Zoom-Fatigue: Was du gegen Onlinemüdigkeit tun kannst

Frau schläft vor Laptop am Schreibtisch

Seit Beginn der Pandemie ist oft der einzige Raum für Interaktion: der Bildschirm. Virtuelle Interaktion kann für unser Gehirn extrem anstrengend sein. Schlafstörungen, Magenschmerzen oder Motivationslosigkeit sind Anzeichen für Onlinemüdigkeit. Warum Videokonferenzen so belastend sind und was du tun kannst, wenn Patient*innen oder auch du als Behandler*in davon betroffen bist.

Willkommen im Jahr 2021: Psychotherapie ist immer auch ein Spiegel des Lebens unserer Patient*innen. So war es nur eine Frage der Zeit, bis unsere veränderten Lebensrealitäten neue Belastungsfaktoren zu Tage fördern: Zoom-Fatigue, digitales Erschöpfungssyndrom oder auch Onlinemüdigkeit. Die beispiellose Explosion des Einsatzes von Google Hangouts, Microsoft Teams und Co. als Reaktion auf die Pandemie hat ein inoffizielles soziales Experiment gestartet, das auf Bevölkerungsebene zeigt, was immer schon wahr war: Virtuelle Interaktionen können für unser Gehirn extrem anstrengend sein.
 

Die neue Arbeitswirklichkeit: Homeoffice

Vor der Pandemie galt das Homeoffice für viele Arbeitnehmer*innen als Verlockung: eine vermeintlich günstigere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Ersparnis der Fahrzeit und kein Stress im Berufsverkehr, kein Dresscode, Selbstbestimmung in der Arbeitszeiteinteilung. Auch auf Seiten der Arbeitgeber*innen waren die Hoffnungen groß: Kostenersparnis durch weniger Bürofläche, höhere Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen und geringere Ausfallzeiten, um nur einige Aspekte zu nennen.

Mann im Hintergrund vor Laptop, vorne seine Familie

Innerhalb eines Jahres wurden viele in eine neue Arbeitswirklichkeit katapultiert, so auch mein Patient Henri M., 42 Jahre, verheiratet, zwei Töchter (13 und fünf Jahre alt), Abteilungsleiter in der öffentlichen Verwaltung einer westdeutschen Großstadt. Da er 30 km in seine Behörde pendeln musste, war das Homeoffice zunächst eine willkommene Abwechslung. Als er ab Herbst wieder vermehrt von zuhause arbeiten musste, nahmen die Symptome, die er schon im Frühjahr verspürt hatte, zu: Magenschmerzen, Schlafstörungen, zeitweise Sehstörungen. Antrieb und Motivation nahmen immer weiter ab: „Am liebsten hätte ich den Bildschirm morgens gar nicht mehr angeschaltet. Ich habe mich zunehmend wie ein Zombie gefühlt. Ich war zwar physisch für meine Familie präsent, jedoch trotzdem nicht ansprechbar.“

Julia F., 36 Jahre, geschieden, eine Tochter (7 Jahre alt), Lehrerin an einer weiterbildenden Schule, berichtet in der Klinik ähnliches: Nach einigen Wochen zeigte sich die Doppelbelastung in der Betreuung der Tochter und ihrer Rolle als Lehrerin immer deutlicher. Zoom-Konferenzen im Kollegium zur Organisation des Lehrbetriebs, Zoom-Konferenzen mit den Klassen und einzelnen Schüler*innen, Begleitung der Zoom-Konferenzen der eigenen Tochter, Zoom-Kontakte zu Freunden und der weiter entfernt lebenden Herkunftsfamilie. Im Laufe der Wochen nahm ihre Konzentration immer weiter ab, sie wurde immer reizbarer ihrer Tochter gegenüber, zog sich sozial zurück, entwickelte Ängste vor dem nächsten Tag, war zunehmend lust- und interessenlos, entwickelte Dauerkopfschmerzen und Rückenschmerzen.

Laptop virtuelle Onlinekonferenz

Was belastet so sehr an der neuen Kommunikation?

Eine Studie des Instituts für Beschäftigung und Employability (ibe) in Ludwigshafen unter der Leitung von Prof. Dr. Jutta Rump hat nach Antworten gesucht. An der Befragung im Dezember 2020 haben 422 Geschäftsführer*innen, Führungskräfte, Personalleiter*innen, Personalfachleute, Betriebs- und Personalräte sowie HR-Expert*innen teilgenommen. 62,4 % der Befragten berichteten im Dezember 2020 von Zoom-Müdigkeit.

