„Menschen können sich ändern.“ – Sexualisierte Gewaltfantasien in der Psychotherapie

schwarze Silhouette hinter weißer Nebelwand

„Mit solchen Menschen könnte ich nicht arbeiten!“  - wenn unsere Autorin Charlotte Gibbels von ihrer Arbeit erzählt, stößt sie oft auf Vorurteile und Angst. Seit drei Jahren arbeitet sie in dem Projekt I CAN CHANGE für Menschen mit sexualisierten Gewaltfantasien. Ihre Patienten unterscheiden sich dabei nur marginal von anderen. Wie ihre Arbeit tatsächlich aussieht, erzählt sie dir hier.

„Mit solchen Menschen könnte ich nicht arbeiten!“ Das ist einer der ersten Sätze, die ich höre, sobald ich von meinem Beruf erzähle.

Seit drei Jahren arbeite ich in dem Projekt I CAN CHANGE, das sich mit Menschen beschäftigt, die fürchten, ihre sexualisierten Gewaltfantasien nicht (mehr) kontrollieren zu können. Einige dieser Menschen haben bereits Übergriffe auf Erwachsene begangen, andere noch nicht. Wir sind ein ambulantes, kostenloses und anonymes Projekt der Medizinischen Hochschule Hannover. Kommen darf, gegen wen nicht in einem laufenden Strafverfahren ermittelt wird und wer motiviert ist, seine Problematik in den Griff zu bekommen. Soweit so faktenreich.

Gewitterhimmel mit Blitzen

Mythen und Monster

Die Welt der Fakten wird jedoch schnell zugunsten eines Fantasiereichs verlassen, sobald meine Kollegen und ich von unserer Arbeit berichten. Mythen und Monster ranken sich um unsere Patienten, der Sonntagabendkrimi sitzt neben uns, wenn wir Vorträge halten. Und hinter vorgehaltener Hand wird oft kritisch geprüft, ob ein solches Projekt existieren darf – wo doch Betroffene sexualisierter Gewalt häufig lange auf einen Therapieplatz warten. 

Zwischen dem Mythos der Monsterpatienten und unserer Arbeit liegt häufig ein beträchtlicher Unterschied, zumal hierbei eine Sache häufig in Vergessenheit gerät: Unsere Patienten unterscheiden sich oft nur marginal von anderen Patienten aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen. Es sind Männer und Frauen, die zu uns kommen, mit ihren eigenen Geschichten, Motiven und Hintergründen.

„Mit solchen Menschen könnte ich nicht arbeiten“ – dahinter stecken Angst, Vorurteile und oft auch die Sorge, in diesem Zusammenhang therapeutisch nicht weiter zu wissen. Wer genau sind denn eigentlich „solche“ Menschen und wie kann eine Behandlung dieser Patienten gelingen? Damit du eine ungefähre Vorstellung davon hast, wie unsere Behandlung abläuft, möchte ich dir Herrn M. vorstellen.  

Faust, die auf rote Wand haut.

Wie ist es dazu gekommen?

Herr M. ist Ende 50. Als er das erste Mal zu mir ins Gespräch kommt, unterscheidet er sich auf den ersten Blick kaum von meinen Patienten in der Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin. Er kommt auf Anraten von Herrn Professor Tillmann Krüger, dem Leiter unserer Abteilung und des Projektes. Ein stattlicher Mann, groß, beeindruckend, nun gebeugt und gedrückt. Derzeit beschreibt er sich als depressiv, antriebsgemindert und voller Schuldgefühle. Er habe auf nichts mehr Lust, gerate häufig in Schwierigkeiten, seine Ehe hänge am seidenen Faden. Inzwischen schlafe man in getrennten Zimmern, benutze unterschiedliche Türen, um ins Haus zu gelangen. Er ist es gewohnt, dass die Menschen kleiner sind als er - nicht nur körperlich. In einem sozialen Beruf tätig, hat er sich an einer Klientin vergriffen. „Der zeig ich es jetzt!“ sei sein Gedanke gewesen. Woher das komme, könne er nicht sagen. Er habe so etwas nie zuvor erlebt. Nach dem Übergriff die Krise: Beichte an die Frau, der Gedanke an Suizid sei aufgekommen. Herr M. nun auf der anderen Seite, selbsteingewiesen in die Psychiatrie. Dort nun plötzlich ein Fall, alle bekommen Medikamente. Herr M. verweigert. Er will das nicht. Sein Leben, früher geordnet, nun ein einziger Scherbenhaufen. Wie ist das nur gekommen?

Es ist leicht, fassungslos zu sein. Da ist ein Helfer, der zum Täter wird. Schnell kommt der Gedanke auf: „Wie konnte das nur passieren?“ Diesen haben Herr M. und ich gemeinsam. Denn erst einmal geht es darum, zu verstehen. Und – vor allem im Rahmen meiner Aufgabe – Sicherheit herzustellen. Hat Herr M. noch Kontakt zu der Klientin? Ja. Dieser wird entsprechend beendet. Kann Herr M. sich und seine Klienten schützen? Ein Kollege bleibt im Nachbarzimmer, die Tür ist offen. Wahrscheinlichkeiten verringern, ein Sicherheitsnetz aufbauen, die Bedrohungslage abschätzen. Das macht den Beruf anders. Im Gegensatz zu Forensik, Justizvollzugsanstalt oder Sozialtherapeutischer Anstalt trennt keine Mauer unsere Patienten von möglichen Betroffenen.

