Essstörungen – Ein Wegweiser für Coaching und Beratung

Hattest du schon mal Klienten, für die Essen ein zentrales Thema war? Bei ca. einem Fünftel aller 11- bis 17-Jährigen sind erste Anzeichen für Essstörungen vorhanden. Der Übergang von essgestörtem Verhalten in eine handfeste Essstörung passiert dabei oft unbemerkt und die Chronifizierungsgefahr ist hoch. Wie kannst du Essstörungen im Coaching und in der Beratung erkennen? Und wie geht es dann weiter?

Coaching- und Beratungsangebote sind niederschwellig und bieten so oft die erste Anlaufstelle für Menschen, die therapeutischen Bedarf haben. Erst kürzlich berichteten die Medien, dass im Zeitraum von 2005 bis 2016 immer mehr junge Erwachsene an psychischen Beschwerden erkranken. Essstörungen sind dabei weit verbreitet. Wusstest du, dass bereits viele Jugendliche einzelne Symptome einer Essstörung aufweisen? Bei ca. einem Fünftel aller 11- bis 17-Jährigen sind erste Anzeichen vorhanden. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (Robert Koch-Institut, erste Ergebnisse der KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 2007).
Sicherlich hast du auch mal Klienten im Coaching oder in der Beratung gehabt, für die Essen ein zentrales Thema war. Wie kannst du also Essstörungen im Coaching oder in der Beratung erkennen? Und wie geht es dann weiter?

Essstörungen auf den ersten Blick

Es gibt viele Arten von Essstörungen, die vom essgestörten Verhalten abzugrenzen sind. Die bekannteste ist die Magersucht. Diese ist auch unter dem Begriff Anorexia nervosa bekannt (der Einfachheit halber wird oft von Anorexie gesprochen). Übersetzt heißt Anorexie so viel wie Appetitlosigkeit. Erst durch den Zusatz „nervosa“ (nervlich bedingt) kommt die Schwere dieser psychischen Erkrankung zum Ausdruck. Wie der Name es bereits erahnen lässt, stehen Verzicht und Kompensierung von Nahrung im Mittelpunkt.

Am zweitgeläufigsten ist die Bulimie, oder auch Ess-Brech-Sucht genannt. Betroffene leiden an heimlichen, rauschartigen Essattacken, bei denen sie in kürzester Zeit Unmengen an hochkalorischen Lebensmitteln verschlingen. Die Häufigkeit solcher Attacken variiert individuell. Von einmal wöchentlich bis 10 Mal pro Tag und mehr ist alles möglich. Ist der Anfall vorbei, erbrechen sich die Betroffenen, sind in einem extremen Maß sportlich aktiv, nehmen Abführmittel oder hungern. Nicht selten greifen Erkrankte auf alle diese aufgezählten Gegenmaßnahmen zurück. Hauptsache die eben verschlungene Nahrung verschwindet ganz schnell wieder aus dem Körper.

Die Essanfallstörung bzw. Binge Eating Disorder kämpft noch um eine gewisse Anerkennung. Im ICD 10 ist sie nicht gelistet, sondern wird unter den nicht näher bezeichneten Essstörungen (F 50.9) eingeordnet. Sogenannte Binge Eater erleben wie bei der Bulimie suchtartige Essanfälle, nach denen aber keine kompensatorischen Maßnahmen erfolgen.

Die tägliche Konfrontation mit den Mahlzeiten ist für Menschen mit Essstörungen die Hölle.

Essstörung – eine Sucht

Essstörungen gehören zu den stoffungebundenen Süchten und sind durch zwanghafte Verhaltensweisen gekennzeichnet. Das Belohnungszentrum im Gehirn reagiert ähnlich wie bei Abhängigen, die nach Substanzen wie Heroin, LSD, Alkohol oder Nikotin süchtig sind. Daher können Essanfälle oder Hungern genauso abhängig machen wie Zigaretten. Das Fatale dabei: Wir müssen essen, um zu leben. Ein Raucher hat die Möglichkeit, ein erfülltes Leben ohne Zigaretten zu führen. Menschen mit einer Essstörung sind dagegen ihr ganzes Leben lang auf die Droge Essen angewiesen.

