"Depression und Burnout machen auch vor Psychotherapeuten nicht Halt" – Interview mit Nora-Marie Ellermeyer
Nora-Marie Ellermeyer ist Diplom-Psychologin, vierfache Mutter und Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis, als sie selbst an Depression erkrankt. Ihre Erfahrungen mit der Erkrankung hat sie in Ihrem Buch „Lebensnebel“ veröffentlicht. Mit uns hat sie über ihr Buch gesprochen, über Fallstricke im therapeutischen Beruf, Warnzeichen und Bewältigungsmöglichkeiten. Ein Interview, das Mut macht, offen mit eigenen Grenzen und Schwächen umzugehen.
Wie kam es dazu, dass Sie angefangen haben, Ihre Erfahrungen mit Depression aufzuschreiben?
Die Erfahrung als Psychotherapeutin selbst an einer Depression zu erkranken, hat bei mir den Wunsch ausgelöst, ein Buch zu schreiben, das genau diese Doppelperspektive berücksichtigt. Das Buch „Lebensnebel“ beinhaltet einerseits kompaktes therapeutisches Wissen zur Aufklärung und zum Verständnis über Entstehung, Verlauf und die psychotherapeutische Behandlung von Burnout und Depression sowie andererseits meine ganz persönlichen Erfahrungen mit dieser schweren Erkrankung. Das Aufschreiben meiner eigenen Gefühle hat mir durchaus auch bei der Verarbeitung der Depression geholfen. Ich hatte über viele Jahre im stationären und im ambulanten Bereich mit der Behandlung von Depression zu tun und doch war es für mich vorher unvorstellbar, wie schlimm und abgrundtief eine Depression sich anfühlt. Über Depression aufzuklären und auch Kolleg:innen zu ermutigen, sich nicht beschämt hinter einer Depression zu verstecken, ist mir zu einem großen Herzensanliegen geworden. Eine Depression kann jeden Menschen treffen, aber sie ist auch behandelbar und lässt sich überwinden.
Meine eigene Geschichte offen zu erzählen, hat sich gelohnt.
Ich stelle mir vor, dass eine Menge Mut dazugehört, ein so persönliches Buch zu schreiben. Welche Reaktionen haben Sie dazu bekommen?
Das Buch zu schreiben war für mich auch der Versuch, die Abgründe der Depression in Worte zu fassen. Ich habe mit meiner Familie, Freund:innen und Kolleg:innen offen kommuniziert und immer wieder versucht, deutlich zu machen, wie schlecht es mir ging. Auch Menschen, die mich in der Krise begleitet haben, waren nach dem Lesen des Buches erschüttert. Einige haben gesagt: „Dass es dir so schlecht ging, habe ich gar nicht wahrgenommen“. Eine Depression nachzuvollziehen, ist für jemanden, der solche Zustände nicht kennt, kaum möglich. Von außen denkt man schnell: „Da muss man sich eben ein bisschen zusammenreißen“. Was es bedeutet, das Bett nicht verlassen zu können, die eigene Willenskraft nicht mehr aktivieren zu können und im Kopf von Ängsten, Zweifeln und dem quälenden Gefühl, nicht mehr man selbst zu sein, geplagt zu werden, lässt sich in seiner emotionalen Bedrohlichkeit kaum vermitteln. Es geht mir darum, das Bewusstsein zu stärken, dass eine Depression eine sehr schwerwiegende Erkrankung ist, die genauso unverhofft und schicksalhaft ein Leben erschüttern kann, wie eine körperliche Erkrankung auch. Wenn ich auf Lesereise bin, höre ich immer wieder, dass Betroffene zu mir kommen und sagen: „Ich kenne so vieles von dem, was Sie in ihrem Buch beschreiben, in vielem finde ich mich wieder und es tut gut, dass jemand das in Worte fassen kann und dass man damit nicht alleine ist“. Oft kommen auch Angehörige und sagen: „das Buch hilft mir, meinen Mann oder meine Tochter besser zu verstehen und es macht Mut, dass eine Depression vorbei gehen kann“. Dann bin ich glücklich und denke, der Mut, meine eigene Geschichte offen zu erzählen, hat sich gelohnt.
