Mit Online-Therapie Jugendliche und junge Menschen erreichen – Interview mit Dr. Karin Drda-Kühn

Viele Jugendliche und junge Erwachsene können durch traditionelle Therapieangebote nicht mehr vollständig erreicht werden. Online-Interventionen sind für sie eine vertraute Möglichkeit der Kommunikation – also auch für Therapie und Beratung. Viele deutsche Therapeuten und Berater stehen dem Medium aber noch kritisch gegenüber. Dr. Karin Drda-Kühn leitet die europäische Initiative „Therapy 2.0". Wir haben mit ihr über die Potenziale und Umsetzungsmöglichkeiten von Online-Angeboten gesprochen.

Frau Drda-Kühn, warum ist es wichtig, dass Jugendlichen und jungen Menschen alternative Beratungs- und Therapiemöglichkeiten angeboten werden, neben dem klassischen, persönlichen Gespräch?

Die Generation der „digital natives“ hat ein grundsätzlich anderes Kommunikationsverhalten, bei der die Web 2.0-Kommunikation eine wichtige Ergänzung ihrer täglichen mündlichen Kommunikation ist. Auch Gruppen wie beispielsweise junge Flüchtlinge, die häufig unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, werden mit traditionellen therapeutischen Instrumenten kaum erreicht. Junge Menschen haben zudem häufig Hemmungen, eine Praxis aufzusuchen, während ihnen eine Kontaktaufnahme über Online-Medien leicht fällt, weil es ihrem täglichen Kommunikationsverhalten entspricht. Online-Beratung und -Therapie können hier eine gravierende Lücke schließen, doch Berater und Therapeuten sind in dieser Art von Beratung und Therapie in der Regel nicht erfahren und werden in der universitären Ausbildung dafür auch nicht qualifiziert. Also bedarf es einer berufsbegleitenden Qualifizierung, um die Möglichkeiten solcher Beratungs- und Therapieformen ausschöpfen zu können. Dafür gibt es bereits zertifizierte Fortbildungsangebote oder aber die Fortbildung erfolgt zum Beispiel über Selbstlern-Module, wie wir sie in Therapy 2.0 entwickelt haben.

Welche (weiteren) Vorteile haben Online-Beratungen und –Therapien Ihrer Meinung nach?

Vorteile haben Berater und Therapeut ebenso wie ihre Klienten. Für Fachkräfte aus Beratung und Therapie sind internetbasierte Dienstleistungen eine Erweiterung ihrer fachlichen Möglichkeiten. Genau genommen sind sie für viele Freiberufler und Selbstständige eine erhebliche Geschäftsfelderweiterung, wenn nicht sogar ein Wettbewerbsvorteil. Das ist eine Investition in die Zukunft der gesamten Branche, denn Online-Dienstleistungen werden weiter zunehmen.

Für junge Klienten liegt ein großer Vorteil in der ihnen vertrauten Kommunikationsform und in der Möglichkeit, ein Beratungs- oder Therapiegespräch in einer vertrauten Umgebung wahrnehmen zu können. Generell liegt ein Vorteil in der örtlichen Unabhängigkeit, die unserer hoch-mobilen Gesellschaft entgegen kommt. Zudem können Klienten Beratungs- und Therapieangebote in ihrem „eigenen Tempo“ und ungebunden von zeitlichen Einschränkungen wahrnehmen.

Wenn ich an Online-Therapie denke, denke ich direkt an Skype-Gespräche. Aber welche anderen Möglichkeiten, Tools und Formate gibt es noch? Wie können z.B. Smartphones genutzt werden?

Zunächst unterscheiden wir zwischen synchroner und asynchroner online-Kommunikation: Die synchrone Fernkommunikation ermöglicht Gespräche in Echtzeit, also zu genau aufeinander abgestimmten oder terminlich vereinbarten Zeiten durch den Austausch von Medien in Form von Text, gesprochener Sprache, Videos, Bildern und anderen Dateitypen in beliebiger Kombination. Text-Chat, Sprach- und Videoanrufe und Telefonkonferenzen sind Beispiele für synchrone, also Echtzeit-Kommunikation.

Asynchrone Kommunikation ermöglicht die Interaktion mit gelockerten oder ohne Zeitvorgaben, d.h. den Austausch von Medien wie Text, Audio, Video ohne sofortige Reaktion. Typische Beispiele sind E-Mails, Online-Foren, Messaging-Dienste und On-Demand-Angebote wie das Surfen auf Websites oder Video-on-Demand. Benutzer der asynchronen Kommunikation können ihrem eigenen Tempo folgen und an einem für sie geeigneten Zeitpunkt auf die Medien zugreifen.

Chatten und Mobile Messaging Applikationen (Apps) sind die Hauptanwendungen, die von jungen Leuten vor allem auf mobilen Endgeräten wie Smartphones oder Tablets für die Kommunikation genutzt werden. Apps sind beliebt und bieten immer neue Social-Networking-Funktionen sowie verbesserte Sicherheit, kostenlose mobile Anrufe oder SMS-Dienste. Junge Leute nutzen die Funktionen der mobilen Apps, um synchron in Echtzeit zu kommunizieren, indem sie sich über Text-Chat-Funktionen, Sprachfunktionen und Video-Chats austauschen. Oder sie agieren asynchron, wenn ihr Gegenüber nicht online verfügbar ist, indem sie Nachrichten in Form von Text, Sprache, Videos oder Fotos per Messaging-Funktionen  hinterlassen.