Die tägliche Konfrontation mit den Mahlzeiten ist für Menschen mit Essstörungen die Hölle: entweder, weil sie nichts herunterbekommen aus Angst, an Gewicht zuzulegen, oder weil sie befürchten, einer Essattacke zu erliegen.

Kein Körperteil ist nach den persönlichen Maßstäben perfekt.

Warnsignale der Essstörung

Eine Essstörung entsteht nicht über Nacht. Durch die Pubertät oder gravierende Lebenseinschnitte verändert sich die eigene Körperwahrnehmung. Die Beine sind auf einmal zu fett, der Bauch zu dick und der Po zu wabbelig. Kein Körperteil ist nach den persönlichen Maßstäben perfekt. Die Unzufriedenheit dringt mit der Zeit in jeden Gedanken. Nichts anderes hat mehr Platz, außer Kochen, Backen, Essen, Nicht-essen und eventuelle Gegenmaßnahmen.


Weitere typische Warnzeichen

  • massive/r Gewichtsverlust/-zunahme in kürzester Zeit
  • ausgeprägter Bewegungsdrang
  • Unruhe und Konzentrationsschwäche
  • Unzufriedenheit mit sich und dem Körper
  • diätisches Essverhalten
  • panische Angst vor Gewichtszunahme
  • in der Öffentlichkeit wird ganz wenig bis gar nichts gegessen
  • häufige Ausreden, um (gemeinsame) Mahlzeiten zu vermeiden
  • zunehmende Isolation
  • Vernachlässigung von Hobbies, Schule, Beruf
  • akribische Einteilung der Lebensmittel in erlaubt und nicht erlaubt
  • körperliche Probleme wie eingerissene Mundwinkel, kaputte Zähne und Herz-/Kreislaufstörungen u.v.m.

Essstörung vs. essgestörtes Verhalten

Bestimmte Ereignisse wie der Tod eines nahestehenden Menschen, Trennung und Verlust lösen bei manchen ein essgestörtes Verhalten aus. Kurzzeitig wird bewusst oder unbewusst das Essverhalten verändert, indem beispielsweise die üblichen Portionsgrößen immer kleiner werden. Die eigenen Sorgen schnüren nicht nur sprichwörtlich die Kehle zu. Andere Menschen essen in Stressmomenten übermäßig viel. Gründe, um zu viel oder zu wenig zu essen, gibt es wie Sand am Meer. Dazu zählt übrigens auch die klassische Diät. Ist das ursprüngliche Problem mithilfe von essensunabhängigen Strategien gelöst bzw. überstanden, normalisiert sich bei den meisten das Essverhalten von ganz allein.

Bei essgestörten Personen ist das dagegen nicht der Fall. Sie versuchen durch die Nahrungsaufnahme bzw. –verweigerung bestehende Konflikte zu bekämpfen. Doch das funktioniert auf Dauer nicht. Wie bei anderen Süchten auch, wird bei Essstörungen das Verlangen nach dem Suchtmittel immer stärker. Während sich die Gedanken nur ums Essen drehen oder der Kontrollverlust zu einer hochkalorischen Essattacke drängt, vergessen die Betroffenen (kurz) das eigene Leid.

Der Übergang von essgestörtem Verhalten in eine handfeste Essstörung passiert fast unbemerkt. Ein Wechsel innerhalb der Essstörungen ist ebenfalls sehr häufig. Fakt ist: nicht jede Diät führt in eine Essstörung, aber nahezu jede Essstörung beginnt mit einer Diät.

Eindeutige Anzeichen erkennen und situativ handeln

Du hast Klienten im Coaching oder in der Beratung, bei denen du erste Anzeichen einer Essstörung wahrnimmst? Dann ist erst mal ganz wichtig und höchste Priorität: bitte Ruhe bewahren!
Des Weiteren sei dir bewusst, dass der Betroffene den Weg aus seiner Sucht heraus selbst wollen muss. Zwang und Druck u.a. vom Umfeld verstärken schlimmstenfalls die Symptomatik.

