„Chronische Erkrankungen bringen immer ihre Komplizen mit“

Buchautorin Samira Peseschkian

Chronische Schmerzen, zahlreiche Untersuchungen und vor allem Ungewissheit. Mitten im Training für den Halbmarathon zogen der Schmerz und dessen Komplizen bei Samira Peseschkian ein. Wie sie durch die von ihrem Großvater entwickelte Positive Psychotherapie lernte, die Signale ihres Körpers besser zu verstehen. Und warum Körper und Psyche untrennbar sind.

Samira, welche persönlichen Erfahrungen hast du mit Schmerz gemacht?

Ungefähr vor drei Jahren kamen mich zum ersten Mal meine neuen „Mitbewohner“ besuchen: Bauchschmerzen, Übelkeit und starker Gewichtsverlust. Sie kamen plötzlich. Ich war eigentlich gerade im Training für einen Halbmarathon. Die Schmerzen traten immer nach dem Essen auf - und wenn ich nicht gegessen habe, hatte ich auch keine Schmerzen. Ich dachte am Anfang, ich hätte einen Magendarminfekt oder zu viel Stress in der Uni. Aber mit der Zeit wurden die Beschwerden stärker. Ich begann, Ärzt:innen aufzusuchen: Ultraschall, Labortests, Magen-Darm-Spiegelung. Ich habe meine Ernährung umgestellt, weil ich dachte, ich hätte eine Unverträglichkeit. Aber nichts hat geholfen. Alle Tests waren ohne pathologischen Befund. Eigentlich ist das eine tolle Nachricht - aber nur dann, wenn man keine Beschwerden hat. Dieser Zustand hat ca. 2,5 Jahre angehalten. Dann bekam ich endlich eine Diagnose: Dunbar-Syndrom.

Weinende Frau

Das Dunbar-Syndrom ist eine sehr seltene Erkrankung. Wenn man sich die abdominale Aorta vorstellt, hat diese viele verschiedene Verzweigungen. Dabei gibt es eine Arterie, die den Magen komplett mit Blut versorgt. Diese Arterie war bei mir von außen durch ein Ligament zerdrückt. Dadurch habe ich nur 50% des Blutflusses zum Magen bekommen. Wenn ich nicht gegessen habe, reichte das. Aber sobald ich was gegessen habe, brauchte mein Magen eigentlich mehr Blut und ich bekam starke Schmerzen. Es ist schwierig, diese Diagnose zu finden. Aber wenn man sie findet, ist sie chirurgisch zu behandeln, denn das Ligament kann man operativ durchschneiden.

Vorletzten Sommer wurde ich operiert. Seitdem haben sich meine Beschwerden deutlich gebessert, aber trotzdem war ich im Laufe der Erkrankung zu einer chronischen Schmerzpatientin geworden. Ich merkte nach der OP, dass ich weiterhin leichte Schmerzen hatte, wenn ich Essen sah. Ich hatte ein Schmerzgedächtnis entwickelt!

Du sagst, der Schmerz sei ein Rudeltier…

Genau! Schmerzen und chronische Erkrankungen bringen immer ihre Komplizen mit. Chronische Erkrankungen gibt es quasi von der Haarwurzel bis zum Zeh. Ihre Charakteristiken sind sehr unterschiedlich. Aber sie verbindet eine Sache: die Zeit. Die Symptome treten mindestens seit drei bis sechs Monaten auf. Und obwohl sie alle so unterschiedlich sind, sind die Komplizen sehr ähnlich.

Ärztliche Untersuchung

Welche Komplizen gibt es?

Angst, Schmerzgedächtnis, Ungewissheit, Stress, Schlafstörungen und die Gesellschaft. Es gibt wahrscheinlich noch mehr, aber auf diese habe ich mich konzentriert.

Kannst du uns die Komplizen kurz genauer vorstellen?

Gerne. Bei der Angst haben wir zwei Hauptdarsteller: die Amygdala und den präfrontalen Kortex. Die Amygdala reagiert, sobald sie einen Bären, eine Spinne oder ähnliches sieht, und schaltet innerhalb von Sekunden ihre Sirenen an. Der präfrontale Kortex ist unsere Kontrollzentrale und schaut, ob es wirklich eine Gefahr gibt. Wenn nicht, werden die Sirenen der Amygdala wieder runtergeschaltet. Das System funktioniert eigentlich gut. Aber bei Menschen mit chronischen Erkrankungen und Menschen mit Angststörungen ist diese Verbindung reduziert. Das heißt, die Amygdala feuert, aber der präfrontale Kortex schaltet die Sirenen nicht wieder aus.

