Warum Ernährungsberatung und Psychologie zusammengehören

Ein rosa, ein blauer und ein brauner Donut mit bunten Streuseln liegen auf einer dunklen Tischplatte, der mittlere Donut ist angebissen.

Wir wissen immer mehr über richtige Ernährung. Aber ist das wirklich hilfreich  oder nicht sogar hinderlich? Ob Essstörung, Übergewicht oder Intoleranzen: reines Wissen über Ernährungsfakten führt nicht zum Ziel, wenn psychologische Aspekte außer Acht gelassen werden. Warum Klient*innen erst lernen müssen, sich selbst anzunehmen, um Essverhalten und Gewicht nachhaltig verändern zu können.

Vom Besuch des Kindergartens bis ins Altenheim: Die Belehrung in Bezug auf Ernährung hat in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Expert*innen erklären, „was das richtige Essen sei“. Ihre dahinterstehende Idee: Mit dem Wissen über die Zusammenhänge können Menschen einfach ihr Essverhalten ändern. Nachgewiesen ist das leider nicht. Im Gegenteil: Die Menschen haben heute zwar tatsächlich ein höheres Wissen über die sogenannte „gesunde Ernährung“, halten sich aber dennoch nicht an die vorgegebenen Regeln. Das lässt für mich nur den Schluss zu, dass die vorherrschende Form der Beratung und Aufklärung nicht zum gewünschten Ziel führt.

Reine Ernährungsaufklärung funktioniert nicht

Schon immer gab es Kritik an diesem auf der reinen Wissensvermittlung beruhenden Vorgehen. Die Idee, ein elementares Grundbedürfnis wie dem nach Nahrung einfach über das Bewusstsein verändern zu wollen, hielten schon während meines Studiums der Ökotrophologie in den 1990er Jahren durchaus einige Professor*innen für eine schlechte Idee. Diese kritischen Geister und Wissenschaftler*innen haben dazu beigetragen, dass ich ebenfalls einen kritischen Blick auf die bisherigen Maßnahmen und Konzepte entwickelte. Auch die Ergebnisse der Hirnforschung  nach denen 90 % unserer Essentscheidungen eben nicht im Bewusstsein, sondern im Unbewussten getroffen werden  ließen Zweifel aufkommen.

Zudem gab es Berichte darüber, dass die Adressat*innen durch die gängige Ernährungsaufklärung eher verunsichert denn gestärkt wurden. Bis heute wird die Zunahme problematischen Essverhaltens (dass also nicht mehr nach eigenen Bedürfnissen gegessen wird) auch der Ernährungserziehung und -aufklärung zugeschrieben. Darüber hinaus ist sicher, dass dauerhaft gezügeltes Essverhalten bei Menschen mit entsprechender Veranlagung nicht zur Gewichtsabnahme, sondern eher zum Dickwerden beiträgt.

Kleines Mädchen mit einem Milchglas in der Hand und Milchbart spannt die Muskeln an und lächelt in die Kamera.

Spaß und Genuss – bereits in der Ernährungserziehung wichtig

Nach meinem Studium begann ich, nach alternativen Zugängen zu suchen - und wurde nicht fündig. Alle Programme, die es im Bereich Ernährung gab, waren so angelegt, dass eine Verhaltensänderung über den Kopf passieren sollte. Glücklicherweise konnte ich im Auftrag der hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung (HAGE) Anfang der Zweitausender Jahre ein eigenes Konzept zur Ernährungserziehung und Bewegungsförderung entwickeln. Das Konzept war Grundlage des Modellprojekts „Spaß und Genuss beim Essen“.

Im Gegensatz zur herkömmlichen Wissensvermittlung erhielten die Kinder im Modellprojekt einen sinnlich-ästhetischen Zugang zum Essen. Sie lernten, ihre Sinne zum achtsamen Genießen einzusetzen und bauten mit dem Wissen über die Herkunft der Lebensmittel einen Bezug zu ihnen auf. In handlungsorientierten Unterrichtseinheiten lernten die Kinder, ihr Essen auszuwählen und zuzubereiten. Auch die Atmosphäre, in der gegessen wurde, war Thema des Unterrichts. Nicht zuletzt wurde den Kindern ein besseres Körpergefühl und die Kompetenz zum selbstverantwortlichen Handeln vermittelt. Das Projekt war so angelegt, dass Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl der Kinder gestärkt wurden (anstatt ihr Essverhalten in Frage zu stellen, wie es in den meisten Konzepten zur Ernährungserziehung der Fall war und noch immer ist).