Mit den eigenen Gefühlen und den Signalen des Körpers in Kontakt zu bleiben
halte ich für wichtig.
Ich bin selbst Psychotherapeutin in Ausbildung. Welche besonderen Belastungen und typischen Fallstricke verstecken sich Ihrer Erfahrung nach im psychotherapeutischen Beruf? Worauf sollte ich als junge Kollegin besser frühzeitig achten?
Psychische Erschütterungen sind grundsätzlich nicht vermeidbar, sie entstehen aus einem komplexen Zusammenspiel von genetischer Veranlagung, biographischer Erfahrung und auslösenden belastenden Ereignissen in der Gegenwart. Jeder Mensch trägt so ein individuelles Risiko an einer Depression zu erkranken, das sich nicht vorhersehen lässt. Auf Genetik und neuronale Strukturen sowie biographische Ereignisse haben wir in der Regel wenig Einfluss. Der Aufmerksamkeit kann daher nur auf dem Aspekt der gegenwärtigen Belastung liegen. Chronischer Stress, mangelnde Bewegung und eine ungesunde Ernährung können das Risiko für eine Depression steigern. Mit den eigenen Gefühlen und den Signalen des Körpers in Kontakt zu bleiben halte ich für wichtig.
Ich selbst finde den Beruf als Psychotherapeutin sehr erfüllend und bereichernd. Gleichzeitig dürfen wir aber nicht unterschätzen, wie viel Kraft diese Arbeit mit Menschen in Krisensituationen kostet. Es ist Teil des Berufes, sich auf sehr unterschiedliche Menschen einzustellen, sich in deren Erlebens- und Gefühlswelt einzudenken und einzufühlen und dann auch über die kognitiven und sprachlichen Fertigkeiten zu verfügen, die Patient:innen da abzuholen, wo sie stehen. Das geschieht vor dem Hintergrund unserer fachlichen und wissenschaftlichen Theorien. Es ist unsere Aufgabe, Hoffnung, Anteilnahme und Ermutigung zu formulieren, aber auch zu klären, zu konfrontieren oder Konflikte und aggressive Gefühle von Patient:innen auszuhalten und verstehbar zu machen. Sich in den therapeutischen Prozess zu involvieren und doch immer die professionelle Distanz zu wahren, ist eine hohe Kunst unseres Berufes.
Als junge Kollegin rate ich Ihnen, in Ihrer Freizeit für ein eigenes ausgefülltes Leben zu sorgen. Es ist wichtig, die eigenen Kraftquellen zu kennen und mit sich selbst und eigenen Gefühlen im Kontakt zu sein. Dafür sind auch die Selbsterfahrung und die Supervision wichtig. Freundschaften, in denen Sie sich nicht „therapeutisch korrekt“ verhalten müssen, sind wichtig. Da darf ich auch mal unzensiert schimpfen, lästern, parteiisch oder selber aufgelöst und ratlos sein. Die „therapeutische Identität“ ist eine Rolle, die ich bewusst einnehme, von der ich mich aber auch distanzieren kann.
Und noch etwas eher nüchternes: versäumen Sie es nicht, sich frühzeitig insbesondere im Rahmen einer Selbständigkeit gut gegen Krankheit abzusichern. Krankheit und Existenzängste sind eine unerträgliche Mischung.
Was würden Sie Kolleg:innen raten, die bereits erste Anzeichen von Erschöpfung, Burnout und Depression bei sich bemerken?
Der Beginn einer Depression ist oft schleichend und es ist gut, wenn es gelingt, das Frühwarnsystem wahrzunehmen. Klassischerweise sind das Symptome wie sozialer Rückzug, emotionale Dünnhäutigkeit oder Gereiztheit, Lustlosigkeit oder Antriebslosigkeit. Schwerwiegender ist dann schon eine chronische Müdigkeit und Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen, das Gefühl, keine Freude mehr fühlen zu können, aber auch Panikgefühle oder Herzrasen.
