Was ist neu in der ICD-11?

Frau, die ein Buch liest

Die ICD-10 ist als Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme seit Jahrzehnten fester Bestandteil der täglichen psychotherapeutischen Praxis. Die Revision wurde Anfang des Jahres international eingeführt. Was bringt uns nun die ICD-11? Und ab wann gilt sie eigentlich?

Die Klassifikationssysteme ICD und DSM werden seit ihrer Einführung regelhaft in Form von „Revisionen“ auf den Stand der Wissenschaft gebracht und veröffentlicht. Das DSM-5 wurde bereits 2015 eingeführt. Die ICD-11 wurde – nach einer über 10-jährigen internationalen Entwicklungsarbeit – im Mai 2018 von der WHO verabschiedet und zum ersten Januar 2022 international eingeführt. Wann die praktische Anwendung der ICD-11 im Bereich der Vertragspsychotherapeut:innen in Deutschland beginnen kann, ist derzeit noch nicht absehbar. Aktuell ist noch keine vollständige deutschsprachige Version der ICD-11 verfügbar. Zu vermuten ist auch eine längerfristige Übergangsphase, in der ICD-10 und ICD-11 parallel genutzt werden. Wir möchten in diesem Beitrag einige der bereits erkennbaren relevanten Neuerungen beleuchten.
 

Neue Architektur der Klassifikationssysteme

Bei einem ersten Blick in die ICD-11 wird deutlich, dass nach ca. 30 Jahren ICD-10 grundlegende Änderungen in der Architektur des Klassifikationssystems vorgenommen wurden. Als erstes darf das vertraute „F“ verabschiedet werden, mit dem bislang psychische Störungen kodiert wurden. Psychische Störungen gehören in der ICD-11 zu Kapitel 6 und ihre Kodierungen beginnen künftig statt mit einem „F“ mit einer „6“. Statt der Verwendung einzelner ICD-10-Codes werden nun in der ICD-11 Stammcodes eingeführt. Diese können gegebenenfalls miteinander kombiniert werden und um Erweiterungscodes aus dem Kapitel X ergänzt werden. Hierdurch soll einerseits die Anzahl der Stammcodes klein gehalten und gleichzeitig eine bessere und genauere Erfassung der Symptomatik erreicht werden. Stammcodes werden mit einem „/“ verbunden, Erweiterungscodes mit einem „&“. Im Vergleich zum Kapitel F der ICD-10 wurde das Kapitel 6 der ICD-11 stärker als zuvor an das DSM-5 angepasst. Im Folgenden wollen wir schlaglichtartig einige für die psychotherapeutische Praxis relevante Neuerungen vorstellen.

Sanduhr im Sand

Was ist neu aus Trauma-Sicht?

Zunächst wurde die Trauma-Definition in der ICD-11 erweitert: Während traumatische Erfahrungen in der ICD-10 als Ereignisse „mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß“ verstanden wurden, kommt nun ein wesentlicher neuer Gedanke hinzu: Hiernach können auch Menschen unter posttraumatischen Belastungen leiden, die nicht unmittelbar selbst von dem traumatisierenden Ereignis bedroht waren (wie z. B. Polizei- oder Rettungskräfte). Eine der wichtigsten Änderungen auf der Ebene der Diagnosen ist die Neueinführung der „Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung“ (6B41), die es so bislang in der ICD-10 nicht gab. Traumatherapeutisch tätige Psychotherapeut:innen mussten bislang bei Komplex-Traumatisierten eine Art Notbehelfs-Diagnose (F62.0: Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung) verwenden, was dank der o. g. neuen Diagnose nun nicht mehr nötig ist.

Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) heißt in der ICD-11 analog zum DSM-5 „dissoziative Identitätsstörung“ (6B64). Die ICD-11 definiert diese Störung ausführlicher und präziser. Die Diagnose DIS bekommt mit der „partiellen dissoziativen Identitätsstörung“ (6B65) eine neue Schwesterdiagnose zur Seite gestellt: Diese zeichnet sich im Gegensatz zur DIS durch weniger ausgeprägte Spaltungen zwischen den Persönlichkeitszuständen aus. Während regelmäßig teildissoziiertes Handeln zu beobachten ist, treten bei der partiellen DIS in der Regel keine traumabedingten Amnesien auf (Gysi, 2021).

Der bisherige ICD-10 Code „Akute Belastungsreaktion“ findet sich nun als „Akute Stressreaktion“ (QE84) im Kapitel 24 der ICD-11, die Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitssystems führen, umfasst.

Die Anpassungsstörung bleibt bestehen (ICD-11: 6B43), aber ihre Kriterien wurden präzisiert und die früheren Unterdiagnosen (F43.21: „längere depressive Reaktion“) wurde in der ICD-11 aufgegeben. Die länger als sechs Monate anhaltende Trauer wird als eigenständige Störung, als „anhaltende Trauerstörung“ (6B42) in Abgrenzung zur Depression und Anpassungsstörung in der ICD-11 neu eingeführt.
 

Was ist neu bei Gender-Themen?

