Helfen digitale Anwendungen, die Versorgung zu verbessern?

Frau mit Laptop auf den Knien sitzt auf einer Fensterbank

Lange Wartezeiten, Frust und Resignation. Die ohnehin schon überlastete psychotherapeutische Versorgung ist seit Corona am Limit. Apps, Videokurse und Co sind gefragter denn je. Können sie helfen, die Versorgung zu verbessern? Wir haben mit Patricia Dieterle von Selfapy über die aktuelle Situation gesprochen - und darüber, was sich zukünftig ändern muss.

Patricia, was geht dir durch den Kopf, wenn du die aktuelle psychotherapeutische Versorgung in Deutschland siehst?

Ich denke, das ist ein Trauerspiel. Der extreme Versorgungsengpass durch zu wenig Kassensitze macht mich oft sehr betroffen. Die Bedarfsplanungsrichtlinie ist nicht mehr auf den Bedarf angelegt, den wir heute haben. Es wird sich an einem alten Maßstab orientiert. Es gab zwar eine Anpassung der Bedarfsplanungsrichtlinie und es wurden auch neue Kassensitze geschaffen, aber das ist trotzdem viel zu wenig hinsichtlich der gestiegenen Nachfrage. Wenn ich mich mit den Patient:innen, die zu uns in die Ambulanz kommen, unterhalte, bekomme ich mit, dass es oft ein halbes Jahr dauert, bevor sie einen Platz für eine Psychotherapie finden. Vor Corona ist die Prävalenz für psychische Störungen relativ stabil geblieben, aber durch Corona ist ein Anstieg der Prävalenzen zu erwarten. Was das auch langfristig für die Versorgung bedeutet, wenn wir jetzt schon so einen Engpass haben, das mag ich mir gar nicht ausmalen.

Porträt von Patricia Dieterle, sie schaut in die Kamera und lächelt.

Welche Auswirkung hat das für die Patient:innen?

Zum einen natürlich die langen Wartezeiten und zum anderen, dass es eine erhebliche Frustration und auch Resignation bewirkt. Wenn ich mir vorstelle, ich habe eine depressive Episode, dann würde ich das nicht schaffen, mich darum zu kümmern, eine Liste an Psychotherapeut:innen abzutelefonieren. Dann wäre ich relativ schnell frustriert und würde wahrscheinlich aufgeben. Wenn jemand in einem gewissen Zeitraum keine adäquate Hilfe bekommt, besteht ja auch die Gefahr, dass eine Chronifizierung der Symptomatik erfolgt.
 

Sind auch für behandelnde Psychotherapeut:innen Auswirkungen spürbar?

Die Auslastung ist sehr hoch. Das erhöht auch den Druck auf unsere Tätigkeit. Man will helfen und ist vielleicht verführt, noch mal mehr Patient:innen aufzunehmen als es für die eigene Psychohygiene gut wäre. Mir tut das jedes Mal weh, Patient:innen wegschicken zu müssen.
 

Inwieweit können digitale Anwendungen helfen, die Versorgungslücke zu schließen?

Digitale Anwendungen können als Überbrückung der Wartezeit auf jeden Fall sinnvoll sein. Sie sind auch eine gute Möglichkeit, präventiv einzuwirken, also wenn jemand vielleicht noch nicht erkrankt ist oder eine leichte Symptomausprägung hat. Ich finde digitale Anwendungen auch zur Nachsorge gut: Ich erlebe immer wieder, dass Patient:innen begeistert sind, wenn sie aus der Klinik kommen oder schon eine Psychotherapie gemacht haben und die Inhalte noch mal festigen können. Digitale Anwendungen sind ohne Hemmschwelle und anonymer. Dadurch können digitale Anwendungen generell helfen, sich an die Thematik heranzutasten, also erst mal zu schauen, liegt mir das überhaupt. Vielleicht möchte ich mich erst mal informieren, bevor ich mich dazu entschließe, in eine Face-to-Face-Therapie zu gehen.

Frau sitzt auf einer Bank in einer großen, weißen Halle.

Können digitale Angebote eine Face-to-Face-Psychotherapie ersetzen?

Das hängt immer davon ab. Ich kann mir vorstellen, dass sie gerade bei einer leichten Symptomatik hilfreich sind und eine Face-to-Face-Therapie teilweise auch ersetzen können. Ich denke aber, sobald das mehr in die Richtung mittelschwere Symptomatik geht, sind die digitalen Angebote nicht das Mittel der Wahl. Da würde ich auch als angehende Psychotherapeutin immer dafür plädieren, zusätzlich eine Face-to-Face-Therapie zu machen.
 

Welche Art von digitalen Anwendungen gibt es aktuell eigentlich auf dem Markt?

Es gibt tatsächlich recht viele Angebote, von Apps über Onlinetherapieprogramme, Behandlung per Video, Telefonate oder Chat- bzw. Emailverlauf. Es gibt auch Online-Selbsthilfeprogramme mit oder ohne psychologische Begleitung. Viele Krankenkassen nutzen das mittlerweile auch für sich und bieten selbst Programme für ihre Versicherten an.
 

Das klingt nach einer ganzen Bandbreite. Wie können sich Patient:innen da orientieren?

Man kann im Rahmen des digitalen Versorgungsgesetztes in das Bfarm-Verzeichnis schauen. Dort gibt es ganz klare Richtlinien, an die sich die Anbieter halten müssen, sonst bekommen sie die Zertifizierung nicht. Einige unserer Selfapy-Kurse sind grade vorläufig aufgenommen und da werden wir wirklich auf Herz und Nieren geprüft. Nur die besten werden langfristig in das Verzeichnis aufgenommen.

