„Wir haben gehofft, Corona sei ein vorübergehender Schrecken“

Junge Frau steht vor einer Scheibe, und schaut nach drinnen, wo eine ältere Frau steht. Beide berühren mit ihrer Hand die Scheibe.

Die vierte Welle ist da - und nach zwei Jahren Pandemie machen sich Erschöpfung und Desillusionierung breit. Wir haben mit Prof. Dr. Robert Bering gesprochen, der sich seit Beginn der Pandemie mit den psychischen Belastungen beschäftigt. Welche biopsychosozialen Faktoren spielen eine Rolle? Und welche Herausforderungen kommen noch auf uns zu?

Seit knapp zwei Jahren prägt Corona unseren Alltag. Herr Bering, Sie haben sich schon sehr früh mit den psychischen Belastungen beschäftigt. Wie wirkt sich die Pandemie auf die psychische Gesundheit aus?

Zu Beginn der Corona-Krise konnten wir natürlich nur Vermutungen anstellen. Mittlerweile können wir sagen, dass die psychosoziale Belastung durch die Pandemie mit deutlichen psychischen Symptomen einhergeht, wie Depressionen, Ängsten oder Zwängen. Es spricht aber auch viel dafür, dass dies vor allem spezifische, vulnerable Gruppierungen betrifft. Wir haben also eine Veränderung im allgemeinen Bevölkerungsschnitt, der durch vulnerable Gruppierungen geprägt wird.

Welche Gruppen sind besonders betroffen?

Wir denken an alleinerziehende Frauen und Männer, ältere Menschen, Kinder, einkommensschwächere Gruppen oder solche, die dadurch einkommensschwach geworden sind, sowie Menschen mit psychischen und/oder körperlichen Erkrankungen, die eine gewisse Grunddisposition mitbringen. Wir fassen das als Risikofaktoren zusammen. Diesen Risikofaktoren stehen sicherlich auch Schutzfaktoren gegenüber (z. B. Sicherheit des Arbeitsplatzes, starkes familiäres Umfeld, guter allgemeinmedizinischer Zustand). Da diese Faktoren in Wechselwirkungen treten, haben wir sehr unterschiedliche Verläufe.

Wir orientieren uns hier am bio-psycho-sozialen Modell. Das heißt, wir sehen die biomedizinischen Herausforderungen, die in so einer viralen Epidemie natürlich besonders dominant sind. Welche Auswirkungen haben diese biomedizinischen Herausforderungen auf die Psyche, die Psyche wiederum auf das Soziale bzw. welche Wechselwirkungen ergeben sich? Der Kontext einer Pandemie mit Lockdown ist ein vollkommen anderer als das Leben, das wir vor der Pandemie gewohnt waren.

Frau liegt in Krankenhausbett und bekommt Sauerstoff.


Hinsichtlich der besonders betroffenen Gruppen beschreiben wir in diesem Modell vier Dynamiken: Letale Bedrohung, wirtschaftliche Existenznot, Isolation und Befürchtungsdynamiken. Bei der letalen Bedrohung sehen wir solche Menschen, die akut von Tod bedroht sind, sowie deren Angehörige. In der zweiten Gruppe sind Menschen, die von wirtschaftlicher Existenznot betroffen sind. Das können gerade Menschen sein, die vor der Pandemie keine wirtschaftlichen Sorgen hatten, z. B. Menschen im Hotel- oder Restaurantgewerbe. Dann haben wir Gruppierungen, die von der Isolation in den Lockdowns oder durch Schulschließungen stark betroffen sind, z. B. Familien mit Kindern. Und bei den Befürchtungsdynamiken denken wir an Menschen, die auf Grund innerpsychischer Mechanismen mit besonderen Befürchtungen auf drohende Infektionen, Impfungen, Einschränkungen oder Verluste reagieren.

Welche Hilfestellungen gibt es, z. B. aus psychotherapeutischer Sicht?

Wissen reduziert Befürchtungen. Wir folgen damit Kenntnissen, die wir aus der psycho-sozialen Notfallversorgung gewonnen haben. Impfungen, Testen und Kontaktbeschränkungen schützen uns. Was wissen wir darüber hinaus zum Beispiel über Möglichkeiten, körperliche oder soziale Distanzierungen zu überwinden? Daraus ergeben sich Strategien, die uns helfen, mit den Konsequenzen von Kontaktbeschränkungen umzugehen.

Aus Sicht der Psychotherapie können wir spezifische, der Pandemie angepasste Interventionen entwickeln, die wir an die vier beschriebenen Dynamiken anlehnen. Bei der letalen Bedrohung können wir z. B. viel lernen von der Begleitung schwerstkranker Personen oder aus Hospizen. Bei der Isolation ist die Herausforderung, wie wir bei körperlicher Distanz trotzdem soziale Nähe erzeugen können. Der Begriff „social distancing“ ist da etwas unglücklich, weil es um die körperliche Distanz geht, die aber über Digitalisierung und technische Hilfsmittel überwunden werden kann. Bei der Befürchtungsdynamik, die uns in unterschiedlichen Gradienten alle betrifft, lassen sich Verknüpfungen schaffen zu dem, was wir aus der allgemeinen Psychodynamik wissen: Welche generellen Konfliktpaare bestimmen unser Leben (zum Beispiel Individuation vs. Abhängigkeit oder Unterwerfen vs. Kontrolle)? Wie bewegen sich diese Grundkonflikte und welche Varianten entwickeln sich in pandemischen Lagen?