Frau sitzt vor Spiegel und lächelt sich selbst an.

Zu sich selbst „ja“ sagen

Die gewonnenen Erfahrungen habe ich dann immer mehr auch in meine alltägliche Arbeit als Ernährungsberater einfließen lassen. Um diese Erfahrungen in den Beratungsprozess effektiver und sicherer einbringen zu können, habe ich in einer zweieinhalbjährigen Weiterbildung das Konzept der Selbstbejahung kennen und anwenden gelernt.

Die Selbstbejahung ist ein von der Gesellschaft für angewandte Psychologie (GAP-Marburg) entwickeltes psychologisches Verfahren, welches wirkungsvolle Methoden verschiedener psychologischer Ansätze integriert. Diese effektive Form der Beratung und Psychotherapie fußt auf der Gesprächstherapie nach Rogers. Ganz wichtig sind dabei das einfühlsame Verstehen sowie die Förderung von Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit. Bei der Selbstbejahung geht es, wie der Name schon sagt, darum, sich selbst liebevoll anzunehmen, anstatt die gesamte Energie darauf zu verwenden, gegen das „So-Sein“ anzukämpfen.

Lass mich anhand verschiedener Fragestellungen, mit denen Klient*innen zu mir in die Praxis kommen, zeigen, warum ich ein psychologisches Vorgehen für wichtig halte:

Übergewicht

In der Wissenschaft sind etwa einhundert Gründe dafür bekannt, warum Menschen mehr wiegen, als in den Genen ursprünglich für sie vorgesehen war. Nach Ansicht einiger Forscher*innen nimmt der ungesunde Stress, unter dem Menschen stehen, mit etwa 80 % dabei die absolute Spitzenposition ein.

Wenn nun der Stress bei einem Klienten im Beratungsprozess als wesentliche Ursache herausgearbeitet wurde, sollte sich eben diesem zugewandt werden. Viele Betroffene kommen aber zu mir in die Praxis, weil sie von ihren Ärzt*innen mit den Schuldvorwürfen konfrontiert wurden, dass sie irgend etwas in ihrem Leben falsch machten. Sprich, sie ernährten sich falsch und bewegten sich zu wenig. Diese undifferenzierten Schuldvorwürfe wiederum triggern schon meist vorhandene Selbstverurteilungen wie: „Ich bin faul, willensschwach und dumm und verantwortlich dafür, dass ich dick bin. Und jeder kann das sehen.“ Kurzum: Schuldgefühle erhöhen den Stress weiter.

Um die so entstehende Stressspirale zu durchbrechen, geht es mir in meinen Beratungen in erster Linie darum, den Betreffenden ihre Würde zurückzugeben, sie spüren zu lassen, dass sie, so wie sie sind, o.k. sind. Dies ist die entscheidende Voraussetzung für jede Veränderung und der Weg zu einem glücklicheren Leben.

Mensch ist schemenhaft vor dem Ausgang eines Raumes zu erkennen. Die Wände des Raumes sind spiralförmig gewölbt.

Nahrungsmittelunverträglichkeiten

Wenn genetische Ursachen oder Erkrankungen den Unverträglichkeiten zugrunde liegen, gilt es, praktische Tipps und Handreichungen für den Alltag dieser Menschen bereit zu stellen. Allerdings gibt es nicht selten funktionelle Beschwerden im Magen-Darm-Trakt, die eine zeitweise Unverträglichkeit bestimmter Nahrungsmittel nach sich ziehen.

Die Zunahme von Intoleranzen lässt sich durchaus mit der verstärkten Beratung zur Ernährungsumstellung durch Ärzt*innen oder Medien erklären: Die Empfänger*innen dieser Botschaften werden verunsichert und achten in der Folge nicht mehr auf Signale ihres Körpers. Sie essen z. B. viel mehr Rohkost, als ihnen guttut und schädigen dadurch ihren Darm. In der Folge vertragen sie einige Lebensmittel nicht mehr - und in psychisch belastenden Situationen sinkt die Toleranzschwelle für manche Nahrungsbestandteile zusätzlich deutlich ab. Hier ist eine an den Ursachen ansetzende psychologische Beratung hilfreich.

