ICD-11: Was bringt uns die neue Diagnose „komplexe PTBS“?
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung wird im ICD-11 als neue Diagnose hinzukommen. Inwieweit bildet sie Traumata differenzierter ab? Und entstehen daraus wirklich Vorteile für die Behandlungspraxis? Luise Reddemann beschäftigt sich seit 50 Jahren intensiv mit Trauma und Traumafolgestörungen und hat uns im Interview ihre Einschätzung gegeben.
Dem ICD-11 wurde die neue Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung hinzugefügt. Wie schätzen Sie das ein? Entstehen daraus Vorteile für die psychotherapeutische Diagnostik und Behandlungspraxis?
Der ICD-11 ist Anfang 2022 in Kraft getreten. Zwar ist er jetzt gültig, aber noch nicht eingeführt. Ich habe große Bedenken wegen der neuen Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Warum? Im ICD-11 steht, dass alle Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt sein müssen, damit die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung gestellt werden kann. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Mehrzahl der schwer traumatisierten Patient:innen gar keine PTBS-Symptomatik hat. Das würde bedeuten, dass diese dann alle durchs „Raster“ fallen. Dann müssen wir Psychotherapeut:innen wieder alle möglichen Symptomverschlüsselungen machen. So, wie das jetzt im ICD-11 geplant ist, bringt es uns ehrlicherweise aus meiner Sicht eigentlich gar nichts.
Aber gibt es denn auch einen Fortschritt durch die neue Diagnose?
Der Fortschritt besteht darin, dass anerkannt wird, dass die Problematik einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung existiert, dass Menschen vielfach traumatisiert sind und eine hochkomplexe Symptomatik vorweisen. Das ist natürlich ein Fortschritt, aber irgendwie auch ein Rückschritt, weil Judith Herman dies alles schon in den 1990er-Jahren beschrieben und auch empfohlen hat. Endlich kommt es bei uns an. Aber wenn dies an die PTBS gekoppelt ist, dann kann man diese Diagnose bei ganz vielen Patient:innen nicht stellen.
Wir haben zum Beispiel viele Patient:innen, die Gewalt und sexualisierte Gewalt in der Kindheit erlitten haben. Sie haben alles Mögliche, aber oft keine PTBS-Symptomatik.
Bildet nach Ihrer Auffassung das neue Klassifikationssystem die Bandbreite der möglichen Traumafolgestörungen hinreichend ab?
Ich möchte nochmals betonen: Es gibt viele schwer traumatisierte Menschen, die unter Symptomen leiden, die außerhalb der PTBS-Symptomatik stehen. Das können wir nicht verschlüsseln mit dieser Diagnose. Insofern sehe ich keinen allzu großen Fortschritt für komplexe Traumata. Diese Klassifikation birgt die eben beschriebenen Risiken, dass nämlich sehr belastete Menschen wieder durchs Raster fallen. Die neue Klassifikation bringt längst nicht so viel wie erhofft.
Ich bin anders sozialisiert. Ich bin Psychoanalytikerin und als wir anfingen, zu behandeln, da mussten wir noch keine Diagnosen schreiben für unsere Berichte an den Gutachter. Das ist schon einige Jahre her – aber es ging auch. Jetzt wird alles noch mehr verschlüsselt. Ob man damit den Patient:innen gerecht wird? Die Idee, dass wir zunächst einfach beschreiben, unter was die Patient:innen leiden, damals natürlich auch unter Bezugnahme des ICD-9, das hat für mich einen ganz anderen Wert. Da steckt mehr Begegnung darin, als wenn ich da eine Diagnoseverschlüsselung nehme und meine, damit könnte ich etwas abbilden.
Man könnte zum Beispiel das machen, was Judith Herman vorgeschlagen hat: „Disorders of extreme stress not otherwise specified“. Da lässt man eben die PTBS heraus. Das heißt dann eben auch nicht mehr komplexe posttraumatische Belastungsstörungen, sondern komplexe Traumafolgestörungen. Wenn wir es so bezeichnen würden, hätten wir aus meiner Sicht etwas in der Hand, was man verwenden könnte. Mir erschließt sich nicht, warum man das nicht so gemacht hat.
Es gibt zahlreiche traumatherapeutische Ansätze. Während klassisch verhaltenstherapeutische Ansätze eher eine Konfrontation mit Trauma-Erinnerungen oder Triggern forcieren, geht es bei Ihrer „Psychodynamisch imaginativen Therapie (PITT)“ mehr um Mitgefühl und Versorgung von verletzten Anteilen. Könnten Sie Ihren Ansatz kurz skizzieren?