Ärztliche Hilfe hinzuziehen

Sind die Anzeichen unverkennbar einer Essstörung zuzuschreiben, ist ein Besuch beim Haus-/Kinderarzt zu empfehlen. Meistens streiten Essgestörte ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab oder haben dafür andere plausible Erklärungen. Betroffene leugnen anfangs vehement, dass sie ein Problem mit dem Essen haben. Auch, wenn das gestörte Essverhalten offensichtlich das Gegenteil beweist. Unzählige glaubhafte Ausreden helfen, die schambesetzte Erkrankung vor sich selbst und dem sozialen Umfeld zu verheimlichen.

Anhand einer körperlichen Untersuchung samt Blutentnahme kann festgestellt werden, welchen Schaden die entsprechende Essstörung bereits angerichtet hat.

Bei Frauen ist auch ein Kontrollbesuch beim Gynäkologen ratsam. Durch eine Mangel-/Unterernährung bilden sich die Geschlechtsorgane zurück bzw. stellen ihre Funktion vorübergehend ein. Dies führt häufig zum Ausbleiben der Menstruation, die eine Unfruchtbarkeit nach sich ziehen kann.

Therapeutische Hilfe hinzuziehen

Oftmals stellen Beratung und Coaching erste Anlaufstellen für Betroffene dar, da sie als niederschwelliger oder weniger angstbesetzt wahrgenommen werden als entsprechende therapeutische Einrichtungen. Viele Mädchen- und Frauenberatungsstellen bieten auch essstörungsspezifische Angebote und Selbsthilfegruppen an. Die Niederschwelligkeit von Coaching- und Beratungsangeboten bietet Betroffenen die Möglichkeit, die bestehenden Probleme einordnen zu können und den Weg für weitere Hilfsmaßnahmen anzubahnen.

Wie aber bereits deutlich geworden ist, sind Essstörungen schwerwiegende psychische Erkrankungen mit einem hohen Chronifizierungspotential. Umso früher eine Essstörung behandelt wird, desto höher sind die Chancen einer erfolgreichen Behandlung. Wenn du Betroffene in Beratung oder im Coaching hast, solltest du daher frühzeitig über die Erkrankung, Folgen und die Wichtigkeit therapeutischer Maßnahmen aufklären und gemeinsam mit dem Klienten eine schnelle Überleitung in ein therapeutisches Setting anstreben.

Ambulante und stationäre Therapie

Es gibt unterschiedliche ambulante und stationäre Therapiemodelle. Ob eine Behandlung stationär oder ambulant eingeschlagen wird, hängt mit dem Krankheitsgrad und -einsicht zusammen.

Eine stationäre Behandlung ist indiziert, wenn:

  • Ein zu geringes Gewicht besteht (BMI ≤ 13)
  • Somatische Komplikationen bestehen
  • Die Krankheitsschwere hoch ist (z.B. sehr schneller Gewichtsverlust, zu hohe Frequenz an Ess(-Brech)-Anfällen
  • Schwere psychische Komorbitäten bestehen (Suizidgedanken, schwere Depression)
  • Trotz ambulanter Behandlung keine Besserung auftritt
  • Die familiäre Situation zu festgefahren ist (v.a. bei Minderjährigen)

Sollten deine Klienten minderjährig sein, solltest du in jedem Fall die Erziehungsberechtigten informieren. Für Angehörige ist der Umgang mit Essstörungen genauso schwer, wie für den Betroffenen selbst. Konflikte und Missverständnisse sind vorprogrammiert. Vielleicht gibt es in der Nähe Beratungsstellen oder Angehörigengruppen, in denen Angehörige Halt sowie die nötigen Informationen finden. Ein stabiles Umfeld trägt einen großen Anteil zur Genesung bei.