Der Mitgefühlsermüdung entgehen - Gefahren der sekundären Traumatisierung in der Psychotherapie
Als Therapeut setzt du dich mit den Lebensereignissen deiner Patienten auseinander, wirst auch Zeuge von Gewalterlebnissen. Etwas weniger intensiv als sie, durchlebst du Gefühle von Angst, Wut und Verzweiflung. Sekundäre Traumatisierungen können die Folge sein. Was kann dich als Therapeut in dieser Situation gesund erhalten? Unser Autor Sven Steffes-Holländer hat sich mit dem Thema beschäftigt.
„Menschen zu finden, die mit uns fühlen und empfinden, ist wohl das schönste Glück auf Erden“
Carl Spitteler
Als Arzt und Psychotherapeut setze ich mich mit den Lebensereignissen meiner Klienten auseinander. Wir lachen miteinander, schweigen miteinander, sehen uns an, hören uns zu und häufig fließen auch Tränen. Sie berichten mir von ihren Lebenserfahrungen, den erlittenen Verletzungen, den biografischen Einflüssen – und sie berichten über Gewalterlebnisse wie sexuellen Missbrauch, körperliche Angriffe, dramatische Arbeits- oder Verkehrsunfälle, ihre Erfahrungen von Ausgrenzung und Mobbing. Als Psychotherapeut spüre ich ihre Empfindungen, durchlebe mit ihnen gemeinsam unterschiedliche Gefühle wie Trauer, Freude, Zorn, Ekel oder Angst.
Eine italienische Forschergruppe der Universität Parma um den Physiologen Giacomo Rizzolatti stieß 1996 zufällig auf die Spiegelneuronen, die Zellen, die uns zu einfühlsamen, sozialen und intuitiven Wesen machen. Das Funktionieren der Spiegelneuronen ist für meine alltägliche Arbeit unentbehrlich und von existenzieller Bedeutung: die Fähigkeit, meine Klienten zu spiegeln, ihre Emotionen zu erspüren. Sie funktionieren unbewusst, ohne, dass ich darüber nachdenke und lassen mich erahnen, was mein Gegenüber als nächstes tun wird.
Diese Fähigkeit kann jedoch einen hohen Preis haben. Sie kann über die Dauer eines Berufslebens zu Mitgefühlsmüdigkeit oder sogenannter sekundärer Traumatisierung führen, als eine natürliche, aber störende Folge der Arbeit mit traumatisierten Klienten. Es handelt sich um eine Reihe beobachtbarer Reaktionen auf die Arbeit mit traumatisierten Menschen, die die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) widerspiegeln (Figley, 1995).
Eine natürliche Folge fürsorglichen Handelns
Charles Figley (1995) beschrieb sekundären traumatischen Stress als eine natürliche Folge fürsorglichen Verhaltens zwischen zwei Menschen, von denen die/der eine traumatisiert ist. Diese Wirkmechanismen seien eher eine normale Begleiterscheinung des fürsorglichen Umgangs mit Traumatisierten.
Das Trauma ist sozusagen infektiös. In meiner Rolle als Therapeut werde ich zum Zeugen all der Gewalterlebnisse meiner Patienten. Etwas weniger intensiv durchlebe ich ebenfalls Gefühle von Angst, Wut und Verzweiflung. Auch ich kann weder kämpfen noch fliehen, auch ich gefriere in bestimmten Situationen im Angesicht des erlebten Schreckens.
Bei manchen unserer Kollegen kann das bis zur „traumatischen Zange“ führen, einem Starrezustand: Durch die kumulative Wirkung der vielfältigen traumatischen Erfahrungen ihrer Klienten frieren sie emotional immer mehr ein. Wie bei der primären Traumatisierung funktioniert die Wahrnehmungsverarbeitung nicht mehr wie gewohnt, es kann sogar zur Abspaltung von Wahrnehmungsinhalten, Fragmentierung von Sinneserfahrungen oder Ausblendung von Wahrnehmungen im Sinne einer Schutzfunktion kommen, die bis hin zu dissoziativen Zuständen führt.
Dieses Phänomen betrifft nicht nur Psychotherapeuten, sondern auch andere Berufsgruppen wie Ärzte, Rettungskräfte, Sozialarbeiter und Erzieher, die in ihrer Tätigkeit mit traumatisierten Klienten und ihren Erlebnissen konfrontiert sind.