PITT ist explizit für die Behandlung von komplex traumatisierten Menschen konzipiert. PITT ist schonender und das mögen manche Patient:innen. Das Grundprinzip besteht darin, immer alles mit den Patient:innen zu besprechen, alles genau zu erklären und die Zustimmung nach genauer Aufklärung zu erbitten. Das heißt also ggfs. auch, PITT nicht anzuwenden, wenn die Patient:innen die Methode als nicht für sie passend empfinden. In meiner Arbeit geht es nicht darum, negative Erfahrungen zu verändern, sondern das erwachsene Ich zu befähigen, damit besser umzugehen, u. a. dadurch, dass „verletzte Anteile“ versorgt und getröstet werden.
Unser Arbeiten findet immer in der therapeutischen Beziehung statt und ich glaube, dass die Berücksichtigung der therapeutischen Beziehung zentral ist, also einer hilfreichen Beziehung, in der Patient:innen sich gut aufgehoben fühlen können. Mir geht es nicht in erster Linie um eine Traumakonfrontation. Den Forderungen von Kolleg:innen, dass man so schnell wie möglich konfrontieren solle, kann ich nicht zustimmen. Aus meiner Sicht kann so nämlich keine Beziehung aufgebaut werden. Für interpersonell traumatisierte Menschen, um die es sich in der Regel handelt, ist es aber enorm wichtig, sich auf eine tragfähige Beziehung einlassen zu können. Das kann man natürlich verbinden mit Konfrontation, aber das braucht Zeit!
Ich selbst habe auch nichts gegen schnelles Konfrontieren, wenn ich erkennen kann, dass ich rasch mit dem/der Patient:in eine tragfähige Beziehung aufbauen kann. Leider können die meisten komplex traumatisierten Patient:innen dies nicht, weil sie oft so viel Schlimmes von nahen Bezugspersonen erfahren haben, sodass sie natürlich zunächst auch kein Vertrauen zu uns Therapeut:innen haben. Sie unterwerfen sich oft und machen mit, was man ihnen sagt. Aber damit, glaube ich, tut man ihnen letzten Endes keinen Gefallen.
Nochmals: Wir sollten uns Zeit lassen für den Aufbau einer tragfähigen Beziehung. Das gelingt am ehesten, indem man sich für die Lebensgeschichte und das Leiden der Patient:innen mitfühlend interessiert. Es geht zunächst um Ich-Stärkung oder Stabilisierung, sodass man erst einmal hilft, dass sie mit ihrem Alltag besser klarkommen, bevor man mit ihnen eine Konfrontation macht. Meine Erfahrung mit komplex traumatisierten Patient:innen ist, dass es sehr viel Zeit gebraucht hat, um zu diesem Punkt zu kommen. Und auch, dass ganz viele gar nicht so weit kommen wollen. Viele Patient:innen sind zufrieden, wenn sie eine Ahnung davon bekommen, was ihnen widerfahren ist. Sie wollen nicht näher „reingehen“ in die Szene.
Natürlich gibt es Patient:innen, denen man einen Gefallen tut, wenn man konfrontiert. Bei komplex traumatisierten Patient:innen muss man in aller Regel mehr als nur ein Trauma durcharbeiten. Das sind meistens relativ viele, und auch dafür brauchen die Menschen immer wieder Atempausen, damit sie wieder im Alltag gut ankommen – und nicht eine Konfrontation nach der nächsten. Wir dürfen die Fähigkeit unserer Patient:innen, mit ihrem Alltag einigermaßen klarzukommen, nicht riskieren!
Bitte lassen Sie mich hier noch einmal nachhaken. Verstehe ich Sie recht, dass Sie grundsätzlich nicht gegen Konfrontation sind?
(lacht) Das ist so eine Story über Luise Reddemann. Sie konfrontiert nicht. Dabei kann man in jedem meiner Bücher zu PITT nachlesen, wie ich konfrontiere. Natürlich konfrontiere ich auch, aber ich bin nicht der Meinung, dass dies das Einzige sei, was hilft.
