Darf es etwas weniger sein?
„Höher, schneller, weiter!“ – Selbstoptimierung ist im Trend. Entspannung gelingt hingegen vielen Menschen zunehmend schlechter. Psychische und körperliche Erkrankungen sind die Folge. Darf es auch etwas weniger sein? Welche Rolle spielt Verzicht? Und worauf sollte man als Therapeut*in verzichten? Christian Firus, Oberarzt einer psychosomatischen Rehaklinik und Autor im psylife-Interview.
„Höher, schneller weiter“ – Welchen Einfluss hat diese Einstellung auf die psychische Gesundheit?
Einen großen! Schon der Klang der Worte macht ein bisschen atemlos und aktiviert unseren Sympathikus. Dieser Teil des vegetativen Nervensystems mobilisiert Energie, die in der Evolution für das Überleben in der Wildnis notwendig war. Sie ist auch heute genauso nützlich – nur bedarf sie ihres Gegenspielers, des Parasympathikus, der uns hilft, zu entspannen und runterzukommen. Genau das gelingt vielen Menschen zunehmend schlechter. Die Folgen sind unübersehbar: Schlafstörungen, Bluthochdruck, Verspannungen, Erschöpfung bis hin zum Burnout. Letzteres mündet häufig in einer Depression.
Sie sind Oberarzt in einer psychosomatischen Rehaklinik. Welche Schritte helfen Ihren Patient*innen erfahrungsgemäß, aus diesem Hamsterrad auszusteigen?
Alleine die Entscheidung für einen Rehaaufenthalt setzt einen Prozess in Gang, sich selbst größere Beachtung zu schenken. Der Aufenthalt selbst führt viele gerade zu Beginn in eine Krise: Plötzlich ist nichts mehr zu tun, für alles ist gesorgt und der Alltag hat seinen Klammergriff gelöst. Diese Erfahrung, die Menschen nicht nur als angenehm empfinden, setzt bei vielen einen Prozess des Nachdenkens in Gang, der daraus erwächst, dass sie den Unterschied erleben.
Bei einem Burnout ist die Thematik ein „Zuviel“. Hier stellt sich irgendwann die Frage, was ich seinlassen kann und wo Formen des Verzichts einen Lösungsweg darstellen. Kann ich lernen, auf einen Karriereschritt, auf eine weitere Aufgabe, auf belastende Beziehungen, auf Selbstoptimierung und Gefallen-Wollen zu verzichten? Dafür benötigen viele Unterstützung, weil sie sich damit gegen die Erwartungen stellen – gegen die eigenen und die der anderen. Es ist wichtig, zu lernen, dass andere enttäuscht sein dürfen und ich dennoch bei meinem Weg bleibe. Dabei kann uns das sogenannte schlechte Gewissen unterstützen. Es meldet sich ja gerne dann, wenn ich genau das tue: Erwartungen enttäuschen, nein sagen, Grenzen ziehen. So kann die Stimme des schlechten Gewissens in mir zum klugen Ratgeber werden, der mich eigentlich darauf hinweist, dass ich gerade für mich und meine Bedürfnisse gesorgt habe. Es geht also nicht darum, das schlechte Gewissen abzustellen, was sich viele wünschen, sondern es als Kompass für Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Hamsterrad nutzen zu lernen.
Bei Verzicht denke ich schnell an Minimalismus oder Fasten. Worauf kann man noch verzichten?
Jede*r ist schon einmal auf Reisen gegangen und hat dabei ziemlich viel zurückgelassen, ohne Probleme und ganz freiwillig. Und unterwegs haben wir meistens nichts vermisst!
Psychotherapeutisch denke ich allerdings in eine andere Richtung, nämlich sich von inneren Antreibern, Kritikern und deren Ansprüchen zu distanzieren. Diese lassen einen in der Regel nie ans Ziel kommen, weil es nie genug bzw. gut genug ist. Viele Ansprüche der Selbstoptimierung wurzeln hierin. Damit meine ich keinesfalls das wichtige Bedürfnis nach Entwicklung und Veränderung, denn dieses ist ein zentrales Grundbedürfnis. Es geht vielmehr um das permanente Schielen auf das Optimum, das uns krank macht, weil es uns nie ankommen lässt.
Die Haltung der Dankbarkeit kann dabei wunderbar unterstützen, weil sie auf das schaut, was ich habe und was gut ist – und nicht auf das, was sein könnte oder sollte. Dankbarkeit hat das Zeug uns zu immunisieren gegenüber den Versprechungen einer ständig wachsenden Selbstoptimierungsindustrie.
Wie kann ich Dankbarkeit in meinen Alltag integrieren?
Führen Sie ein Dankbarkeitstagebuchs, in das Sie täglich fünf Dinge notieren, für die Sie heute dankbar sind. Schauen Sie dabei bewusst auf die kleinen, tendenziell unbedeutenden Dinge: die wärmende Tasse Tee, der frische Duft des Kaffees, das Lächeln der Verkäuferin, der leckere erste Löffel meines Müslis… und dann schauen Sie sich dort, wo Sie sind, einmal bewusst um. Für das meiste, was Sie sehen können, könnten Sie dankbar sein: den Strom aus der Steckdose, den Stuhl, der mich trägt, den Duft nach frischem Laub oder die angenehme Kühle des Waldes an einem Sommertag.
Lange glaubte man, dass zufriedene Menschen eben auch dankbar sind. Es ist aber genau umgekehrt: Dankbarkeit macht Menschen zufrieden! Wichtig bei all dem: Bleiben Sie wenigstens 10 bis 15 Sekunden auf das fokussiert, wofür Sie dankbar sind. Denn unser Gehirn benötigt diese Zeitspanne, um etwas längerfristig zu verankern. Aufschreiben oder weitererzählen und später nachlesen verschafft uns diese Zeitspanne.
