Entspannungs­verfahren in der Schmerztherapie

Gerade Schmerzpatienten brauchen Entspannung, die sich gut in ihren Alltag integrieren lässt. (Foto: Pexels.com)

Lange Übungssequenzen, vorgelesene Instruktionen und geschlossene Augen – die Entspannungsverfahren, die heutzutage in Kliniken und Präventionskursen geübt werden, sehen so ganz anders aus, als die „Väter der Entspannungsverfahren“ sie ursprünglich konzipiert haben. Und gerade Schmerzpatienten können das oft nicht lange aushalten. Wie Entspannung kurz und alltagsnah aussehen kann, beschreibt unser Autor Claus Derra.

Die meisten Menschen erleben Entspannung als ein angenehmes ganzheitliches Erlebnis, das wir je nach Schwerpunkt und Intensität mit Beruhigung, Loslassen, Zufriedenheit, Glücksgefühlen, Dämpfung affektiver Schwingungen, Regression und körperlichem Wohlbefinden verbinden können. Auch positive Gefühle des Abgeschirmtseins von der Umgebung und alltäglichen Anforderungen sowie Gefühle der Erholung und der Regeneration können damit einhergehen.

Die Entspannungsreaktion

Ausgelöst und verstärkt werden Entspannungserlebnisse vor allem durch die Wahrnehmung der angenehmen körperlichen Veränderungen wie Hautwärme, Nachlassen des Muskeltonus, Senkung der Herzfrequenz oder Beruhigung der Atmung. Die Entspannungsreaktion ist Teil unseres biologisch angelegten Verhaltensrepertoires und wird unter entsprechenden Umgebungsbedingungen (z.B. körperliche Ruhehaltung, Reizabschirmung, abends beim Einschlafen) automatisch eingeleitet. Als Gegenpol zur Spannung dient sie dem Schutz des Organismus vor übermäßiger Beanspruchung, fördert den Stressabbau und die Linderung von Beschwerden und kann auch zu kreativen Freiräumen und positiveren Gedankeninhalten führen.

Trotz Schmerz Freundschaft mit dem Körper schließen

Schmerz ist im Gegensatz dazu ein negatives Sinnes- und Gefühlerlebnis, das zu unmittelbarer Veränderung drängt. Aktivierung, Leidensdruck, körperliche Spannung, Hilflosigkeit, Verzweiflung und andere belastende Gefühle können zu einem extrem negativen Körpererlebnis führen. Hanne Seemann hat daher einmal „wieder Freundschaft mit dem Körper schließen“ als ein wichtiges Ziel der Schmerztherapie formuliert (Seemann, 2005).

Von der Entspannungsreaktion zum -reflex

Entspannungsverfahren sind ein mögliches unterstützendes Element auf dem Weg zu dieser Freundschaft. Nach der Definition im Handbuch der Entspannungsverfahren (Vaitl & Petermann, 2000) handelt es sich um Techniken oder (Induktions-) Methoden, mit denen eine Entspannungsreaktion in Gang gesetzt werden kann. Durch regelmäßiges Üben wird die Entspannungsreaktion gebahnt und stabilisiert, so dass diese Reaktion auf einen konditionierten Reiz (die Entspannungsinstruktion) hin schnell und in den verschiedensten Situationen hervorgerufen werden kann.

Das heißt, dass aus der Entspannungsreaktion ein Entspannungsreflex wird. Ein gut eingeübtes Entspannungsverfahren führt daher zu einer reflexartigen „Umschaltung“ im Organismus auf eine trophotrope, parasympathisch geprägte Reaktionslage.

Entspannungsverfahren bei chronischem Schmerz

Um dieses Ziel für Schmerzpatienten erreichbar zu machen, sollten Entspannungsverfahren

  • kurz (nicht länger als drei bis fünf Minuten),
  • alltagstauglich (nicht im Liegen, sondern im Sitzen oder Stehen),
  • mit einer einfachen, konditionierbaren Instruktion (ein Atemzug, eine Muskelbewegung, ein Wort) und
  • überall selbständig ohne Hilfsmittel (keine CD, Audiodatei, APP o.ä.) durchzuführen sein.