Das, was wir unseren Patient:innen mit großer Selbstverständlichkeit raten, auch für uns selbst in Anspruch zu nehmen, ist leider oft nicht selbstverständlich.
Es ist ein großes Problem, dass Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen sich oft sehr schwer tun, sich selbst in Behandlung zu begeben. Vom Kopf wissen wir, dass die Depression nicht Halt macht vor akademischen Graden und vor fachlicher Expertise, aber gefühlt ist es eben doch oft beschämend und kränkend, wenn wir selbst erkranken. Sich einzugestehen, dass es möglich ist Psychotherapeutin und Patientin zugleich zu sein, ist hilfreich. Ich würde Kolleg:innen raten, sich selbst professionelle Unterstützung zu suchen und zu klären, in welchem Umfang die eigene psychotherapeutische Tätigkeit fortgesetzt werden kann. In einer solchen Situation kann es auch richtig sein, sehr krisenhafte Patient:innen an Kolleg:innen zu übergeben. In jedem Fall habe ich es als Entlastung erlebt, offen über die Erkrankung zu sprechen. Der Zuspruch und die Ermutigung waren enorm wichtig. Es ist ja auch eine große Chance im Freundeskreis Fachleute zu haben.
Was hat Ihnen persönlich geholfen, die Depression zu bewältigen?
Das waren viele unterschiedliche Dinge. Ich habe mir selbst eine Therapeutin und eine Psychiaterin gesucht, bei denen ich für anderthalb Jahre in Behandlung gegangen bin. Ich war mehrere Monate nicht arbeitsfähig und habe in der Natur, bei Spaziergängen und bei der Arbeit im Garten meine Gedanken und Gefühle sortiert. Ich habe mit vielen unterschiedlichen Menschen gesprochen und angefangen zu Schreiben. Dadurch hat sich meine Sicht auf mich selbst langsam verändert und ich konnte die schwere und identitätsverunsichernde Erfahrung der Depression langsam integrieren. Das bedeutete ein Abschiednehmen von bestimmten Wünschen, Vorstellungen und Erwartungen, die ich bis dahin für mein Leben und meine Leistungsfähigkeit hatte. Die Depression hat mich mit einer Grenze konfrontiert, mit viel Traurigkeit und der Erfahrung von Verlust. Eine andere Haltung mir selbst gegenüber, ist glaube ich das Entscheidende. Kraft habe ich auch aus dem Wunsch geschöpft, wieder für meine Familie da sein zu wollen.
Meine eigene Hilflosigkeit, Ohnmacht und Begrenzung kann ich heute besser annehmen ohne daran zu verzweifeln.
Inwieweit hat Ihre Erkrankung und deren Bewältigung Ihre Arbeit als Psychotherapeutin verändert?
Natürlich sehe ich die Depression mit anderen Augen. Ich arbeite noch engagierter als früher an der Aufklärung und dem Verständnis von Depression. Mein zweites Buch ist in Arbeit. Therapeutisch arbeite ich nicht grundsätzlich anders als vorher, aber ich habe Tiefen in mir selbst erfahren und einen Prozess durchlaufen, der meine Haltung zu manchem verändert hat. Meine eigene Hilflosigkeit, Ohnmacht und Begrenzung kann ich heute besser annehmen ohne daran zu verzweifeln. Das spüren Patient:innen in Form einer Gelassenheit, die die therapeutische Arbeit bereichern kann. Es ist nicht immer alles machbar und trotzdem bleiben Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten, die ich ergreifen kann, wenn ich das, was nicht mehr möglich ist, loslasse.
Zum Weiterlesen:
Nora-Marie Ellermeyer (2018.). Lebensnebel. Wie ich als Psychotherapeutin Burnout und Depression durchstand. Patmos Verlag.