Wer bin ich? Fototherapeutische Ansätze zum Thema Selbstbild
Fotografie ist allgegenwärtig. Jeder kann heutzutage mit seinem Smartphone oder Tablet ein gutes Bild machen. Die Hemmschwelle vor dem Medium Fotografie scheint gering. Gerade deshalb eignet es sich gut für den Einsatz in der Therapie, da es nicht mit künstlerischem Know-how gleichgesetzt wird.
Fototherapie kann einen gestalterisch-künstlerischen Prozess anstoßen, der ein Problem nonverbal zum Thema macht. Es ist ein gutes Hilfsmittel, um internalisierte Erfahrungen nach außen zu bringen und sie für sich und andere zu visualisieren oder um gute Erfahrungen festzuhalten und so besser verinnerlichen zu können.
Fotografie kann sich aber auch mit der Frage nach dem Selbst auseinandersetzen, nach der zentralen Frage: „Wer bin ich?“ Durch Fototherapie können wir uns unserer Sicht auf uns selbst bewusst werden und der - oft völlig konträren - Sicht der anderen. Mittels verschiedener Fototechniken können wir uns im Raum positionieren. Dabei sind Fragen wie: „Wieviel Raum habe ich, steht mir zu?“ wichtig oder „Wieviel Platz nehme ich ein oder hätte ich gerne?“ In Selbst- und Fremdportraits können Klienten ihrer persönlichen Identität nachgehen. Dieser therapeutische Prozess eröffnet ihnen neue Sichtweisen auf sich und andere.
Fototherapie hat zwei Ansätze: rezeptiv und aktiv. Die rezeptive Fototherapie bezieht sich vorwiegend auf die Vergangenheit des Klienten. Therapeut und Klient betrachten Bilder, sie arbeiten mit vorhandenem Bildmaterial. Die aktive Fototherapie dagegen ermutigt zum Spiel als Akteur oder Subjekt; sie nimmt eher Bezug auf Gegenwart und Zukunft.
Rezeptive Fototherapie: Blick in die Vergangenheit
Rezeptive Techniken eignen sich besonders als Einstieg in fototherapeutische Prozesse. Der Therapeut kann beispielsweise einen Pool von Bildern mitbringen, aus denen sich der Klient dann eines auswählt. Wichtig dabei ist, dass er intuitiv entscheidet, ohne es kognitiv voll erfassen zu können oder seine Entscheidung rational begründen zu müssen. Das ausgewählte Bild hat immer auch mit ihm selbst und seiner aktuellen oder vergangenen Situation zu tun. Das darin verborgene Thema kann man dann in der Therapie erforschen.
In der Biografiearbeit mit persönlichen Schnappschüssen können Klienten ihre Lebensgeschichte anhand mitgebrachter Fotos nacherzählen und versuchen, neben den sichtbaren auch die emotionalen Seiten dieser Bilder zu entdecken. In einem zweiten Schritt kann der Klient die Bilder fotografisch einbinden, sie nachstellen oder in Dialog zu anderen Bildern und Erlebnissen setzen, sie verfremden, um neue Geschichten mit oder aus ihnen zu formen. Diese spielerische Bearbeitung der individuellen Lebensgeschichte fördert die Persönlichkeitsentwicklung, Selbstständigkeit und Eigenaktivität des Klienten. Biografische Arbeit ist sehr vielfältig einsetzbar und kombinierbar. Sie ist sehr hilfreich sowohl bei der Verarbeitung, als auch bei der Reflexion eigener Lebenserfahrungen.
Aktive Fototherapie: Augenblick und Ausblick
In Gruppenprozessen oder in der Einzelarbeit mit dem Therapeuten kann der Klient spielerisch in verschiedene Rollen schlüpfen. Er kann fotografieren (handeln), fotografiert werden (geschehen lassen) oder dem Prozess als Zuschauer beiwohnen.
In meinen Selbstportrait-Workshops arbeite ich in kleinen Gruppen mit zwei bis maximal acht Teilnehmern. Das hat den Vorteil, dass die Klienten sich gegenseitig fotografieren bzw. sich in Übungen auch mit Stativ und Selbstauslöser selbst portraitieren können.
Anfangs liegt mein Fokus auf einem experimentell spielerischen Ansatz. Die Klienten fotografieren sich gegenseitig. Es entstehen Portraits mit langen Belichtungszeiten von 1/4 bis 1 Sekunde. Oft trifft diese Methode zunächst auf Verwunderung, da alle Bilder unscharf werden. Ich ermutige zu Bewegung und Experiment. Dadurch entsteht ein sehr lebendiger Raum, der keine Fehler kennt. Die so entstandenen Portraits haben etwas Flüchtig-Wesenhaftes – ähnlich einer Idee, die nach einer kurzen Begegnung mit einem fremden Menschen bleibt, festgehalten im Bild. Es entspricht einem Erstkontakt mit einem uns unbekannten Wesen. Und dennoch bildet das Foto etwas ab, hält einen Teil fest, der zu diesem Menschen gehört – einen Charakterzug, der ihm bekannt ist, vielleicht aber auch verborgen oder verschüttet war. Dieses amateurhafte, dem Zufall überlassene Fotografieren arbeitet mit Konstruktion/Dekonstruktion, es spielt mit Fragmenten, Elementen, Farben und Formen. Wichtig ist für mich hier vor allem der Erstkontakt, das In-Beziehung-Treten zu den anderen und die spielerische Lebendigkeit. Die Klienten bekommen das Gefühl, wertfrei angenommen zu sein.