Sekundärtraumatische Erlebnisse häufen sich an
Zu den Symptomen können Gefühle wie Ohnmacht, Isolation, Gefühle emotionaler Taubheit, das Gefühl, von starken Emotionen überflutet zu sein, erhöhte Sensibilität gegenüber Gewalt, Niedergeschlagenheit, Angst, erhöhte Schreckhaftigkeit und körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Erschöpfung, Verdauungsprobleme oder Schlafstörungen gehören. Sie werden oft unterschätzt, können dabei schnell als unbedeutend und vorübergehend abgetan werden. Es zeigen sich Schwierigkeiten, die Arbeit vom Privatleben abzugrenzen, Flucht- oder Suchtverhalten mit Hilfe von Nikotin, Alkohol, übermäßigem Essen, Substanzmissbrauch oder Online-Sucht.
Bleiben diese Symptome unbehandelt, werden Sie zur Belastung in privaten Beziehungen und verringern auf Dauer auch die Arbeitsleistung (Pryce, Shackelford & Pryce, 2007).
Obwohl die Auslöser manchmal als relativ unbedeutend wahrgenommen werden, können sie dennoch eine kumulative Wirkung haben. Sekundärtraumatische Erlebnisse können sich mit der Zeit immer weiter anhäufen.
„Menschen werden vom Bösen gefressen, weil sie seine Gesellschaft suchen, nicht weil sie es meiden.“
Afrikanisches Sprichwort
Täter-Opfer-Reinszenierung
Michaela Huber beschrieb 2004 treffend den Aspekt einer Täter-Opfer-Reinszenierung. Behandler können sich auch selbst durch emotionale Überflutung oder fehlende Grenzwahrung des Klienten als Opfer erleben und durch fehlende Behandlungsfortschritte hilflos und ohnmächtig fühlen. Hoffnungslosigkeit oder eine depressive Grundstimmung können sich ausbreiten. Oder aber sie geraten in eine Täterdynamik, verlieren das Gespür für die Grenzen des Traumatisierten, bagatellisieren die Not des Opfers, erleben Wut und Aggression gegenüber dem Betroffenen oder reagieren passiv aggressiv, indem sie den Kontakt vermeiden oder Termine vergessen.
Traumatisierte verhalten sich häufig als „chronische Opfer“. Als Behandler verspüre ich zumeist einen „Bindungsschrei“: „Sie müssen mir jetzt sofort helfen!“. Sie können in eine aggressive Opferhaltung rutschen: „Die Gesellschaft (als Stellvertreter der Behandelnde) ist mir etwas schuldig“. Dies können Behandelnde wie einen Anschlag auf ihre Ressourcen, ihren Optimismus, ihren Humor, ihre Hoffnung und ihren Idealismus empfinden und so Quellen von Zynismus, Abstumpfung, Selbstvernachlässigung, Overinvolvement, Verzweiflung und Resignation werden.
Die Anzeichen einschätzen
Jedoch können Anzeichen von Mitgefühlsermüdung bei sich selbst oder bei anderen schwer zu erkennen sein. Die Symptome umfassen häufig eine Kombination aus kognitiven, verhaltensbezogenen, emotionalen und physischen Merkmalen. Sie können auch eine spirituelle Komponente wie das Hinterfragen des Sinns der Tätigkeit oder den Verlust des Glaubens beinhalten.
Um eine Selbsteinschätzung vorzunehmen, kann z.B. der Fragebogen zur Sekundären Traumatisierung nach Dr. Judith Daniels (2006) hilfreich sein. Mit 31 Fragen umfasst dieser die Phase der stärksten Belastung während der Berufstätigkeit und erhebt die zurückliegenden Erkrankungs- oder Belastungsphasen – also nicht die aktuelle Befindlichkeit. Der Secondary Trauma Questionnaire (STQ) wurde 1998 von Motta & Joseph zur Erfassung der Reaktionen auf sekundäres Traumaerleben entwickelt und von Maercker (2001) ins Deutsche übersetzt.
Kohärenzsinn und soziale Unterstützung
Was kann uns als Therapeuten in dieser Situation gesundhalten? Antworten gibt z.B. Antonovsky (1987): Je höher unser Kohärenzsinn, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, nicht in die Spirale der Sekundärtraumatisierung zu geraten. Was brauchen wir dazu?