Mit der Zeit kann die Amygdala sogar größer werden. Sie wird dann leichter aktiviert, z. B. nicht nur, wenn sie die Spinne sieht, sondern auch schon beim Spinnennetz. Die Amygdala ist auch nachtragend: Wenn sie einmal etwas als „Gefahr“ eingestuft hat, bleibt das erstmal so. Ich hatte während meiner Erkrankung Essen als Gefahr eingestuft. So bildete sich ein Schmerzgedächtnis: Ich sah das Essen und schon wusste ich „das wird nicht gut gehen“, obwohl ich noch gar nichts gegessen hatte.

Mann reibt sich das Gesicht

Dann gibt es noch Stress und Schlafstörungen als weitere Komplizen. Stress kennt jeder Mensch, aber Menschen mit chronischen Erkrankungen haben nicht nur Stress durch äußerliche Faktoren, sondern auch noch durch die Erkrankung und die Schmerzen selbst. Viele Menschen mit chronischen Erkrankungen haben auch Schlafstörungen, sei es durch Ängste, Sorgen oder ihre Medikation. Das ist oft eine Teufelsspirale: Je weniger ich schlafe, desto mehr Schmerzen habe ich, weil die Schmerzschwelle herabgesetzt wird - und je größer die Schmerzen sind, desto größer wird die Schlafstörung.

Auch die Teilhabe an der Gesellschaft kann den Schmerz und die Erkrankung beeinflussen. Was schwierig für viele ist: man sieht Menschen mit chronischen Erkrankungen häufig nicht an, dass sie krank sind. Dadurch haben viele Betroffene das Gefühl, dass sie sich immer beweisen müssen. Wenn sie nicht immer sagen, dass sie Schmerzen haben, denken die Leute, dass sie an dem Tag schmerzfrei sind.

Ein wichtiger Komplize ist dann noch die Ungewissheit. Bei chronischen Erkrankungen weiß man nicht, wie lange die Beschwerden andauern oder wie stark sie werden. Es gibt ein spannendes Experiment, bei dem man Proband:innen extremem Dauerlärm ausgesetzt und sich zwei Wochen später ihre Stressparameter angesehen hat. Diese waren bei allen Proband:innen deutlich erhöht. Der einen Hälfte hat man dann einen Knopf gegeben, mit dem sie den Dauerlärm ausschalten konnten. Zwei Wochen später hatten die Proband:innen mit diesem Knopf reduziertere Stresssymptome – obwohl der Knopf nicht ein einziges Mal gedrückt worden war. Das Gefühl, dass du die Kontrolle hast und dass du entscheiden kannst, wann und wo und wie es aufhört, bedeutet alles. Menschen mit chronischen Erkrankungen haben diese Kontrolle nicht.

Frau kauert sich aufs Bett

Was an den Komplizen so wichtig ist: Jeder Mensch mit chronischen Schmerzen oder Erkrankungen hat diese Komplizen dabei, selbst wenn die Erkrankung zunächst rein körperlich ist. Die Komplizen selbst sind am Anfang oft nur Nebendarsteller, aber mit der Zeit werden sie zu Hauptdarstellern. Da sie emotionaler Natur sind, kann man ihnen am besten auf emotionaler Ebene begegnen.

Dein Großvater ist der Begründer der Positiven Psychotherapie. Erläutere doch mal kurz, was genau sich hinter dieser Methode verbirgt.

Ganz kurz gesagt: Die Methode wurde in den 1970er Jahren von meinem Großvater Professor Nossrat Peseschkian entwickelt. Es ist eine tiefenpsychologische Methode und als Add-On zu anderen Therapieformen zu verstehen, aber sie arbeitet ein bisschen anders. In der Schulmedizin ist man z. B. entweder schwanger oder nicht schwanger; man ist krank oder gesund. In der Positiven Psychotherapie kann man auch „halb-schwanger“ sein. Das „positiv“ steht für „Positum“: „das Tatsächliche“ oder „das Vorhandene“. Damit ist alles gemeint, sowohl der Plus- als auch der Minuspol.

Die positive Psychotherapie geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus sowohl Anteile besitzt, die bereits gut entwickelt sind, als auch Anteile, die noch entwickelt werden müssen. Und man kann selbst lernen, diese Fähigkeiten oder Anteile zu entwickeln. Das ist für Menschen mit chronischen Schmerzen und Erkrankungen, die von Arztpraxis zu Arztpraxis laufen, sehr wichtig. Wenn man es schafft, dass die Komplizen etwas ruhiger werden, dann ist das viel wert.

Wie besänftigt man die Komplizen?