70 % der Befragten, die Zoom-Müdigkeit bei sich wahrnahmen, identifizierten fehlende nonverbale Hinweise als Belastungstreiber. Circa 45 % der betroffenen Befragten benannten explizit das Fehlen von Gestik und Mimik als belastenden Faktor. Rund 52 % vermissten den Small Talk und das Netzwerken. Weitere Belastungsfaktoren in virtuellen Meetings: weniger Gesprächsfluss aufgrund von Zeitverzögerungen, erhöhte Anstrengung zur Konzentration aufgrund schlechter Tonqualität oder Frustration aufgrund instabiler Internetverbindung sowie der starken Versachlichung virtueller Meetings. Summa summarum wirkt scheinbar die fehlende menschliche Interaktion als der wichtigste Belastungstreiber.
 

Mimik und Gestik werden nicht wahrgenommen

Unsere Körpersprache haben wir als Menschen schon genutzt, bevor wir Worte zur Verfügung hatten, um uns auszudrücken. Handgesten, Mikroausdrücke, Unterkörpersprache - diese Hinweise helfen dabei, ein ganzheitliches Bild davon zu zeichnen, welcher Inhalt vermittelt und was als Antwort vom Hörer erwartet wird. Bei Videoanrufen ist dies jedoch viel schwieriger, denn all diese Dinge sind kaum zu lesen. Ganz zu schweigen von vielen Hinweisen, die nur Sekundenbruchteile dauern - im wirklichen Leben schwer zu erfassen, aber mit Verzögerung und schlechter Videoqualität nahezu unmöglich. Ein typischer Videoanruf beeinträchtigt also tief verwurzelte Fähigkeiten und erfordert stattdessen eine anhaltende und intensive Aufmerksamkeit für die Worte des Gesprächsgegenübers. 

Mehrpersonenbildschirme vergrößern diese Problematik. Die Galerieansicht zwingt unser Gehirn, viele Menschen gleichzeitig zu entschlüsseln, so dass niemand sinnvoll durchkommt, nicht einmal der/die Sprechende. Für manche Menschen erzeugt die anhaltende Spaltung der Aufmerksamkeit das irritierende Gefühl, ausgelaugt zu sein, ohne etwas erreicht zu haben. Das Gehirn wird von ungewohnten überschüssigen Reizen überwältigt, während es sich auf die Suche nach nonverbalen Hinweisen konzentriert, die es nicht finden kann.

In einem Interview mit der britischen BBC fasste es der Verhaltensforscher an der Wirtschaftshochschule INSEAD Prof. Gianpiero Petriglieri wie folgt zusammen: „Videochats bedeuten, dass es uns schwerer fällt, nonverbale Hinweise wie Mimik, Stimmlage oder Körpersprache zu lesen. Darauf stärker fokussieren zu müssen, verbraucht eine Menge Energie.“

Frau sitzt mit Laptop auf Sofa

Der Bildschirm als einziger Raum für Interaktion

„Die meisten unserer sozialen Rollen spielen sich an verschiedenen Orten ab, aber jetzt ist der Kontext zusammengebrochen“, sagt Petriglieri weiter. „Stellen Sie sich vor, Sie gehen in eine Bar und sprechen in derselben Bar mit Ihren Professoren, treffen Ihre Eltern oder verabreden sich mit jemandem, ist das nicht komisch? Das ist es, was wir jetzt tun… Wir sind in unserem eigenen Raum eingesperrt, im Kontext einer sehr bedrohlichen Krise, und unser einziger Raum für Interaktion ist ein Bildschirm.“

Die Selbstkomplexitätstheorie, ein von Patricia W. Linville 1985 formuliertes Konstrukt, geht davon aus, dass Individuen kontextabhängige soziale Rollen, Beziehungen, Aktivitäten und Ziele haben. Selbstkomplexität kann wie ein kognitiver Puffer funktionieren, der extreme, affektive Schwankungen und die belastenden Wirkungen von Stress abmildert. Werden diese Aspekte reduziert, wie im Homeoffice, werden wir anfälliger für belastende Gefühle.

Zoom macht es vielen noch schwerer, nach der Arbeit „den Stecker zu ziehen“ und Abstand zu finden. In einem Büro können sie die Arbeit verlassen. Wenn sie jedoch von zu Hause aus arbeiten, gibt es keine natürliche Grenze mehr, keinen klar definierten Feierabend, weil jede*r davon ausgeht, dass Videoanrufe eine ständige Option sind. Sie denken ständig an die Arbeit, auch wenn sie nicht arbeiten. Dies kann bis zum Work-From-Home-Burnout, kurz WFH-Burnout, führen, ein vergleichsweise neues Phänomen.
 