Essstörungen

Bei Essstörungen wie der Magersucht oder der Binge-Eating-Disorder ist eine an Nährstoffen und Energiegehalt der Nahrung ausgerichtete Ernährungsberatung nicht zielführend. Das gilt insbesondere auch bei der Orthorexia nervosa, bei der die Betroffenen das Essen nur noch nach vermeintlich gesunden Maßstäben auswählen und ihren Körper (insbesondere ihren Appetit), dabei gar nicht mehr beachten. Diesen Menschen einfach weitere „Ernährungsregeln“ an die Hand zu geben, hätte möglicherweise verheerende Auswirkungen. Auch in diesen Fällen hilft es keinesfalls, durch die Beratung noch mehr Stress zu erzeugen, sondern für Entlastung zu sorgen. Die psychologische Ernährungsberatung ersetzt bei Essstörungen nur einen Teil der notwendigen Psychotherapie.

Korb mit Gemüse

Durch Selbstbejahung neue Erfahrungen ermöglichen

Um einen Einblick in meine konkrete Arbeit zu vermitteln, hier ein Fallbeispiel:

Brigitte (54) leidet schon lange unter ihrem hohen Körpergewicht. Ihre Hausärztin weist immer wieder auf das damit verbundene Gesundheitsrisiko hin und hat ihr deshalb die Ernährungsberatung nahegelegt. Brigitte kommt mit der Erwartung, dass ich sie auf die Fehler ihrer Ernährung hinweise oder vielleicht sogar ein paar „Zaubertricks“ aus der Ernährungsforschung bereithalte. Solche Tricks hat jeder schon mal gelesen oder gehört. Ein Beispiel für so einen Trick: Einige Forscher*innen behaupten ernsthaft, man könne mit dem Verzehr von Artischockenblättern die Fettverbrennung ankurbeln. Das ist aber nur einer dieser unbewiesenen Zaubertricks. Es gibt unzählige mehr davon.

Schon im Erstgespräch ist bei Brigitte eine deutliche Unruhe spürbar, weil ich diese Erwartungen so gar nicht erfülle. Die Anamnese ihres Essverhaltens hat mir keinen Anlass dazu geboten, ihr das Essen zu verleiden. Im Gegenteil: Ihre Ernährung wirkt sehr ausgewogen und vor allem isst sie nicht kalorienreich, sondern eher wenig. Statt also ihren Speiseplan zu kritisieren, biete ich ihr wertschätzend eine andere Sichtweise auf ihren eigenen Körper, ihre Veranlagung zur Energieeinsparung und eine neutralere Beurteilung ihres Essverhaltens an. Sofort kommen ihr die Tränen und anschließend setzt bei ihr eine große Erleichterung ein. Sie kommentiert dies mit den Worten, „so etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört“. Damit drückt sie aus, dass sie zuvor immer nur Vorwürfe und Schuldzuschreibungen zu hören bekommen hat.

Junge Frau sitzt im Restaurant und lächelt über dass appetitliche indische Essen, das vor ihr auf dem Tisch steht.

Für mehr Lebensfreude und Gesundheit

Menschen mit einem über der Norm liegenden Gewicht, wie Brigitte es schon seit ihrer Kindheit hat, finden leider selten Verständnis für ihre Situation. Das wiederum führt dazu, dass sie einen großen Teil ihres Lebens gegen ihr Gewicht und damit gegen ihren Körper ankämpfen (was, wie oben beschrieben, eine Gewichtszunahme nur weiter begünstigt). Wie Brigitte sind viele Patient*innen äußerst dankbar, dass ich ihnen auf einer ganz anderen Ebene begegne. Sie erfahren dadurch eine große Erleichterung und Entspannung, was eine wichtige Voraussetzung für eine Gewichtsabnahme ist.

Durch (Psycho-) Edukation erarbeiteten wir in den weiteren Sitzungen die Gründe für ihr hohes Körpergewicht: Mit dem Wissen um den Zusammenhang zwischen Stress und Körpergewicht ließen ihre Selbstvorwürfe im Laufe der Therapie deutlich nach, wodurch eine leichte Gewichtsabnahme einsetzte. Was aber noch wichtiger ist: Brigitte fand ihren Spaß und Genuss beim Essen wieder und entwickelte auf diese Weise deutlich mehr Lebensfreude. Und das war die Voraussetzung für ihre weitere Gewichtsabnahme und ein wichtiger Schritt zu mehr Gesundheit.