Möglich ist auch ein Fototherapie-Einstieg über die Malerei. Ein selbstgemaltes, großes Bild wird zum Hintergrund für ein Portrait. Der Klient darf sich Farben aussuchen, die zu seinem aktuellen Gefühlszustand passen oder ihm guttun. Wichtig ist, dass er versucht, aus seinem Körperempfinden heraus zu malen und den Malprozess nicht durch bewusstes Denken oder Sehen zu kontrollieren. Ein abstraktes oder gegenständliches Werk entsteht, das bereits einen Ausdruck eines Teils der Innenwelt des Klienten darstellt. Gemalt wird, wenn möglich an der Wand im Stehen.
Die entstandenen Gemälde werden in der Gruppe in einer Abschlussrunde besprochen. Oft schildern Klienten, wie herausfordernd es war, vor diesem riesigen leeren Blatt zu stehen, wie gut es war, ermutigt zu werden, einfach loszulegen ohne Idee oder Plan und darauf vertrauen zu können, dass ein Bild entstehen wird. Viele Klienten beschreiben es als neuen und besonderen Zugewinn, ohne Leistung großformatig malen zu dürfen und binnen kurzer Zeit etwas erschaffen zu können.
Das Thema Selbstbild ist sehr vielseitig. Für mich ist ein Abbild eines Menschen nicht nur das klassische Portrait. In meinen Workshops schaffe ich über experimentelle Ansätze einen Einstieg, der Bindung und Vertrauen schafft, um dann zum Selbstbild überzuleiten. In der Selbstportrait-Erfahrung sind wir das Subjekt unserer Kunst. Vor der Kamera sind wir mit unserer verletzlichsten Seite in Kontakt und der innere Dialog, der da stattfindet, ist ähnlich zu dem inneren Prozess in einer Therapie: Selbstwahrnehmung, Selbstbefragung, Beurteilung, Nachdenken, Akzeptanz.
Selbsterkenntnis durch Fremdwahrnehmung
In einem weiteren Selbstbild-Projekt dürfen sich die Klienten gegenseitig fotografieren. Ein Ziel dabei kann sein, dass sich der Klient in einer neuen, differenzierteren Form sehen lernt als er es bisher gewohnt war. Das kann Selbsterkenntnis fördern und zum Hilfsmittel für eine innere Änderung werden.
In Zweiergruppen erarbeiten sich die Klienten ihr jeweils stimmiges Selbstportrait. In einer Abschlussrunde schauen wir die Bilder gemeinsam an. Wichtig ist, dass der Therapeut sehr empathisch begleitet und offen anspricht, dass es in Ordnung ist, wenn Klienten ihre Bilder nicht in der Gruppe zeigen möchten.
Dieses Portrait – als Blick des anderen auf uns – ist dann in einem zweiten Schritt Vorlage für eine malerische Umsetzung eines überlebensgroßen Selbstbildes. Diese Herangehensweise kann zweifach einen neuen Blick des Klienten auf sich selbst eröffnen. Im Fotografiert-Werden kann der Klient sich ganzheitlicher sehen, er lernt zwischen Realität und Subjektivität zu unterscheiden. Im anschließenden Malprozess steht sich der Klient selbst gegenüber, sein Abbild ist mittels Beamer auf ein Papier (2 x 1,50 m) projiziert. Der Klient malt die Konturen mit Bleistift ab, die Umsetzung erfolgt in Acryl. Dieses großformatige Arbeiten ermöglicht Großzügigkeit – auch sich selbst gegenüber, mit wenig Platz für kleinteilige Kritik.
Der Therapeut kann den Kontakt des Klienten mit seinem inneren Wesenskern anregen, indem er den Klienten auf die verschiedenen Anteile oder Facetten in sich hinweist. Er kann den Klienten ermutigen, diese Verbindung aufrechtzuerhalten, einverstanden zu sein mit allem, was ist, und all seine Gefühle anwesend sein zu lassen.
Indikation und Kontraindikation
Fototherapeutische Arbeit regt Erinnerungen, Wünsche, Sehnsüchte und Visionen an. Sie kann bei Rehabilitation und Nachsorge genauso eingesetzt werden, wie bei schweren Störungen oder leichten psychosomatischen Beschwerden.
Kontraindikationen von Fototherapie gibt es so gut wie keine. Aktive fototherapeutische Prozesse eignen sich weniger für Schmerzklienten oder für Menschen nach Operationen. Aber hier kann man auf rezeptive fototherapeutische Methoden zurückgreifen.
Bei neurasthenischen Persönlichkeiten sollte mehr der spielerische Aspekt fototherapeutischer Methoden im Vordergrund stehen, bei eher histrionischer Konstitution sollte der Therapeut beruhigende Fototechniken wählen, die nicht zu sehr überfordern.