruckt mich zu sehen, wenn Patient:innen, die vorher viele verschiedene Therapien und Psychopharmaka ausprobiert haben, endlich ihre Schmerzen und Verletzungen bearbeiten und integrieren können.

Auch andere bewusstseinsverändernde Substanzen werden immer mehr im therapeutischen Kontext erforscht. Welche Rolle werden Psychedelika deiner Meinung nach künftig in der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen spielen?

Ich habe 2017 auf der Internationalen Konferenz in Boston das erste Mal von der Therapie mit Psychedelika und Ketamin gehört. Neugierig geworden, habe ich mich v. a. in den USA weitergebildet. Dort wird das alles schon viel länger erforscht. Die ersten Forschungen gab es schon in der Zeit, bevor die Substanzen im Rahmen des US-amerikanischen War on Drugs in den 70er Jahren von Nixon verboten wurden. Das betraf nicht nur den Gebrauch, auch seriöse Wissenschaft wurde massiv erschwert. Psychedelische Substanzen wurden in dieselbe Schublade gesteckt wie z. B. Heroin, um die Proteste gegen den Vietnamkrieg und der Bürgerrechtsbewegung zu stoppen.

In den letzten zwei Jahrzehnten kam es zu einem erneuten Aufleben der psychedelischen Forschung. Mittlerweile boomt die Forschung zum Einsatz psychedelischer Substanzen in der Behandlung psychischer Erkrankungen.

Person mit blauen Handschuhen steckt mit einer Pinzette einen getrockneten Pilz in ein Glas.


Die Non-Profit-Organisation MAPS (Multidisziplinäre Vereinigung für Psychedelische Studien) um Rick Doblin forscht in den USA seit den 90er Jahren u. a. zu MDMA-gestützter Psychotherapie für die Behandlung von Patient:innen mit PTBS. In der neuen Studie, die 2021 in Nature veröffentlicht wurde, konnten Mitchell, Bogenschutz und Doblin zeigen, dass 67 % der PTBS-Patient:innen mit MDMA und begleitender intensiver Psychotherapie nach der Studie nicht mehr die Kriterien für die Diagnose erfüllten. Angesichts etwa zwei Drittel der PTBS-Patient:innen, die nicht auf andere Behandlungen ansprechen, ist das ein großer Erfolg.  Rick Doblin rechnet 2022/2023 mit der Zulassung von MDMA für die Behandlung von Patient:innen mit PTBS durch die FDA (U.S. Food and Drug Administration).

In Deutschland ist der psychotherapeutische Nutzen von Psychedelika und Ketamin noch wenig bekannt. Ketamin darf zwar im ambulanten Bereich als Off-Label-Therapie eingesetzt werden, wird aber noch nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. An der Charité Berlin wird zu psychedelischen Substanzen geforscht, z. B. zu Psilocybin – und das sieht sehr erfolgsversprechend aus. Die therapeutische Nutzung von psychedelischen Substanzen wird also auch hier in Deutschland kommen.

Vielen Dank für das Interview!

Über Frauke Nees:
Frauke Nees (Dipl.-Psych.) integriert in der Arbeit mit ketamingestützter Psychotherapie Hypnose, körperorientierte Methoden, IFS (Teilearbeit) sowie Bindungsbasierte Therapie, um neue Erfahrungen zu ermöglichen und unverarbeitete Erinnerungen zu integrieren. Sie hat sich auf (komplexe) PTBS spezialisiert und sich in den USA weitergebildet bei Bessel van der Kolk sowie bei Polarisinsight in San Francisco, HealingRealmsCenter in San Francisco und Phil Wolfson (Ketamin Training Center). Mehr Informationen findest du auf www.frauke-nees.de/ und https://ketaminplus.com/behandlungen/ketamintherapie

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