Interaktion in „intimer Distanz“

Laut Jeremy Bailenson von der Stanford University ähneln Videokonferenzen einem Gespräch mit jemandem, der nur einen Meter entfernt ist. Robert Rakel vom Baylor College of Medicine beschreibt diese Distanz als die intime Distanz, in der typischerweise „Liebesspiel, Trost, Schutz und Fußball oder Wrestling“ stattfindet. Wir fühlen uns aber nur wohl, wenn wir unsere Lieben oder enge Freunde in diesen intimen Raum lassen. Wenn wir uns bei Videocalls so nahekommen, fühlen wir uns immer „an“. Wir wissen nicht, wann uns jemand ansieht, daher bleibt keine Zeit, sich während einer Online-Konferenz zu entspannen oder auszuschalten. Videoanrufe fühlen sich im Vergleich zu normalen sozialen Interaktionen eher unangenehm an.
 

Und in der Therapie?

Die Nutzung von Videoübertragungen in Form von Online-Therapie bietet uns als Therapeut*innen unbestreitbare Vorteile. Patient*innen fühlen sich möglicherweise wohler, wenn sie sich in ihren eigenen vier Wänden öffnen als in einer ungewohnten Umgebung. Die Online-Therapie ist leichter zugänglich, sodass Menschen, die in ländlichen Gebieten oder ohne Transportmittel leben, die psychologische Hilfe in Anspruch nehmen können. Es kann Psychotherapeut*innen ein höheres Maß an räumlicher und zeitlicher Flexibilität bieten. Leider kann jedoch die Verwendung von Videokonferenzen für die Psychotherapie auch bei uns in eine Erschöpfungsspirale führen, zumal der Übergang in die Telemedizin für viele unvermittelt kam und die bisherigen Strategien zur Selbstfürsorge auf die Probe stellt.

Kleidung auf Kleiderständer

6 Tipps gegen Zoom-Fatigue

Was ist also zu tun, wenn die Onlinemüdigkeit unsere Patient*innen oder auch uns als Behandler*innen erfasst? Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen?

  1. Reduziere Multitasking: Während eines Videoanrufs ist es zwar verlockend, ein anderes Fenster aufzurufen und sich mit anderen Arbeiten oder dem Bearbeiten von E-Mails zu beschäftigen. Statt Multitasking macht es aber durchaus Sinn, die Aufmerksamkeit zu 100 % auf den Videoanruf zu richten, bis dieser beendet ist.
  2. Baue aktive Pausen ein: Falls Videositzungen länger als eine Stunde dauern, empfiehlt es sich, aktive Pausen in den Sessions zu implementieren, um Energie zu tanken und die kreativen Potentiale wieder zum Fließen zu bringen, gerne auch in Verbindung mit Bewegung, kurzen Yogasequenzen oder Entspannungsübungen.
  3. Kürzere Einheiten: Es ist sinnvoll, die Dauer der Sessions zu begrenzen. Formate aus dem analogen Leben lassen sich nicht eins zu eins online reproduzieren. Deutlich praktikabler ist es, kürzere Einheiten ggf. mit höherer Frequenz einzuplanen.
  4. Durchmische die Kommunikationsformen: Ratsam ist es, auf Videokonferenzen ganz zu verzichten, wenn die Kommunikation per Telefonkonferenz oder Telefonat möglich ist, oder einen Mix von Kommunikationsformen zu nutzen. Telefonate sind weniger belastend, da wir uns von vorneherein nur auf Merkmal fokussieren: die Stimme des Gegenübers.
  5. Kleidung macht Leute: Online gibt es meist keinen klaren Dresscode. Verschiedene Studien konnten aufzeigen, dass Kleidung sowohl die Art und Weise verändert wie Menschen sich fühlen als auch wie sie wahrgenommen werden, wie z. B. in der Theorie der „Enclothed Cognition“ von Adam und Galinsky (2012). Die Art der Kleidung vermag die Leistungsfähigkeit zu steigern. Im Gegenzug kann es hilfreich sein, nach der „Zoom-Arbeit“ Freizeitkleidung anzuziehen, um das eigene Stresserleben zu reduzieren. Im Laufe der Zeit ordnet das Unterbewusstsein dann Arbeits- und Freizeitkleidung unterschiedlich zu und versetzt das Gehirn in den "Go" -oder in den "Off" -Modus, sobald man das Outfit wechselt. Auf diese Weise können die Grundprinzipien der klassischen Konditionierung in der Bekämpfung der Zoom-Fatigue nützlich sein.
  6. Last but not least: Digital detox - der Verzicht auf permanenten Medienkonsum, ständige Erreichbarkeit und nicht enden wollende Push-Nachrichten, um den Reichtum der realen Welt zu erleben, zu spüren, was wirklich wichtig ist und dem Cyberspace nicht die Steuerung des eigenen Lebens zu überlassen. Offline bleiben statt „always on“ bleibt die Herausforderung in der Pandemie, um wieder mehr Raum für neue Ideen und Inspirationen entstehen zu lassen.
Anhang Größe
Literaturverzeichnis.pdf 65.11 KB