Wir brauchen aber ganz andere Strategien, wenn es um die reale wirtschaftliche Existenzangst geht. Da ist die Psychotherapie als solche eher sekundär. Stattdessen brauchen wir klare Hilfestellungen vom Staat, um reale wirtschaftliche Tiefschläge zu überwinden.

Vater und Sohn radeln auf einer Landstraße entlang.

Was kann darüber hinaus jede*r Einzelne für die eigene Resilienz tun?

Impfungen, testen, Abstand und Begrenzungen sozialer Kontakte haben eine zentrale Bedeutung bei der Eindämmung der Pandemie. Wir sollten aber auch das allgemeine Gesundheitsverhalten hinterfragen. Wie kann ich meine Abwehr z. B. durch bewusste Ernährung, Bewegung, Gewichtsreduktion oder die Einnahme von Vitamin D stärken?

Aus psychotherapeutischer Sicht kann sich jede*r mit den beschriebenen Dynamiken auseinandersetzen: Fühle ich mich isoliert, letal oder wirtschaftlich bedroht? Welche konkreten Befürchtungen habe ich? Wie können mir digitale Medien helfen, körperlichen Abstand zu überwinden?  Wie reagiere ich auf Bewegungseinschränkungen? Wie kann ich auf wenig Raum dennoch für ausreichend Bewegung sorgen? Was kann ich für die Umstellung des Familiensystems tun? Welche neuen Konflikte ergeben sich z. B. daraus, dass alle in Zeiten des Lockdowns zuhause arbeiten? Und wie schaffe ich bei dieser erhöhten sozialen Dichte neue Abgrenzungslinien? Wie gehe ich mit dem Alltag um? Wie hell ist meine Wohnung? Gestalte ich meine Räumlichkeiten um und lasse mehr Licht rein? Was kann ich praktisch tun?

Was würden Sie sagen, inwieweit hat sich Psychotherapie durch die Pandemie verändert?

An einer Umfrage der deutschen Psychotherapeutenvereinigung im April 2020 haben 4466 Psychotherapeut*innen teilgenommen. 77 % der Teilnehmer*innen gaben an, dass sie die Möglichkeiten der Videobehandlung nutzen, aber eben 95 % davon erst seit Beginn der Coronakrise. Das heißt, wir haben von heute auf morgen eine Digitalisierung, die in der Fachwelt auch erst mal kritisch beäugt wurde. Die ad-hoc-Digitalisierung in der Psychotherapie ist eine besondere Herausforderung, weil wir differenzieren müssen zwischen Digitalisierung als Möglichkeit, Distanz und Barrieren abzubauen, und der Möglichkeit, Psychotherapie auch methodisch zu erweitern, z. B. durch blended therapy (also der Mischform zwischen face-to-face und Onlinetherapie), dem Verschicken von Therapieaufgaben über digitale Medien sowie Apps.

Zudem entstehen neue Fragen, z. B. wie sich Beziehungen in der Onlinetherapie darstellen. In der Kinder- und Jugendpsychotherapie ist das Spiel z. B. ein enorm wichtiges Instrument, sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie. Wie kann man das ins Onlinesetting verlagern?

Frau steht an einem Geländer und schaut nachdenklich in die Weite.

Mit welchem Gefühl schauen Sie auf die vierte Welle und das kommende Jahr 2022?

Wir haben gehofft, dass wir Corona wie einen vorübergehenden Schrecken einfach auf Seite legen können. Das ist nicht so. Und das stößt auch Fragen der Lebensplanung an: Verbessere ich mich in meinem Job? Bekommen wir noch Familienzuwachs? Welche Ausbildung kann ich mir leisten?

Die Herausforderung der vierten Welle ist, dass wir z. B. bei Impfstrategien Entschiedenheit verkörpern. Gleichzeitig sind wir durch Impfdurchbrüche mit den Grenzen von Impfungen konfrontiert, was uns Differenziertheit abverlangt. Differenziertheit und Entschiedenheit ist nicht einfach zu vereinbaren. So werden Polarisierungen z. B. in der Diskussion um die Impflicht angestoßen und das führt zu Polarisierungen in der Gesellschaft. Wir leben aktuell in dieser Polarisierung. Sich einem der Pole zu zuordnen ist manchmal einfacher, weil die Integration beider Pole psychische Energie erfordert.

Demonstration: Im Vordergrund läuft eine Frau mit einem Megafon in der Hand.

Durch welche gesellschaftlichen bzw. sozialpsychologischen Interventionen kann es also gelingen, dass wir hier eine Integration schaffen? Und wie können wir Politiker*innen oder Journalist*innen aus der Sozialpsychologie heraus beraten, wie sie Polarisierung abdämpfen und wie sie eine Integration fördern, die dann auf Basis eines wellenförmigen epidemiologischen Geschehens die beste Anpassung zeigt? Das ist die Herausforderung, die uns erwartet.

Für 2022 wird sich die Frage stellen, wie wir Rückschläge bei der Pandemieeindämmung bewältigen, die notwendigen Diskussionen offen führen und als Gesellschaft trotzdem geeint bleiben.

Vielen Dank für das Interview!

 

Über Robert Bering:

Robert Bering, Prof. Dr., ist Chefarzt des Zentrums für Psychotraumatologie der Alexianer Krefeld GmbH und lehrt er an der Universität zu Köln. Ab Januar 2022 ist er leitender Arzt der Regionspsychiatrie Mitte-West in Dänemark.

Zum Weiterlesen [Werbung]:

Bering, Robert und Eichenberg, Christiane (Hrsg.). (2021, 3. Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage): Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise - Herausforderungen und Lösungsansätze für Psychotherapeuten und soziale Helfer. Stuttgart: Klett-Cotta.