Traumakonfrontation kann sehr sinnvoll sein. Ich arbeite aber auch hier anders als viele meiner Kolleg:innen. Ich arbeite so, dass sich die Patient:innen aus einer Beobachterperspektive, die eingeübt wird, ihre Geschichte anschauen. Ich gehe bewusst nicht mit ihnen „rein“ in die Szene, damit sie diese fühlend erleben. Ich biete den Patient:innen an, dass sie aus der Beobachterperspektive selbst regulieren, wie nah sie das Erleben an sich rankommen lassen wollen. Und wenn sie nur distanziert hinschauen und beschreiben können, was dieses traumatisierte Ich durchgemacht hat, ist mir das genauso lieb, wie wenn sie es erleben. Damit stehe ich ein wenig quer zum aktuellen Mainstream, der behauptet, das Trauma muss noch einmal durcherlebt werden. Ich bezweifle das!
Ich bin für das Schonen. In der Körpermedizin ist ein großes Bemühen erkennbar, zum Beispiel Operationen so schonend wie möglich zu machen. In der Chirurgie, die ja ein bisschen Ähnlichkeit hat mit Konfrontation, wird man immer schonender in seinen Verfahren, wohingegen man sich in der Traumatherapie-Szene – so mein Eindruck –, bemüht, den Menschen immer mehr abzufordern. Das ist nichts, was ich machen will.
Einerseits ist die Psychotherapieausbildung sehr lang und umfangreich, andererseits kann in ihrem Rahmen nur ein Bruchteil dessen gelehrt werden, was man heute über die Behandlung von Traumafolgestörungen weiß. Was würden Sie jungen Kolleg:innen empfehlen?
Zunächst einmal würde ich jungen Kolleg:innen raten, nicht mit Behandlungen zu beginnen, wenn sie in einer Sache nicht gut aus- bzw. fortgebildet sind. Wie will man kundig helfen, wenn man weder über die Probleme noch über deren Lösungen einigermaßen Bescheid weiß. Und daher sollten sie möglichst verschiedene Ansätze kennenlernen. Das ist ein Problem in Deutschland: Wir haben nur vier anerkannte Therapieverfahren. Wenn wir bedenken, dass in Österreich und der Schweiz durchaus auch hilfreiche Psychotherapie gemacht wird, obwohl sie erheblich mehr Möglichkeiten haben, verschiedene methodische Wege zu gehen als wir, sollte uns das nachdenklich machen.
Viele Wege führen nach Rom, das ist so ein Standardspruch von mir. Vorrangig muss man mit den Patient:innen gemeinsam schauen, muss sie gut kennenlernen, um dann zu entscheiden, welchen Weg man ihnen vorschlagen kann. Übrigens sollte man sie auch durchaus mal ermuntern, sich selbst zu informieren. Dann können die Patient:innen im Allgemeinen anschließend ziemlich gut sagen: „Das spricht mich an und das möchte ich lieber nicht.“ Ich mache auch nicht PITT mit meinen Patient:innen, wenn ich den Eindruck habe, das ist nicht der richtige Weg. Wir dürfen uns nicht so fixieren auf die Methoden. Wichtig ist, erstens die Beziehung, und zweitens gemeinsam einen Weg zu finden, der für die Patient:innen stimmig ist.
Wenn Sie ein Wunsch frei hätten, um die Versorgung von traumatisierten Menschen zu verbessern. Was wäre das?
Ich bin fast 80 Jahre alt. Der Mainstream liegt mir nicht unbedingt am Herzen, nicht zuletzt deshalb, weil ich in über 50 Jahren erfahren habe, wie viel gehypt wurde. Bescheidenheit scheint mir sehr wichtig und der Respekt vor den Lösungen der Patient:innen. Danach müssen wir uns erkundigen und gemeinsam schauen, was gehen könnte. Methoden sind nicht falsch, aber sie sind nicht alles, längst nicht alles.
Und mein großer Wunsch: Wissen Sie, mir wäre es lieber, die Menschen würden dahin gelangen, dass sie sich gegenseitig nicht traumatisieren. Das ist meine Sehnsucht, meine Hoffnung, dass wir Wege finden, miteinander freundlich umzugehen und Menschen nicht zu traumatisieren durch Gewalt und sexualisierte Gewalt.
Und ich sage es mal anders: Ich wünsche mir so viel wie möglich Freundlichkeit, Respekt, Mitgefühl, sodass Menschen keine Therapie brauchen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Reddemann!
Über Prof. Dr. med. Luise Reddemann:
Luise Reddemann ist Nervenärztin, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Seit 50 Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Trauma und Traumafolgestörungen und entwickelte ein Konzept zur Behandlung von Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen, die „Psychodynamisch imaginative Traumatherapie“ (PITT).
Dieses Interview ist eine gekürzte Version des ursprünglich in der VPP aktuell erschienenen Interviews: „Trauma ist nicht alles – Methoden sind nicht alles!“, VPP aktuell, 58, S. 4-7.