Wie dir ein Wechsel der Perspektive im Berufsalltag nützen kann
Ist man therapeutisch oder beratend tätig, ist es wichtig, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht aus dem Blick zu verlieren, sich gleichzeitig aber auch auf die Patienten und Klienten einzustellen und öfter mal die Perspektive zu wechseln.
Wenn sich eine Person eine neue Strategie aneignen oder eine bestehende weiter ausdifferenzieren will, so tut sie dies in der Regel aus einem bestimmten Grund, d.h. die neue Strategie soll einen Zweck erfüllen, den bisherige Umgangsweisen nicht oder nicht ausreichend erfüllt haben. Im Alltag - und vor allem auch im beruflichen Alltag von Psychotherapeuten und Coaches - ist unsere Aufmerksamkeit häufig auf das Erkennen der Bedürfnisse anderer Personen (z.B. der Hilfesuchenden) ausgerichtet. Um für sich entscheiden zu können, an welchen Stellen eine Erneuerung oder Erweiterung von Strategien erforderlich ist, braucht es jedoch auch Aufmerksamkeit für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Und zwar eine Art der Aufmerksamkeit, die am ehesten mit „Gespür“ in die Umgangssprache zu übersetzen ist - ein Gespür, wie es sich aus bindungstheoretischer Sicht z.B. in längerfristigen, engen zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt. Wir „tunen“ uns aufeinander ein, ähnlich wie eine Mutter sich vor allem in der präverbalen Phase auf ihr Kind „eintunt“. In der psychologischen Umgangssprache nennen wir es auch „Mitschwingen“ oder fachsprachlich „Resonanz“.
Um die Praxis der Achtsamkeit in den eigenen, beruflichen und privaten Alltag auf gesundheitsfördernde Weise zu integrieren, braucht es also auch diese Art Resonanz mit uns selbst. Und gleichzeitig wird diese durch die Anwendung der Achtsamkeit gefördert: Ich verbessere meine Bindung zu mir selbst.
Erkenntnis erlangen durch den Wechsel der Perspektive
Auch wenn wir unsere eigene subjektive Wahrnehmung nie gänzlich verlassen können, existieren dennoch verschiedene Perspektiven, die wir einnehmen können.
Unter der Perspektive der ersten Person verstehen wir das ganz eigene subjektive Erleben, das nur uns selbst zugänglich ist. In der Achtsamkeitspraxis üben wir diese Perspektive mit dem „reinen“ Beobachten ohne objektive sprachliche Begriffe und fernab sozialer Konventionen, Erwartungen und Verpflichtungen. Ziel ist unter anderem eine heilsame Selbst-Gewissheit: Ich als vertraute Person nehme mich bewusst-achtsam in meiner Gesamtheit mitsamt meiner (angeblich objektiven und allgemeingültigen) „Schwächen“ und „Fehler“ anerkennend wahr.
Die Zweite-Person-Perspektive entsteht in der Begegnung zweier Menschen auf einer Ebene, wenn man sich direkt aufeinander einstellt - mit möglichst wenig objektiven sprachlichen Festlegungen und Kategorisierungen. Ich stimme mich mit meiner Aufmerksamkeit immer wieder auf mein Gegenüber ein und spüre mich so in ihn hinein, dass ein gemeinsames harmonisches Ganzes entsteht. Es kann nicht mehr abgegrenzt werden, was Aktion und Reaktion ist, wie zum Beispiel bei einem Partnertanz.
In der Achtsamkeitspraxis ist die Dritte-Person-Perspektive durch objektivierende Distanzierung und/oder sprachliche Benennung gekennzeichnet. Das erlebte Hier und Jetzt wird durch sprachliche Begriffe etikettiert und in Bezug zu sozialen Regeln und Konventionen gesetzt. Diese Distanzierung zur Ersten-Person-Perspektive kann hilfreich sein, wenn in der Ersten-Person-Perspektive zum Beispiel sehr intensive und belastende Emotionen vorherrschend sind. Ziel entsprechender Achtsamkeitsübungen kann darüber hinaus die Entwicklung von „Erkenntnis“ sein: in Zusammenhänge des eigenen Erlebens Einsicht erlangen.
Sowohl Erste-, Zweite- und Dritte-Person-Perspektive sind im Rahmen der Achtsamkeitsübungen möglich und sinnvoll. Achtsamkeit kann es ermöglichen, überhaupt zu erkennen, welche Perspektive gerade im Erleben vorherrschend ist. Dadurch ist auch eine bewusstere Wahl der Perspektive und ein Wechsel zwischen den Perspektiven leichter möglich.
