Ererbte Wunden erkennen und heilen

Frau sitzt auf Stuhl, hat den Kopf in die Hände gestützt und schaut traurig.

Seelische Wunden der Eltern können prägende Spuren hinterlassen. Sie verursachen sogar Symptome, als hätten die Betroffenen selbst das traumatische Erlebnis erlitten. Die meisten spüren dabei, dass die Symptome nicht zu ihrer eigenen Lebensgeschichte passen. Wie kannst du in der Therapie transgenerationale Traumata diagnostizieren und behandeln?

Seelische Wunden unserer Eltern können prägende Spuren bei uns und sogar unseren Kindern hinterlassen. Sie verursachen zum Teil Symptome, als hätten wir die traumatischen Erlebnisse selbst erlitten. Hierdurch können sich Symptome bis hin zum Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln.

Die meisten Betroffenen leiden unter einzelnen oder mehreren der folgenden Symptome: Albträume, Depressionen, Gefühle übernommener Trauer, Hilflosigkeit, Schuld oder Scham. Daneben finden wir auch ererbte Lebensgefühle, Selbstüberzeugungen oder ererbte Weltbilder, die dem eigenen Weltbild entgegenstehen. Die meisten Betroffenen spüren, dass die Symptome nicht zu ihrer eigenen Lebensgeschichte passen. Die hiermit verbundenen Gefühle sind aber nicht weniger stark.

Abbildung zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden ererbter und einer Wunden.

Dass es transgenerationale Traumatisierung gibt, wissen wir spätestens seit Untersuchungen an Kindern und Enkeln Holocaust-Überlebender. Die dort gemachten Befunde decken sich mit den Untersuchungsergebnissen, die inzwischen in Deutschland an Kindern und Enkeln von Traumatisierten im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurden (siehe auch Lampater & Holstein, 2010; Radebold, Bolheber & Zinnecker, 2008).

Aber nicht nur kollektive Traumatisierung, sondern auch jede unverarbeitete seelische Wunde kann weitergegeben werden. Konkret heißt dies, dass individuelle Erfahrungen von bspw. einem lebensbedrohenden Naturereignis, einem schweren Unfall, körperlicher oder sexualisierter Gewalt genauso weitergegeben werden können wie kollektive Traumata im Zusammenhang mit Genozid, Flucht, Vertreibung, Kriegserlebnissen oder sexualisierter Kriegsgewalt.

Hand mit weißem Handschuh, die eine weiße Labormaus mit roten Augen hält.

Wie erklärt man sich die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung?

Für die Weitergabe seelischer Wunden ist die Interaktion zwischen Eltern und ihren Kindern von wesentlicher Bedeutung. Jedes unverarbeitete Trauma der wichtigsten Bezugspersonen kann über Einfühlung des Kindes von diesem aufgenommen werden.

Ich spreche in dem Zusammenhang ganz bewusst von ererbten Wunden, nicht von vererbten Wunden. Der Begriff „Vererben“ verweist auf diejenigen, die etwas hinterlassen. Der Begriff „Ererben“ hingegen rückt die Generationen ins Zentrum, die etwas übernehmen. Meist versuchen die Vorfahren alles, um ihre Nachfahren vor den erlittenen traumatischen Erfahrungen zu schützen. Nichts liegt ihnen ferner, als die Traumatisierung vererben zu wollen. Über ihre Einfühlung bekommen Kinder die Stimmungen und Gefühle ihrer Bezugspersonen jedoch mit, unabhängig davon, ob die Erlebnisse erzählt oder verschwiegen werden. So können sich Traumainhalte auch über Tabuthemen vermitteln. Dies geschieht beispielsweise, wenn immer wieder bei einem bestimmten Thema der Fernseher ausgeschaltet oder das Programm gewechselt wird - oder die Bezugsperson jeweils Löcher in die Luft starrt und nicht mehr ansprechbar ist, also dissoziiert.

Die Interaktion zwischen Eltern und Kindern hinterlässt Spuren auf neurobiologischer Ebene. So lassen sich veränderte Stresshormonspiegel bis hin zu epigenetischen Veränderungen bei Kindern von Menschen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen finden (Yehuda, Halligan & Bierer, 2002; Jawaid et al., 2020). Diese epigenetischen Veränderungen erhöhen das Risiko für Nachfahren traumatisierter Menschen, eine Traumafolgestörung zu entwickeln, wenn sie selbst ein traumatisches Ereignis erleben. Im Tierversuch sind epigenetische Veränderungen über vier Generationen weitervererbbar (van Steenwyk et al., 2018).

Therapeutin auf einem Sessel macht sich Notizen, während Patient erzählt.

Bereits eine Diagnose kann entlastend wirken

Bis heute erfahren die meisten Menschen, die unter ererbten Wunden leiden, keine adäquate Hilfe, selbst wenn sie sich in Therapie begeben. Denn das Wissen über transgenerationale Traumatisierung ist immer noch zu gering. Nur was wir kennen, können wir erkennen. Und nur was wir erkennen, können wir heilen. Werden ererbte Wunden nicht erkannt, können sie dementsprechend nicht behandelt und geheilt werden. Daher stellt häufig bereits die Diagnose einer ererbten Wunde eine große Entlastung dar. Denn endlich kann das, was so lange unverständlich und somit auch unauflösbar war, eingeordnet werden. Eine ICD-10-Diagnose gibt es bisher nicht. Die Diagnose richtet sich also nach den berichteten Symptomen. Das transgenerationale Trauma wird eher im Rahmen des Störungsmodells relevant.