Transidentität wurde in der ICD-10 mit der Diagnose „Transsexualismus“ (F64.0) unter „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ codiert. Bereits das DSM-5 ging mit der Diagnose „Gender Dysphoria“ (302.85) einen Schritt in Richtung Entpathologisierung. Das ICD-11 geht hier noch sehr viel weiter, indem „Geschlechtsinkongruenz“ völlig neu in die Rubrik „Probleme/Zustände im Bereich der sexuellen Gesundheit“ (17HA60/61; Reininger & Briken, 2021) einsortiert wird. Die im ICD-10 beschriebenen „Störungen der Geschlechtsidentität“ finden sich also nicht mehr im Kapitel 6, sondern im neu geschaffenen Kapitel 17, gelten also nicht mehr als Krankheit.

Das hat nicht nur eine Entpathologisierung nonbinärer Lebensweisen zur Folge, sondern wird sich aller Voraussicht nach auch auf die Umsetzung des Transsexuellengesetzes (TSG) auswirken (vgl. Günther et al., 2021; Rauchfleisch, 2019).

Junge in einer Regenbogenflagge auf einem Auto

Was ist neu bei Persönlichkeitsstörungen?

Traditionell wurde in den deskriptiven Klassifikationssystemen DSM und ICD Persönlichkeit ausschließlich kategorial (entlang der empirisch gefundenen „Big Five“) diagnostiziert. Die Erfahrungen in der Praxis waren aber nie so „trennscharf“ wie in der Forschung, sodass es häufig zu artifiziellen Komorbiditäten oder zur Verwendung von Restkategorien kam. Das DSM-5 hat daher versuchsweise im Anhang ein „alternatives Modell der Persönlichkeitsdiagnostik“ implementiert, das eine „hybride“ Diagnostik in kategorialer und dimensionaler Hinsicht erlaubt. Die ICD-11 geht hier noch einen Schritt weiter: Obligatorisch für die Persönlichkeitsdiagnostik ist ausschließlich die dimensionale Perspektive, eine kategoriale Einordnung kann optional ergänzt werden. Das bedeutet, dass Persönlichkeitsstörungen nicht mehr nach dem binären Muster „vorhanden/nicht vorhanden“ diagnostiziert werden müssen. Es können nun auch unterhalb der bislang gültigen Kriterien für Persönlichkeitsstörungen verschiedene Schweregrade von Persönlichkeitsproblematiken diagnostiziert werden. Dies trägt den Entwicklungen im Bereich der Strukturbezogenen Psychotherapie (SP) der letzten Jahrzehnte Rechnung (vgl. Rudolf, 2020; Hauten, 2021).
 

Was ist neu bei den Impulskontrollstörungen?

Begrüßenswert ist, dass die Spielsucht erstmals als eigene Störung (6C50) mitaufgenommen wurde. Während in der ICD-10 pathologisches Spielen auf das Glücksspiel (F63.0) beschränkt war, wurde in der ICD-11 auch die Computerspielsucht (Gaming Disorder, 6C51) als Störung hinzugenommen. Auch zwanghaftes Sexualverhalten (6C72) ist erstmals als eigenständige Impulskontrollstörungen diagnostizierbar. Hierunter zählt eine schädigende über sechs Monate andauernde Sexsucht, Internetsexsucht oder Telefonsex (vgl. Hypersexualität).
 

Was ist neu beim Burn-out?

Burn-out (QD85) wird weiterhin nicht als Krankheit, sondern als berufsbedingte Symptomatik definiert. Im Unterschied zur ICD-10 sind die Kriterien in der ICD-11 deutlich genauer definiert. Ähnlich wie bei „Gender Dysphoria“ und „Persönlichkeitsproblematik“ eröffnet diese Codiermöglichkeit Zugang zum Versorgungssystem ohne Feststellung einer Krankheit im engeren Sinne.
 

Was ist neu bei den somatoformen Störungen?

Die neu eingeführte Diagnose „Bodily Distress Disorder“ (6C20) hat große Überschneidungen mit der somatischen Belastungsstörung im DSM-5 und ersetzt die „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ der ICD-10 (F45.40) sowie weitere somatoforme Störungen. Die ätiologische Frage (somatisch oder psychisch?) tritt gegenüber dem Grad der Belastung und der psychosozialen Folgen der Symptomatik in den Hintergrund.
 

Was ist neu beim „Messie-Syndrom“?

Zwanghaftes Horten (6B24) wird in der ICD-11 als eigenständige Störung anerkannt, was einen Zugang zur Versorgung erleichtert.

Vier junge Menschen sitzen nebeneinander

Was ist neu aus Sicht der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie?

Trennungsangst, die in der ICD-10 nur auf Kinder beschränkt (F93.0: Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters) war, wird in der ICD-11 bei den Angststörungen einsortiert (6B05), die auch Erwachsene miteinschließt. Ebenso kann der selektive Mutismus (6B06) als eigenständige Angstdiagnose altersgruppenübergreifend kodiert werden.

Die Beispiele lassen die Hoffnung zu, dass die ICD-11 einen enormen Progressionsschritt darstellt. Sie trägt wissenschaftlichen, technischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung. Auch wenn die praktische Anwendung im beruflichen Alltag in Deutschland noch auf sich warten lässt, ist die Beschäftigung mit den Veränderungen schon jetzt lohnenswert.

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Dieser Artikel erschien ursprünglich in der VPP aktuell: Jungclausen, I., Hauten, L. & Lentzen, G. (2021). ICD-11 – What’s new? VPP aktuell, 55, S. 11-12.