Man muss natürlich als Patient:in auch schauen, was die eigene Präferenz ist: Reicht mir eine App, möchte ich einen Onlinekurs machen oder ist es mir wichtig, dass ich einen persönlichen Kontakt habe?

ipad liegt auf Blumendecke. Auf dem Bildschirm ist zu lesen: "Mental Health matters"

Für wen eignen sich digitale Angebote?

Ich glaube, sie eignen sich z. B. für Menschen, die Angst vor einer Stigmatisierung haben. Psychisch Erkrankte werden immer noch stigmatisiert, auch wenn in den letzten Jahren viel Akzeptanz und Offenheit dafür geschaffen wurde. Ich erlebe das immer noch, dass Menschen sich dafür schämen, wenn es ihnen mental nicht gut geht. Und es kann hilfreich sein, sich dann langsam an das Thema herantasten zu können. Auch für Menschen, die im ländlichen Raum leben, für die es schwierig sein kann, in eine psychotherapeutische Praxis zu fahren, können digitale Angebote geeignet sein. Oder für Menschen, die eine körperliche Erkrankung oder schwere Angststörung haben und deswegen das Haus nicht verlassen können. Sie können digital oftmals besser erreicht werden. Ältere Menschen verlassen auch häufig ihr Haus nicht mehr so oft, aber da muss man natürlich darauf achten, welches Programm sich eignet und ob sie das technisch hinbekommen. Ich habe aber schon erlebt, dass das gut klappen kann.
 

Kann es sinnvoll sein, als niedergelassene:r Psychotherapeut:in Patient:innen zu digitalen Angeboten zu beraten, z. B. wenn absehbar ist, dass eine längere Wartezeit entsteht?

Auf jeden Fall. Da müssen wir auch noch mehr Aufklärungsarbeit leisten, damit Hausärzt:innen, Psychotherapeut:innen und Psychiater:innen, wissen, dass digitale Angebote auch dafür da sein können, Wartezeiten zu überbrücken. Letzte Woche wurde der DiGA-Report veröffentlicht und da kam heraus, dass nur 4% der Ärzt:innen in Berlin (7.000 von 180.000) wissen, was eine DiGA (also eine digitale Gesundheitsanwendung) überhaupt ist. Es ist so wichtig, dass da mehr aufgeklärt wird!
 

Für wen sind digitale Angebote eher nicht geeignet?

Ich glaube, für Menschen, die weniger technikaffin sind oder die Schwierigkeit haben, sich selbstständig Inhalte innerhalb einer App zu erarbeiten. Ich würde auch davon abraten bei zu schwerer Symptomatik, z. B. bei akut suizidalen Personen. Da können digitale Angebote einfach die Sicherheit nicht gewährleisten. Ansonsten gibt es eigentlich nicht allzu viele Ausschlusskriterien.

Mann und Frau sitzen auf Sesseln in einem Wartezimmer und schauen auf ein Tablet.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Was wünschst du dir für die psychotherapeutische Versorgung in 5 Jahren? 

Ich würde mir wünschen, dass die Bedarfsplanung angepasst wird. Ich würde mir wünschen, dass mehr Kassensitze geschaffen werden und dass es für angehende Psychotherapeut:innen nicht so schwierig ist, da rein zu kommen. Ich wünsche mir, dass dadurch eine kürze Wartezeit entsteht. Ich wünsche mir, dass jede psychisch erkrankte Person die adäquate Hilfe bekommt, die sie oder er benötigt - in einem annehmbaren Zeitraum. Es kann nicht sein, dass Patient:innen so lange warten müssen! Dann würde ich mir wünschen, dass es noch mehr Aufklärung gibt, um der Stigmatisierung weiter entgegenzuwirken - und Aufklärung darüber, wie und wo Betroffene schnell Hilfe finden können.

Es gibt aktuell viele unterschiedliche Portale und Webseiten. Es ist absurd, dass es nicht eine Plattform gibt, wo das alles gebündelt wird. Ich würde mir wünschen, dass das irgendwo zusammenfließt, damit Betroffene in ein bis drei Klicks finden können, wo sie gerade am schnellsten Hilfe bekommen. Dann würde ich mir wünschen, dass digitale Anwendungen ausgebaut und mehr in die herkömmliche Psychotherapie eingebunden werden, z. B. in Form von Videotherapie. Das war im Rahmen der Coronamaßnahmen etwas Neues und es soll – Stand heute – ja nicht im bisherigen Umfang verlängert werden. Dagegen gibt es mittlerweile im Übrigen eine Petition.
 

Also ein bedarfsgerechter Blumenstrauß an Angeboten, die gleichzeitig irgendwo gebündelt sind, um die Orientierung zu erleichtern…

Genau, denn das fehlt. Patient:innen sollten die Möglichkeit haben, sich schnell und einfach informieren zu können, wohin sie sich wenden können. Das ist sonst richtig schwierig herauszufinden.
 

Was würdest du gerne den psychotherapeutischen Kolleg:innen noch mitgeben wollen?

Ich würde gerne die Begeisterung und Neugierde mitgeben, Entwicklungen und Innovationen, die es bereits gibt, zu betrachten und zu verfolgen, wohin es geht.

Vielen Dank für das Interview!

Über Patricia Dieterle
Patricia Dieterle ist Psychologische Psychotherapeutin i. A. und Teamleiterin der Kurs-Psycholog:innen bei Selfapy. Bereits neben ihrem Klinikjahr begann sie dort als Freelancerin zu arbeiten und hat inzwischen mehrere Jahre Erfahrung im Bereich der digitalen Versorgung. 2023 steht ihre Approbation an.