Achtsamkeitsübung
Am Wochenende beobachtete ich eine Interaktion zwischen einer Mutter und ihrer kleinen Tochter während eines Ballspiels. Dem Mädchen bereitete es unwahrscheinlich viel Spaß, den Ball so zu werfen, dass die Mutter trotz Strecken, Laufen und Springen kaum eine Chance hatte, diesen zu fangen. Vielmehr war sie die meiste Zeit damit beschäftigt, den Ball zu suchen, ihn vorm Hinunterrollen eines Abhangs zu bewahren oder ihn schlicht zurückzuholen, um das Spiel mit ihrer Tochter wieder aufnehmen zu können. Es gab also keinen flüssigen Ballwechsel. Die Mutter, die sich an dieser Art der Beschäftigung nicht allzu lange erfreuen konnte, aber dennoch das Spiel mit ihrer Tochter aufrechterhalten wollte, gab ihr sinngemäß folgende Instruktionen: „Versuch, dich in mich hineinzuversetzen. Das wird dir helfen, herauszufinden, wie du den Ball werfen musst, damit ich ihn fangen kann. Stell dir vor, du willst ihn mir zum Geschenk machen.“ Erstaunlich zeitnah zu dieser Anleitung begann ein Spiel, in dem der Ball nahezu ständig in der Luft blieb. (Die wenigen Ausnahmen, in denen der Ball noch zu Boden fiel, freuten die Tochter weiterhin.)
Wenn du Kinder hast, dann probiere genau diese Übung mit ihnen aus. Leite sie in der beschriebenen Weise mit deinen ganz eigenen Worten an. Beachte im Spiel gleichzeitig, wie du selbst dich auf dein Kind einstimmst, seine Fähigkeiten abschätzt, versuchst zu erfühlen, welches die günstigste Flugbahn ist, um die Auge-Hand-Koordination deines Kindes nicht zu überfordern, wann es vielleicht zur Erheiterung im Spiel erforderlich ist, einen Ball selbst mal nicht zu fangen und wann eine Motivationshilfe durch lobende Worte angebracht ist. Nimm also wahr, auf welche Weise es dir gelingt, dich in die Perspektive deines Kindes hineinzuversetzen und so mit ihm in ein aufeinander abgestimmtes Spiel zu kommen.
Auch mit einem erwachsenen Partner ist dies spielerisch möglich. Du kannst euch alternativ auch ein Musikstück auflegen und versuchen, die dabei bei deinem Partner entstehenden Bewegungsbedürfnisse zu erspüren, dich auf sie einzulassen und so ohne Tanzlehrer oder standardisierte Schrittkombinationen in einen gemeinsamen Tanzschritt zu kommen.
Achtsamkeitsübung für den Praxisalltag
Diesen Wechsel der Perspektive kannst du direkt im Rahmen deiner helfenden Tätigkeit ausprobieren:
Ein guter Weg dafür ist, für einige Momente über das Gesagte „hinwegzuhören“ und anhand der Gestik, des Atemrhythmus, der Körperhaltung, der Tonart usw. herauszufinden, was das tatsächliche Bedürfnis ist. Ist es im Moment tatsächlich das Bedürfnis des Patienten bzw. Klienten, deine Änderungsvorschläge kennenzulernen, die dir vielleicht schon auf den Lippen liegen? Oder braucht er vielleicht erst einmal Anerkennung dafür, dass er es bis hierher aus eigenen Kräften geschafft hat, und das nicht einmal schlecht? Oder braucht er vielleicht erst einmal einen Raum, seine Erschöpfung, seine Enttäuschung etc. erleben und teilen zu dürfen?
Beobachte, wie es dir mit dieser Art des Erfahrens deines Gegenübers geht und welchen Einfluss die gewonnenen Erkenntnisse auf den weiteren Gesprächsverlauf und die therapeutische Beziehung haben.
Austausch mit Kollegen
Teile deine Erfahrungen mit Kollegen. Das kann sie dazu ermutigen, die Übung selbst auch einmal auszuprobieren. Denn aus meiner Erfahrung in den Kursen besteht bei einigen Teilnehmern eine Hemmschwelle, diese Art der Übung sofort im Alltag der helfenden Tätigkeit umzusetzen.
Wenn es dir auch so geht, dann probiere diese Art der Übernahme der Zweite-Person-Perspektive erst einmal im privaten Umfeld aus. Auch hier ist es durchaus spannend, die Effekte auf dich selbst, auf das Gegenüber und den Gesprächsverlauf zu beobachten.
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Gerhard Zarbock und Silka Ringer.
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