Eigentlich ist damit alles gesagt und die Anwendung von Entspannung bei Schmerz wäre entsprechend der positiven Studienlage und unseren heutigen neurobiologischen Erkenntnissen sehr einfach und erfolgreich möglich, wenn da nicht die Versorgungsrealität wäre. Schultz hatte sein Autogenes Training im Sinne der Konditionierung als Drei-Minuten-Übung konzipiert, die durch die Droschkenkutscherhaltung überall und insbesondere auch am Arbeitsplatz durchgeführt werden kann (Schultz, 1932 und 1935). Jacobson hatte zwar sehr lange Übungssequenzen, gab seinen Patienten jedoch den Auftrag, im Laufe des Tages immer wieder bestimmte Muskeln zu spüren und dabei keine eigentliche Entspannungsübung zu machen, sondern sich dabei nur vorzustellen, sie könnten jetzt eine solche Übung machen (Jacobson, 1938). Auch diese kurzen Körperwahrnehmungen konnten gut im Alltag und am Arbeitsplatz durchgeführt und konditioniert werden. Die beiden „Väter“ der gut strukturierten, systematischen Entspannungsverfahren hatten also beide die Vorstellung einer kurzen konditionierbaren Entspannung zur Stressreduktion und Symptombeeinflussung.

Gruppenhypnosen statt Entspannungsverfahren

Wer heute in Deutschland ein Entspannungsverfahren lernt, läuft stattdessen Gefahr, dass ihm oder ihr eine für den Alltag völlig unbrauchbare Vorgehensweise vorgestellt wird. Das Setting, in dem Entspannungsverfahren in Kliniken und in Präventionskursen vermittelt werden, beinhaltet meist sehr lange Übungssequenzen: 15 bis 30 Minuten im Liegen und mit ständiger Anleitung durch einen mehr oder auch weniger erfahrenen Übungsanleiter. In Kliniken wird die Durchführung von Entspannungsübungen oft an Hilfskräfte delegiert, die dann irgendwelche Texte vorlesen. In diesem Setting schläft die Mehrzahl der Patienten ein. Andere, die eine so lange und intensive Regression nicht aushalten (und dazu gehören oft die Schmerzpatienten), werden unruhig.

Diese Vorgehensweise entspricht in keinster Weise einer selbständig herbeigeführten Entspannung, sondern ziemlich exakt einer heterosuggestiv induzierten Gruppenhypnose. Die Teilnehmer praktizieren keine oder allenfalls minimale Eigenaktivität und Erleben keine Selbstwirksamkeit. Ihnen wird zwar vermittelt, dass sie die Übungen auch selbst durchführen sollten – ohne einen Tonträger ist es aber mit Sicherheit für einen Anfänger nicht möglich, eine 20-minütige Entspannungsübung durchzuführen. Ein Transfer in den Alltag oder Üben am Arbeitsplatz ist praktisch unmöglich.

Eine gute Beziehung zwischen Therapeut und Patient macht eine gute erste Entspannungserfahrung möglich. (Foto: Fotolia)

Länger als acht Minuten sind obsolet

Obwohl aus neurobiologischen Untersuchungen und Meditationserfahrungen längst bekannt ist, dass es in der Lernphase praktisch unmöglich ist, länger als 6 bis 8 Minuten wach zu bleiben, werden weiterhin überall die Übungen nach dem o.g. Muster durchgeführt. Erst nach einigen Wochen täglicher Übung sind wir in der Lage, die Wachheit über 10, 15, 20 Minuten zu halten. Aus millionenfacher Erfahrung mit dem Autogenen Training wissen wir, dass drei Minuten völlig ausreichen, um eine gute Entspannung zu erleben. Die 20 Minuten Progressive Relaxation mit 16 Muskelgruppen von Bernstein und Borcovec (1975) war für Angstpatienten konzipiert und zudem im Original doppelt so lang, da zunächst mit offenen Augen interaktiv mit dem Therapeuten die einzelnen Muskeln erklärt wurden. Für Schmerzpatienten sind diese Übungen mit kräftiger Anspannung 5 bis 7 Sekunden und Entspannung 30 bis 40 Sekunden absolut unbrauchbar und oft schmerzinduzierend. Interessant ist, dass der bekannte Achtsamkeitsforscher Kabat Zinn mit seinem MBSR gerade bei Schmerzpatienten mit längeren Achtsamkeitsübungen sehr gute Erfolge hatte (1991). Wenn man die Studien genauer analysiert, waren zwei Faktoren dabei wesentlich: es handelte sich einerseits um besonders motivierte Patienten, die selbst unbedingt Achtsamkeit praktizieren wollten. Darüber hinaus wurde auf eine gute Beziehung zum Therapeuten besonderen Wert gelegt. Diesen beiden Faktoren kommen bei einem verordneten Entspannungsverfahren in der Anonymität einer Gruppe wie im o.g. Setting nicht zum Tragen.