Übrigens ist das gerade für depressive Patient*innen eine sehr hilfreiche Übung, weil sie sich oft zwar nicht freuen können – deswegen bitte keine Freudetagebücher! – , dennoch aber dankbar sein können. Nachweislich verändert das unser Gehirn in Richtung Zufriedenheit und Wohlbefinden.
Was gewinnen wir, wenn wir verzichten?
Raum! Das ist entscheidender, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Das Glas ist bei uns allen meist längst voll, aber wir schütten munter weiter. Nicht nur führt das zum Über-Fluss, es erzeugt auch Stress, weil wir ja dennoch versuchen, den Über-Fluss einzufangen. Das gilt für Beruf und Freizeit gleichermaßen.
Wir brauchen das Ausatmen und Verdauen, um wieder etwas aufnehmen zu können. Das gilt nicht nur für den Körper, sondern auch für alle mentalen Prozesse. Wenn das gelingt, führt das auch zu mehr Gesundheit, Lebensfreude und Zufriedenheit. Wir gewinnen Freiräume, die wir wieder gestalten können. Damit ermöglichen wir die so wichtige Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Sinnerfüllung.
Worauf sollte man in der Therapie verzichten?
Das ist eine spannende Frage, auf die es nicht nur eine Antwort gibt.
Zunächst einmal auf zu viel Veränderungsdruck. Mit dem kommen Patient*innen ohnehin schon. Sie haben bereits einiges versucht und hören dann vielleicht: „Machen sie es doch ‚einfach‘ mal so!“. Schon auf dieses „einfach“ reagiere ich allergisch. Wenn die anstehende Veränderung tatsächlich so einfach wäre, wäre sie schon längst geschafft. Häufig wird gerade andersherum ein Schuh daraus: Was sind die guten Gründe für die Symptomatik? Erst wenn das deutlich wird, können wir gemeinsam schauen, ob‘s auch günstiger geht.
Wichtig scheint mir weiterhin, Veränderungsziele als Annäherungsziele zu formulieren. „Wo wollen Sie hin? Was zieht Sie an? Und was könnten dafür die ersten Schritte sein?“ Bei leidvollen Einschränkungen wird gerne auf deren Abwesenheit fokussiert. Das bindet allerdings die Aufmerksamkeit ans Symptom, weil alle Energie ins Wegmachen fließt. Darauf zu verzichten, eröffnet neue Räume. Viktor Frankl hat einmal gesagt, dass man sich von seiner Angst nicht alles gefallen lassen muss; dass man mit anderen Worten auch trotz seiner Symptome noch am Leben teilnehmen kann. Es lohnt sich, dahin zu schauen.
Wie kann sich dieser Verzicht auf den therapeutischen Prozess auswirken?
Daraus entsteht durchaus nicht selten auch Raum für eine existenzielle oder spirituelle Dimension, wenn ich diese als Therapeut*in zulasse. Die Betroffenen sind da meist viel näher dran, sprechen aber von sich aus nicht darüber. „Was bedeutet diese Krankheit für mich? Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Ich hab‘ doch eigentlich etwas ganz Anderes verdient!“
Hier könnte sich eine wichtige Tür öffnen, wenn es um meine Anspruchshaltung dem Leben gegenüber geht. Was gewinne ich, wenn ich die überwinden lerne und beginne, das beste aus meiner Situation zu machen? Das kann immer nur eine persönliche, nie eine pauschale Antwort sein. Eine Antwort, für mich Sinn ergibt, egal was am Ende dabei herauskommt. So entsteht Wachstum gerade am Schweren und Leidvollen. Viele Betroffene äußern die Erkenntnis, dass sie ohne die Krise, ohne die Krankheit, den Weg der Veränderung nicht eingeschlagen hätten. Der zunächst unfreiwillige Verzicht – Krisen und Krankheiten sind ja genau das – kann so die Tür zu Veränderung aufstoßen, die vielleicht sonst für immer verschlossen geblieben wäre!
Vielen Dank, Herr Firus! Haben Sie zum Anschluss noch ein paar Anregungen, wie man als Therapeut*in selbst den Alltag entschleunigen kann?
Dass wir als Therapeut*innen auch auf uns achten sollten, ist eine Binsenweisheit – und deswegen dennoch nicht so leicht zu beherzigen. Es macht also Sinn, sich immer wieder mal selbst zuzuhören, wenn wir zu unseren Patient*innen sprechen.
Weiter ist mir wichtig, die eigenen Grenzen im Auge zu haben. Dabei hilft uns unser Körper, wenn er uns Zeichen der Erschöpfung und Überforderung durch Schlafstörungen, Verspannungen und Schmerzen sendet. Ich muss nicht jede*n Patient*in annehmen, darf mir und dem anderen auch zugestehen, dass ich zurzeit nicht der oder die Passende bin.
Freundlich mit sich selbst zu sein, ist bei allem ein entscheidender Schlüssel für Zufriedenheit, auch wenn ich mal keinen guten Tag hatte, keine passende Idee, mich überfordert und inkompetent fühlte. Gerade dann ist das besonders wichtig!
Und schließlich rate ich dringend davon ab, irgendwelche Fachliteratur am Bett zu haben. Das signalisiert meinem Unbewussten nur: Es ist nie genug, du musst noch mehr dafür tun, ein*e richtig gute*r Therapeut*in zu werden.
Zum Weiterlesen:
Firus, Christian (2020). Was wir gewinnen, wenn wir verzichten. Düsseldorf: Patmos Verlag.