- Verstehbarkeit –wenn Erlebnisse als vorhersehbar oder erklärbar wahrgenommen werden
- Sinnhaftigkeit – wenn Anforderungen als sinnvolle Herausforderungen angesehen werden
- Bewältigbarkeit – wenn die geeigneten Ressourcen als ausreichend vorhanden angesehen werden
Jennifer Hensel publizierte 2015 im Journal of Traumatic Stress die Ergebnisse ihrer Metaanalyse zu Prädiktoren: Je mehr soziale Unterstützung durch Freunde, Partner oder Familie empfunden wird sowie Unterstützung bei der Arbeit durch die Leitungsebene und durch Kollegen, desto weniger Belastung mit Sekundärer Traumatisierung tritt auf.
Ressourcenkoffer – auch für den Therapeuten
Es stellt sich die Frage, was in meinem Inneren Trost braucht. Auch als Therapeut in Bedrängnis brauche ich einen „inneren Wohlfühlort“, einen „Tresor“, um belastende Erinnerungen aus der Therapie gut zu verpacken und meinen Alltag davor zu bewahren. Ich persönlich profitiere von der „Lichtstrahlübung“ und lerne dabei, für mich inneres »heilendes« Licht zu sammeln, welches mich im Alltag schützt. Ich besuche meinen „inneren Garten“ (nach Michaela Huber, 2004), einen inneren Ort der Natur, wo ich Entspannung und Abgrenzung zwischen zwei Therapiesitzungen finden kann oder gehe in Kontakt mit meinem „inneren Beobachter“, um mich innerlich distanzieren zu können. Auch als Therapeut benötige ich einen „Ressourcenkoffer“, um mich vor, während und nach den Sitzungen regenerieren zu können.
Margarete Udolf formulierte 2008 als Hilfe das ABC des Schutzes vor Sekundärer Traumatisierung:
- A wie Achtsamkeit: Achte auf dich selbst, auf deine Bedürfnisse, Grenzen und Ressourcen.
- B wie Balance: Achte auf dein Gleichgewicht zwischen Arbeit, Freizeit und Ruhe.
- C wie Connection: Bleibe in Verbindung mit dir selbst, Menschen und der Natur.
Sekundäre Traumatisierung erscheint also nicht als Zeichen mangelnder Professionalität, sondern als eine Folge ausgeprägter Empathiefähigkeit, als eine normale Reaktion auf unnormale Informationen. Die eigene (oder supervisorische) Überprüfung der Belastung mit sekundärtraumatischen Symptomen kann einer Chronifizierung vorbeugen. Ebenso Selbstfürsorge, Achtsamkeit, Achtung der eigenen Belastungsgrenzen und Selbstmitgefühl.
Schon Judith Lewis Herman stellte 1993 fest, dass niemand auf Dauer auf sich allein gestellt mit Traumaopfern arbeiten kann. Kollegiale Unterstützung und das Aufbauen professioneller Netzwerke von Traumatherapeuten sind notwendig, um traumatisierte Klienten dauerhaft unterstützen zu können. Der eigenen Resilienz wird durch die Nutzung und den Ausbau eigener Entspannungs- und Freizeitmöglichkeiten am besten gedient (Fooken, 2009).
Posttraumatisches Wachstum
„Das Wissen um eine Lebensaufgabe hat einen eminent psychotherapeutischen und psychohygienischen Wert. Wer um einen Sinn seines Lebens weiß, dem verhilft dieses Bewusstsein mehr als alles andere dazu, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden.“
Dieses Zitat von Viktor Frankl beschreibt eine entscheidende Ressource der Arbeit mit meinen Klienten, aber auch im Umgang mit mir selbst.
Unser Beruf erfordert eine Auseinandersetzung „mit dem Bösen in der Welt“ und führt in der Auseinandersetzung mit traumatischen Erfahrungen und ggf. auch eigener Sekundärtraumatisierung im besten Fall zum „posttraumatischen Wachstum“ (nach Tedeschi & Calhoun, 2004) durch:
- die Intensivierung der Wertschätzung des Lebens,
- die Intensivierung der persönlichen Beziehungen,
- die Bewusstwerdung der eigenen Stärken,
- die Entdeckung von neuen Möglichkeiten im Leben,
- die Intensivierung des spirituellen Bewusstseins.
„Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen“
Edmund Burke, englischer Philosoph (1729-1797)
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