Herr M. bleibt kritisch. Er kennt die Position nur vom gegenüberliegenden Stuhl aus. Und nun sitzt da eine junge Therapeutin und fragt – ausgerechnet ihn. Hin und wieder kommen Bemerkungen: „Als ich in Ihrem Alter war…“ Es folgen Tests. Ist das Programm denn passend? Schließlich gab es nur den einen Vorfall. Was soll das Ganze überhaupt werden?

Stoppschild vor Himmel mit Oberleitungen.

Kontinuierliches Arbeiten an der Motivation

Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist – wie auch in vielen anderen psychotherapeutischen Kontexten – die Motivation. Nachdem der erste Schreck überstanden ist und unsere Patienten ein Gefühl der eigenen Sicherheit erlangen, kommt es oft zu einer Relativierung. „So schlimm war es nun wieder auch nicht“ oder „Es ist doch nur passiert, weil ich betrunken/ unglücklich/ außer Kontrolle war“ sind Sätze, die immer wieder in unserem Projekt auftauchen. Ähnlich wie bei Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung ist die kontinuierliche Arbeit an der Motivation und deren Aufbau ein beständiger Teil unserer Aufgabe. Techniken aus dem Motivational Interviewing sind hierbei eines unserer wichtigsten Hilfsmittel. Therapeutisch an sich arbeiten, ist immer mit hohen Kosten verbunden: zeitlich, emotional und sozial. Sich dabei auch noch mit einem Übergriff auseinander zu setzen, macht den Gang zur Therapie nicht leichter.
 

Über Bedürfnisse sprechen

Herr M. kommt, zwar manches Mal widerständig, aber regelmäßig. Er beginnt zu erzählen. Wer ist er eigentlich? Was macht ihn aus? Wie ist seine Geschichte? Und wo sind seine Bedürfnisse?

Es mag zunächst befremdlich sein, mit Tätern über deren Wünsche, Bedürfnisse und Lebensträume zu sprechen. Zu groß erscheint der Drang, zu verurteilen. Doch das sogenannte „Good Lives Model“ von Ward (2002), nach dem auch wir unsere Arbeit ausrichten, geht davon aus, dass Straftaten vor allem dann geschehen, wenn Menschen keine sozial adäquaten Mittel kennen, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Schützend wirkt, wenn wir mit den Patienten nach ihren Bedürfnissen schauen und sie lernen, adäquate Wege zu beschreiten, um für sich einzutreten.  

Herr M. war immer der unterlegene Part. Eigentlich hat er sich nie so recht für sich einsetzen können. In der Familie war es der große Bruder, der gelobt wurde und in die Fußstapfen des Vaters trat. Herr M. in seinem sozialen Beruf war und ist ein Außenseiter. So richtig gepasst hat es nie. Herr M. lernte, ruhig zu sein und sich dann, im entscheidenden Moment, aufzubauen. Dann wird er laut, dann wird er gehört. Seine Frau bekommt es mit der Angst zu tun, Vorgesetzte schweigen. Über zwei Meter pure Wut. Da wird es still.

Verzerrtes Bild von kleinem Jungen, der ängstlich schaut, den Mund wie zum Schreien geöffnet.

Die eigenen Grenzen erkennen

Herr M. hat nie gelernt, für sich einzutreten. Zunächst, weil es nicht möglich war – die Lernerfahrung fehlte, die Stimme des kleinen Jungen ging unter und verloren. Dann, weil er anders schneller viel mehr erreichen konnte. Es zahlte sich aus, laut zu bleiben. Wir erarbeiten ein „Störungsmodell“.

Herr M. und ich disputieren Grundannahmen, analysieren sein Verhalten, führen sokratische Dialoge. Wir üben „Wie formuliere ich meine Bedürfnisse“. Manchmal ist Herr M. überrascht, dass er tatsächlich so denkt. Manchmal muss er noch sagen: „Ich kenne die Technik doch, Frau Gibbels!“ Und nach und nach wird Herr M. weicher. Er berichtet, wie er sein Verhalten beobachtet, wenn er sich mit seiner Frau streitet. Er erkennt, dass er sich verletzt fühlt und dann den Gedanken hegt: „Der zeig ich es jetzt“. Herr M. übt zu sagen: „Ich fühle mich traurig“. Er erkennt Grenzen und stellt fest, wo die Bedürfnisse des verletzten Kindes auftauchen, das er einmal war, und wie er mit Wut versucht, diese zu kompensieren. Je mehr wir daran arbeiten, desto eher kann Herr M. sich wohlwollend betrachten. Ein Übergriff, laut werden, es anderen zeigen wollen, treten nach und nach in den Hintergrund.
 

Keine Monster, keine Zauberformeln

Herr M. hat keinen weiteren Übergriff begangen. Er kann inzwischen seine Bedürfnisse formulieren und mit Frustration umgehen. Er erkennt seine Grenzen und die anderer an.

In unserem Projekt arbeiten wir mit den unterschiedlichsten Patienten. Wir arbeiten weder mit Monstern noch mit speziellen Zauberformeln. Was wir tun, geschieht im Rahmen der Wirkfaktoren der Psychotherapie nach Grawe, einer großen Portion von Rogers' Grundhaltung und des Good Lives Model. Es ist für mich eine der schönsten Seiten der Arbeit als Psychologin, zu erkennen, dass es manchmal nicht mehr braucht, als das.

 

Zum Weiterlesen:

Ward, T. (2002). Good lives and the rehabilitation of offenders: Promises and problems. Aggression and Violent Behavior, 7, 513–528.