Eine Methode, die ich selbst auch angewandt habe, ist das Schreiben eines Briefes an den Schmerz oder die Erkrankung. Ich komme aus einer Familie von Psychiatern und mein Vater meinte irgendwann zu mir: „Jede Erkrankung kommt mit einer eigenen Botschaft. Du musst die Botschaft deines Körpers an dich erkennen“. Er hat mir vorgeschlagen, einen Brief an meine Bauchschmerzen zu schreiben. Ich habe am Anfang ablehnend reagiert. Aber meine Großmutter schlug mir dann das Gleiche vor, denn mein Großvater hatte die Methode entwickelt, wie man einen Brief an ein Organ schreibt.

Das klingt vielleicht erst mal komisch, aber die Idee ist, dass du einen Schritt zurück machst und die Erkrankung als Ganzes betrachten kannst. Das Problem ist oft, dass mit der Zeit die Komplizen und die ganze Erkrankung sehr im Mittelpunkt stehen. Sie werden fast zum Ich des erkrankten Menschen. Die Methode erlaubt es dir zu schauen: Was habe ich von der Erkrankung eigentlich gelernt? Gibt es eine positive Lektion, die ich daraus ziehen kann? Im Arbeitszimmer meines Großvaters hatte ich ganz viele alte Briefe von seinen Patient:innen an deren Kopf- und Bauchschmerzen, aber auch an ihren Brustkrebs usw. gefunden. Manche waren witzig, manche waren trotzig. Aber doch waren alle mindestens für eine Sache dankbar.

Eine Frau schreibt einen Brief

Ich habe dann auch einen Brief geschrieben. Die Methode funktioniert so, dass man den Brief an drei Adressaten schreibt: an den Kopf für den Intellekt, an den Bauch für das Gefühl und an die Füße für die Handlungsfähigkeit. Alle drei werden in einer Erkrankung beeinträchtigt. Es war sehr schwierig für mich, aber es hat mir sehr geholfen, zu sehen, was mein Körper mir hatte sagen wollen. Ich kam ins Reflektieren: Hat mein Körper vielleicht Recht? Überfordere ich ihn?

Spannender Weise gibt unser Körper uns viele Botschaften und leise Signale, die dann immer lauter werden, weil wir sie sonst nicht hören. Die Positive Psychotherapie kann helfen, das Gehör mehr in Richtung des eigenen Körpers zu lenken und zu sehen, welche Fähigkeiten man noch entwickeln kann, um damit besser umgehen zu können.

Was hast du persönlich von deinen Schmerzen gelernt?

Ich würde meine Erkrankung so beschreiben: „Du wurdest zur Notbremse meines Lebens. Viele Ursachen meiner Erkrankung hatten sich bereits vor Jahren eingenistet. Das Training für den Halbmarathon und der Stress des Perfektionismus waren nur die letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten. Ich hatte nicht gemerkt, dass du Jahre lang Signale gesendet hattest und dass es Zeit war, mein Tempo zu mindern. Ich ignorierte die piepende Tankanzeige, die mich aufforderte, Benzin nachzufüllen.“

Ehrlich gesagt, ich bin immer noch keine Expertin darin, auf meinen Körper zu hören, aber ich bekomme die Signale früher mit.

Was würdest du dir wünschen, wie Therapeut:innen und Mediziner:innen künftig auf Schmerzen schauen?   

Ich würde mir wünschen, dass man Erkrankungen weniger in „körperlich“ und „psychisch“ fragmentiert. Es ist natürlich wichtig zu wissen, welchen Ursprungs eine Erkrankung ist, weil davon auch die Behandlung abhängt. Aber eine Erkrankung ist nie bloß „körperlich“ oder „psychisch“, sondern sie ist ein Gesamtbild und ein Zusammenspiel.

Vielen Dank für das Interview!

 

Über Samira Peseschkian:

Samira steht kurz vor dem Abschluss ihres Medizinstudiums. 2018 stellten sich zum ersten Mal ihre „neuen Mitbewohner“ vor. Eine Achterbahnfahrt begann, die viele Menschen mit chronischen Erkrankungen kennen. Ihr Ziel ist es, medizinisches Fachwissen mit der von ihrem Großvater Prof Dr. med. Nossrat Peseschkian entwickelten Methode für einen ganzheitlicheren Umgang mit chronischen Erkrankungen zu verbinden.

Zum Weiterlesen [Werbung]:

Peseschkian, Nossrat & Peseschkian, Samira (2021). Der Schmerz und seine Komplizen: Resilienz bei chronischen Krankheiten. Freiburg im Breisgau: Herder.