Entspannung im Einzelsetting

Schmerzpatienten sollten ihre erste Entspannungserfahrung unbedingt im Einzelsetting mit einem erfahrenen Therapeuten machen. Dafür wäre überhaupt kein großer Zeitaufwand nötig, denn wie eingangs schon ausgeführt, sollte die Entspannung kurz, einfach und ohne Hilfe sofort im Alltag anwendbar sein. Damit würde die Bedeutung der Entspannung erheblich angehoben. Über die gute Beziehungsgestaltung ist eine gute erste Entspannungserfahrung möglich.

Augen offenhalten

Entspannungsübungen sollten zumindest am Anfang grundsätzlich mit offenen Augen durchgeführt werden, damit ein ständiger Dialog mit dem Therapeuten möglich sein kann. Das entspricht der im Original sehr erfolgreichen Vorgehensweise von Jacobson, der sogar mit den Händen die Muskeln und Bewegungen der Übenden führte. Das Schließen der Augen führt in die Regression und zu der fälschlichen Vorstellung „abzuschalten“. Stattdessen sollte, wie bei Jacobson, immer wieder der aktive Anteil der Entspannung betont werden. Im Vordergrund steht dabei anfangs nicht so sehr die Entspannung, sondern mehr die Körperwahrnehmung. Oft erleben Schmerzpatienten bei der Aufmerksamkeitslenkung auf den Körper eine Schmerzverstärkung. Freundschaft mit dem Körper zu schließen bedeutet aber gerade die positiven Körperwahrnehmungen zu verstärken.

Die Muskelanspannungen bei der progressiven Relaxation sollten sehr sanft und am besten etwas länger sein, um die postisometrische Relaxation des Muskels zu nutzen (Details bei Derra, 2017). Als günstiger Rhythmus haben sich gleich lange An- und Entspannungen bewährt, die zudem mit der Atmung synchronisiert werden (drei Atemzüge Anspannung – drei Atemzüge Entspannung). Wir haben dazu z.B. eine ganz einfache kurze Kombinationsübung aus Progressiver Relaxation und Autogenem Training entwickelt, die nur drei bis vier Minuten dauert und direkt und ohne Hilfe im Alltag durchgeführt werden kann: Der kurze Jacob (Derra und Schilling, 2017; die Anleitung findest du unten als Download).

Bei schweren Störungen oder besonderen Problemen sind spezifische Hilfestellungen notwendig (Atmung, Ruhebild, sanfte Bewegungen). Die Entwicklung von Kurzformen (z.B. Reflexentspannung über die Atmung, Codewortentspannung) ist das eigentliche zentrale Element der wirksamen Anwendung. Wer in der Lage ist, immer wieder zwischendurch 10 bis 20 Sekunden achtsam mit sich selbst zu sein und den Entspannungsreflex auszulösen, wird die Homöostase in Bezug auf Stress und Befinden und längerfristig auch das Schmerzerleben nachhaltig verbessern können.

Weiterführende Literatur

Bernstein, D.A. & Borkovec, T.D. (1975). Entspannungstraining Handbuch der progressiven Muskelentspannung. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.

Derra, C. (2017). Progressive Relaxation. Heidelberg: Springer.

Derra, C. & Schilling, C. (2017). Achtsamkeit und Schmerz. Stuttgart: Klett Cotta.

Jacobson, E. (1938). Progressive Relaxation. A Physiological and Clinical Investigation of Muscular States and their Significance in Psychology and Medical Practice. Chicago: The University of Chicago Press.

Kabat-Zinn, J. (1991). Full Catastrophe Living: Using the Wisdom of Your Body and Mind to Face Stress, Pain, and Illness. Delta Trade Paperbacks.

Schultz, I.H. (1932). Das autogene Training – konzentrative Selbstentspannung. Stuttgart: Thieme Verlag.

Schultz, I.H. (1935). Autogenes Training. Das Original-Übungsheft. Stuttgart: Thieme Verlag.

Seemann, H. (2005). Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen. Stuttgart: Klett Cotta.

Vaitl D. (2000) Psychophysiologie der Entspannung. In: Vaitl D, Petermann F (Hrsg.), Handbuch der Entspannungsverfahren. Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim