Wie du auf dem aktuellsten Stand der Forschung bleibst

Frau in Bibliothek mit mehreren Büchern im Arm, liest etwas in aufgeschlagener Mappe.

Das Studium ist vorbei, der Therapie- und Coachingalltag hat dich fest im Griff und die Forschung, mit der du dich früher noch so intensiv beschäftigt hast, scheint in weite Ferne gerückt. Keine Zeit, keinen Überblick, keinen Zugang? Unsere Autorin Sinha Engel hat drei Lösungsansätze für dich, wie du diese Hürden überwinden und auf dem neuesten Stand der Forschung bleiben kannst.

Eben noch warst du mitten im Studium. Du hast in den Vorlesungen alles über die wichtigsten psychischen Störungen und ihre Behandlung gelernt. Dabei hast du die neuesten Entwicklungen im Bereich Diagnostik und innovative therapeutische Ansätze kennengelernt. Spannend! Für Forschungsprojekte und deine Abschlussarbeit hast du zahllose Fachartikel zu deinen Lieblingsthemen herausgesucht. Besonders wichtige Artikel hast du intensiv durchgearbeitet und in deinen Arbeiten diskutiert. Du hast Daten gesammelt, ausgewertet und interpretiert. Dadurch bist du mit Abschluss deines Studiums zum*r absoluten Experten*in in deinem Forschungsgebiet geworden. 

Doch kaum ist das Studium vorbei, kaum hat die Psychotherapieausbildung oder die Arbeit als Coach oder Berater*in begonnen, tritt das in den Hintergrund. Die neuen Eindrücke und Erfahrungen beschäftigen dich, du übst dich in Gesprächsführung und lernst therapeutische Techniken. Nebenbei lernst du dich selbst neu kennen. Die Welt der Forschung erscheint plötzlich ganz schön fern: „RDoC*, HiTOP*, was war das noch gleich? Gibt es die Persönlichkeitsstörungen, die ich aus dem Studium kenne, noch? Und kann ich seit der Replikationskrise den Forschungsergebnissen überhaupt noch trauen? Oder sind die alle ge-HARKED*, ge-p-hacked* oder Schlimmeres?“

Person verzweifelt hinter Bücherstapel mit Kopf auf dem Tisch.

Dabei hat es dir eigentlich immer gefallen, dich in spannende, wissenschaftliche Themen einzufuchsen. Es gehört zu deiner beruflichen Identität als Psychotherapeut*in, Coach, oder Berater*in, deine Arbeit an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren und wirksame Verfahren anzuwenden. Auch für dein persönliches Wohlgefühl erscheint es dir wichtig zu wissen, dass das, was du in der Praxis tust, deinen Patient*innen oder Klient*innen auch tatsächlich hilft. Und außerdem ist die Wissenschaft 2020 dank Christian Drosten, Mai Thi Nguyen-Kim und Kolleg*innen auch einfach wieder cool geworden. 

Wenn du dich deshalb entscheidest, dich wieder der Wissenschaft zuzuwenden, wirst du vermutlich drei typische Hürden feststellen. Sie lauten: „Ich habe keine Zeit“, „Ich habe keinen Überblick“ und „Ich habe keinen Zugang“. Um sie zu überwinden, habe ich dir Lösungsansätze mitgebracht, die dir dabei helfen werden, deine Begeisterung für die Forschung (wieder) aufleben zu lassen.

Jugendlicher im Gespräch mit Therapeuten.

1) Ich habe keine Zeit

Dein Job besteht heute nicht mehr darin, Artikel zu lesen oder Vorlesungsinhalte zu lernen. Er besteht darin, mit Patient*innen oder Klient*innen zu arbeiten. Viel Kapazität, sich der Wissenschaft zu widmen, bleibt nicht, denn die freie Zeit mit der Familie, den Freund*innen oder Partner*innen zu opfern, ist keine Option. Wissenschaft soll Interesse wecken und Spaß machen. Unter Stress: keine Chance. Es ist keine Pflicht, dich in deiner Freizeit damit zu beschäftigen. Also tu es nur dann, wenn du dich wirklich für ein Thema interessierst und begeisterst; wenn du Lust hast, dich mal wieder so richtig wissenschaftlich einzufuchsen und den Flow zu erleben, den man dabei erfahren kann.

Hier sind wir schon beim ersten Lösungsansatz: Priorisieren. In der Uni musstest du Experte*in für alles sein, heute darfst du Experte*in für das sein, was du persönlich wichtig findest. Vielleicht inspirieren dich Patient*innen oder Klient*innen dazu, vielleicht deine neuen (Selbst-)Erfahrungen. Wenn du dann gezielt zu einem Thema recherchierst, musst du auch nicht jeden Artikel lesen, der dazu jemals geschrieben wurde. Such dir diejenigen Titel heraus, die spannend klingen. Lies erst einmal Abstracts, darin steht ja schon das Wichtigste. Und auch wenn du einzelne Artikel vollständig liest, musst du sie nicht im Detail durcharbeiten. Ja, Methodik ist wichtig. Die Kernbotschaft eines Artikels kannst du aber auch erkennen, wenn du die statistische Aufbereitung der Daten nicht im Detail verstehst.

Laptop auf Schreibtisch mit Tasse daneben. Auf dem Bildschirm sieht man diverse Bilder aus einem Videochat.

Der zweite Lösungsansatz lautet: Theorie und Praxis verbinden. In deiner Arbeit steht die Patient*innen- oder Klient*innenversorgung im Mittelpunkt. Trotzdem freuen sich deine Kolleg*innen sicherlich über frischen Input in Intervision oder Fortbildungen. Vielleicht kannst du einen Teil deiner Arbeitszeit nutzen, um dich in ein Thema einzuarbeiten und deine Erkenntnisse dann zu teilen, so dass das ganze Team davon profitiert. Vielleicht inspirierst du andere dazu, das gleiche zu tun und ihr bleibt gemeinsam wissenschaftlich am Ball.  

Der dritte Lösungsansatz lautet: Statt in deinem Terminkalender jede Woche mühsam Zeit für die Wissenschaft freizuschaufeln, reicht womöglich ein Wochenende pro Jahr. Auch als Praktiker*in kannst du an Kongressen teilnehmen, auf denen die aktuellste klinisch-psychologische Forschung von Expert*innen vorgestellt wird. Für Psychotherapeut*innen in Ausbildung gibt es oft Ermäßigungen. Hier folgt eine unvollständige Liste wichtiger klinisch-psychologischer Kongresse: DGPPN Kongress, die Fachgruppentagung Klinische Psychologie und Psychotherapie der DGPs, die EACLIPT Konferenz und der Kongress der SPR.

Drei Frauen, von oben fotografiert, sitzen vor einem Laptop und zeigen auf den Bildschirm.

2) Ich habe keinen Überblick

Jeden Tag werden hunderte wissenschaftliche Artikel veröffentlicht. Wie ist es möglich, darunter die relevantesten zu erkennen, ohne die Orientierung zu verlieren? Ein Lösungsansatz lautet: Verschaffe dir einen Überblick, indem du aktuelle systematische Reviews und Meta-Analysen liest. Ein oder zwei reichen aus, um dir einen fundierten Einstieg in ein Thema zu ermöglichen. Nutze technische Mittel, um up to date zu bleiben. Hierfür kannst du Newsletter von Fachzeitschriften abonnieren. Von wissenschaftlichen Datenbanken kannst du dir Updates schicken lassen, wenn zu bestimmten Fachbegriffen ein neuer Artikel erscheint. Auf Researchgate, dem Facebook der Forschung, sind mittlerweile fast alle Wissenschaftler*innen zu finden. Einigen kannst du auch auf Twitter folgen und so über ihre Arbeit informiert bleiben.

3) Ich habe keinen Zugang

„Wollen Sie Zugriff auf diesen Artikel?“- „Ja schon, aber 30 € möchte ich dafür eigentlich nicht zahlen…“ Viele Artikel sind hinter einer sogenannten Paywall. Das bedeutet, sobald du nicht mehr an einer Uni immatrikuliert bist, die ihren Studierenden den Zugang zu Artikeln bereitstellt, musst du selbst dafür bezahlen. Der Film Paywall: The Business of Scholarship zeigt auf, wie Wissenschaftsverlage Profit generieren, welche Probleme dabei entstehen und welche Lösungsansätze existieren. Der Film liegt erfreulicherweise nicht hinter einer Paywall, sondern ist frei verfügbar auf YouTube und eine unbedingte Empfehlung.

Aber wie kannst du die Paywall, hinter der dieser interessanter Artikel liegt, nun konkret überwinden?

Eine gute Nachricht vorab: Es liegen nicht alle interessanten Artikel hinter einer Paywall – auch nicht alle qualitativ hochwertigen. Immer mehr wissenschaftliche Fachzeitschriften setzen auf open access. Deshalb folgt hier eine nicht vollständige Liste von Zeitschriften, welche die Ergebnisse aus der psychologischen Forschung, für die wir alle durch unsere Steuern zahlen, auch für uns alle zugänglich machen: Frontiers in Psychology, Frontiers in Psychiatry, PlosOne, Clinical Psychology in Europe, BMC Psychology, European Journal of Psychotraumatology, Systematic Reviews.

Mann sitzt am Laptop, tippt mit einer Hand und hat in der anderen eine Kreditkarte.

Falls der Artikel, der dich interessiert, allerdings doch hinter einer Paywall liegt, gibt es trotzdem Möglichkeiten, ihn zu lesen, ohne zu zahlen: Die Autor*innen der Artikel haben fast immer das Recht, eine eigene Version des Artikels weiterzugeben. Diese Autor*innenversionen heißen author manuscript, pre-print oder post-print. Sie sind anders formatiert als in der Fachzeitschrift, aber inhaltlich meist nahezu identisch. Viele Autor*innen stellen diese Versionen auf ihrer Website oder auf Researchgate zur Verfügung. Alternativ kannst du die Autor*innen kontaktieren und um Zugriff bitten. Es gibt keinen Grund, schüchtern zu sein. Höchstwahrscheinlich freuen sich die Autor*innen sogar über dein Interesse. Über Researchgate kannst du Autor*innenversionen von Artikeln sogar automatisiert erfragen. Ein Klick genügt.

Ich hoffe, ich konnte dir hiermit ein wenig helfen, typische Hürden, die zwischen praktizierenden Psychotherapeut*innen, Coaches oder Berater*innen und der sich ständig weiterentwickelnden Forschung liegen, zu überwinden. Folgende Grundhaltung kann dabei hilfreich sein: Durch deine Ausbildung als Psychotherapeut*in, Coach, Berater*in hast du schon eine ausgezeichnete Basis geschaffen. Wenn du dich an den Behandlungsleitlinien orientierst, dich regelmäßig fortbildest und an Super- oder Intravisionen teilnimmst, erweiterst du diese Basis Schritt für Schritt. Wenn du denjenigen Themen und Fragen, die dabei aufkommen, noch weiter folgen möchtest, gibt es viele Möglichkeiten, dich vertiefter mit der aktuellen Forschung dazu auseinanderzusetzen. Das ist kein Pflichtprogramm, sondern Bonus. Es soll deinen Interessen entsprechen und Spaß machen.

*RDoC = Research Domain Criteria. Ein Rahmenmodell für die Erforschung psychischer Störungen. Es bezieht verschiedene Informationsebenen (z. B. Selbstberichte, Verhaltensweisen und biologische Marker) ein, um gesunde wie auch pathologische Funktionsbereiche zu beschreiben.
*HiTOP = Hierarchical Taxonomy of Psychopathology. Ein Klassifikationssystem für die Beschreibung psychischer Probleme, das deren dimensionale Natur betont.
*HARKing = Hypothesizing After the Results are Known. Widerspricht der guten wissenschaftlichen Praxis, Hypothesen vor der Datenerhebung, Datenauswertung und Interpretation der Ergebnisse aufzustellen.
*p-hacking = sämtliche Methoden, die Forscher*innen anwenden, um einen signifikanten p-Wert zu erhalten, obwohl die ursprünglich geplanten Analysen kein signifikantes Ergebnis liefern. Zum Beispiel, die Datenerhebung stoppen, sobald ein signifikanter p-Wert erreicht wurde, so lange Daten erheben, bis ein signifikanter p-Wert erreicht wird oder die Analyseparameter anpassen.