Auch ererbte Wunden können, analog zu eigenen traumatischen Erlebnissen mit Hilfe traumatherapeutischer Methoden verarbeitet werden.
 

Arbeit mit den verinnerlichten Bezugspersonen

Ich selbst bin seit 20 Jahren EMDR-Therapeutin und arbeite daher meist mit EMDR zur Aufarbeitung ererbter Traumata. Aber auch andere Methoden, wie die Bildschirmtechnik, haben sich bewährt.

Für diese unmittelbare Arbeit an der ererbten Wunde wird der/die Patient*in gebeten, wie in einem therapeutischen Rollenspiel für eine bestimmte Zeit der verinnerlichten traumatisierten Bezugsperson die Hauptrolle zu überlassen. Das Verarbeiten des Traumas erfolgt nach den Regeln des jeweiligen Verfahrens, wobei besonderes Augenmerk darauf zu richten ist, den/die Patient*in nicht zu früh aus der Rolle aussteigen zu lassen. Sollte während der Traumaaufarbeitung für mich unklar sein, ob die verinnerlichte traumatisierte Bezugsperson noch die Hauptrolle innehat, frage ich nach, mit wem ich gerade spreche. Wenn sich erweist, dass tatsächlich die verinnerlichte Bezugsperson nach hinten getreten ist, bitte ich diese, erneut die Hauptrolle zu übernehmen. Gegebenenfalls helfe ich dabei.

Junge Frau sitzt weinend auf einem Sofa und berichtet ihrem Gegenüber etwas.

Häufig stehen den verinnerlichten Bezugspersonen nicht alle Details eines belastenden Erlebnisses zur Verfügung, dadurch bleibt manches unschlüssig. Für den Prozess aber spielt das keine Rolle.

Seit 2003 habe ich in Therapiesitzungen, wie auch in Selbsterfahrungseinheiten meiner Seminarteilnehmer*innen unzählige solche Prozesse begleitet. Ererbte Wunden können durch die traumatherapeutische Verarbeitung vollständig vernarben, meist sogar in nur einer Sitzung. Daher empfiehlt sich diese von mir entwickelte Methode zur unmittelbaren Arbeit an der ererbten seelischen Wunde, wann immer sie möglich ist.
 

Welche Kontraindikationen gibt es?

Manchmal gibt es aber auch Gründe, die dagegensprechen:

  1. Eine Kontraindikation zu einer Arbeit, bei der die verinnerlichte Mutter oder der verinnerlichte Vater gebeten wird, die Hauptrolle zu übernehmen, liegt vor, wenn wir von dieser verinnerlichten Bezugsperson nichts Gutes erwarten können. Daher laden wir nur dann zu so einer Arbeit ein, wenn die Beziehung ausreichend gut war, keinesfalls dann, wenn die Bezugsperson selbst unser Gegenüber traumatisiert hat.
  1. Menschen, die ererbte Wunden in sich tragen, waren meist besonders loyale Kinder. Daher kommen manche auch mit der Hoffnung zu uns, sie könnten für ihre Eltern das Unverarbeitete aufarbeiten, damit es denen besser gehe. Das aber ist nicht möglich. Traumafolgestörungen können nur jeweils durch den verarbeitet werden, der unter diesen leidet - unabhängig davon, ob die Wunde ererbt oder selbst erlitten wurde. Erst wenn sich unser Gegenüber entscheidet, für sich selbst an der ererbten Wunde zu arbeiten, sollten wir dies auch anbieten.
  1. Eigene Traumata haben in der Regel Vorrang vor ererbten Traumata. Der wesentliche Richtungsweiser bei der Auswahl dessen, was bearbeitet werden soll, ist jedoch stets der Leidensdruck. Traumatische Erlebnisse wichtiger Bezugspersonen stellen selbstverständlich nur dann einen therapeutischen Auftrag dar, wenn es eine verinnerlichte Bezugsperson gibt, die leidet und Leiden verursacht.
Junge Frau sitzt auf einem Sofa ihrer Therapeutin gegenüber.

Übernommene Themen ablegen oder zurückgeben

Sollte ein Grund gegen die unmittelbare Verarbeitung der ererbten Wunde sprechen, ist es oft hilfreich, die Tresor-Übung anzuwenden, um gezielt übernommene Themen zu speichern und abzulegen.

Spezifischer auf ererbte Wunden zugeschnitten ist die von mir entwickelte Rückgabe-Übung. Hierbei wird imaginativ ein Paket geschnürt, in das all das kommt, was an Belastendem von einer bestimmten Bezugsperson ererbt wurde. Danach vergegenwärtigt sich der/die Patient*in die Bezugsperson, von der sie den Inhalt des Pakets ererbt hat. Mit Worten, die sich an die Bezugsperson richten, wird die Rückgabe des Paketes begleitet. Gegen Ende der Übung wird im Körper verortet, wo die Erleichterung am deutlichsten spürbar ist, sich der Körper besonders wohlig und leicht anfühlt. Ich lade ein, mit dieser Stelle Kontakt aufzunehmen. Und wann immer es guttut, kann auch zukünftig Kontakt zu dieser Stelle aufgenommen werden.
 

Zum Weiterlesen [Werbung]

Drexler, K. (2020) Ererbte Wunden erkennen. Wie Traumata der Eltern und Großeltern unser Leben prägen. Stuttgart: Klett-Cotta.

Drexler, K. (2017). Ererbte Wunden heilen. Therapie der transgenerationalen Traumatisierung. Stuttgart: Klett-Cotta