Bekannte Apps wie Facebook Messenger, Apple Messages und der Internet-Telefonie-Service Skype nehmen eine dominante Stellung ein, aber Wettbewerber wie WhatsApp, Viber, Google Hangouts, Snapchat und andere sind ebenfalls präsent. Die meisten dieser Anwendungen sind auch für die Installation auf Desktop-Computern verfügbar, entweder Windows-basiert oder auf MAC. Ob und wie diese Anwendungen in Beratungs- und Therapiesituationen genutzt werden, hängt davon ab, über welche gesicherten Systeme gearbeitet wird, um zum Beispiel Datenschutzanforderungen zu genügen. Im Therapy 2.0 Leitfaden wird darauf ausführlich eingegangen.

Gibt es typische Fragen oder Stolpersteine, mit denen sich Berater und Therapeuten konfrontiert sehen, die Onlineangebote machen wollen?

Das Spektrum technologiegestützter Informations- und Kommunikationstools ist sehr umfangreich, und natürlich sind es die Besonderheiten computergestützter Kommunikation in Beratung und Therapie, die Fachkräfte besonders interessieren. Hinzu kommen rechtliche Aspekte, ethische Aspekte der Online-Instrumente und der Online-Beratung mit Fokussierung auf Unterschiede zu klassischen Interventionssettings. Weiter geht es um wirtschaftliche und finanzielle Aspekte, notwendige technische Ausstattung und technische Kompetenzen sowie um spezielle psychologische Aspekte bei Online-Interventionen. Die Online-Beratung für Asylsuchende, Flüchtlinge und unbegleitete Minderjährige ist zudem eine Art Sondergebiet, das vor allem Sensibilität und interkultureller Kenntnisse bedarf.

Wo finden diese Kollegen, die gerne Online-Angebote etablieren möchten, weitere Informationen, Hilfe und Unterstützung?

Wir haben in Therapy 2.0 einen Leitfaden erstellt, der auf all die genannten Fragen eingeht und ganz praktische Hilfestellungen und Antworten gibt. Über eine Umfrage, an der sich 252 Berater, (Schul)Psychologen,  Jugendberater und Therapeuten aus sieben europäischen Ländern beteiligt haben, haben wir genau diese Fragen erfasst, um möglichst passgenaue Antworten geben zu können.

Die Inhalte des Leitfadens wurden zudem in neun Trainingsmodule transferiert, die als Selbstlernkurs oder in einer Fortbildungsmaßnahme eingesetzt werden können. Die Module decken alle der bereits genannten Themen ab.

Zusätzlich haben wir so genannte „gute Beispiele“ recherchiert und damit Erfahrungen erfasst, wie in anderen Ländern mit Online-Beratungen und -Therapieangeboten umgegangen wird. Das sind sehr ermutigende Erfahrungen aus Ländern wie Australien, Kanada oder den nordischen Ländern, die bereits seit vielen Jahren in der Online-Praxis tätig sind. Deutschland hinkt der Entwicklung von Online-Angeboten deutlich hinterher. Auch hier haben wir auf Praxisnähe Wert gelegt und darauf, dass die vorgestellten Beispiele direkt kontaktiert und damit Erfahrungen ausgetauscht werden können. All das findet sich auf unserer Plattform https://www.ecounselling4youth.eu/ - auch in deutscher Sprache. Über unsere Therapy 2.0 App ist auch ein mobiler Zugang zu allen Informationen möglich.

Inzwischen gibt es auch in Deutschland Einrichtungen, die Beratungen für Angestellte und Selbstständige anbieten oder Qualifizierungsangebote machen. Empfehlenswerte Adressen sind beispielsweise das Institut für Lerninnovation in Nürnberg, unser Partner in Therapy 2.0, oder das ProtectLab als assoziierte Forschungseinheit des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg oder das Institut für E-Beratung der Technischen Hochschule Nürnberg. Publikationen wie das e-beratungsjournal greifen das Thema regelmäßig auf. Deshalb: Wer sich informieren will, findet Unterstützung.

Wagen wir mal einen Blick in die Zukunft: Was denken Sie, wie wird die Therapielandschaft in ein paar Jahren aussehen? Werden sich Online-Angebote etabliert haben – und was braucht es noch dafür?

Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Online-Angebote zum selbstverständlichen Angebot im gesamten Gesundheitsbereich gehören – andere Länder machen uns dies längst vor. Das hat nicht nur mit der zunehmend problematischen ärztlichen Versorgung in ländlichen Regionen zu tun, sondern auch mit veränderten gesellschaftlichen Anforderungen: unsere mobile Gesellschaft ist schlichtweg darauf angewiesen, ärztliche, beratende und auch therapeutische Angebote über Online-Medien wahrzunehmen. So gesehen kann man Fachkräften aus dem Beratungs- und Therapiebereich nur raten, sich mit den Voraussetzungen zu befassen und sich entsprechend zu qualifizieren.