Was hilft es, zu schweigen? – Achtsamkeitsinseln im Klinikalltag
Der Alltag in einer Klinik ist stressig und die Belastung der Patienten ist hoch. Was soll Schweigen da helfen? Einfühlsam beschreibt unser Autor Sven Steffes-Holländer, wie seine Patienten einer psychosomatischen Klinik erste Erfahrungen mit Meditation machen, wie regelmäßige Achtsamkeit den therapeutischen Prozess unterstützt und warum Stille im Alltag so gut tut.
Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.
Meister Eckhart (1260 – 1328)
Die Teilnehmer der Gruppentherapie in einer psychosomatischen Klinik im Osten Berlins betreten den Raum Silberdistel. Katharina W. tritt ein mit gesenktem Blick und hängenden Schultern. Eine weitere Teilnehmerin lässt sich in der Nähe der Tür nieder, das Gesicht gezeichnet von Anspannung und Angst. Eine Gruppe von 3 Patienten betritt den Raum mit schallendem Gelächter. Die beiden letzten Personen, die eintreten, sind in ein intensives Gespräch vertieft.
Ein Moment der inneren Einkehr
Alle nehmen ihre Plätze ein, suchen eine bequeme Sitzposition. Der Therapeut möchte die Sitzung beginnen. Eine Klangschale ertönt. Die Teilnehmenden schließen die Augen, konzentrieren sich auf ihren Atem und verweilen für 2 Minuten in Stille, sammeln sich, ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihre inneren Bilder, kommen im Raum an, in der Gruppe und bei sich. „Denn der Raum des Geistes, dort wo er seine Flügel öffnen kann, das ist die Stille.“ stellte schon der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry fest.
Den Patienten der Psychotherapiegruppe ist das Ritual vertraut, denn jede ihrer Sitzungen beginnt mit einem Moment der Besinnung, der inneren Einkehr und Achtsamkeit. Für viele war es zu Beginn eine neue Erfahrung. „Was soll es schon helfen, zu schweigen? Macht das meine Probleme kleiner?“ „Meditation gegen Stress, Depression und Ängste – funktioniert das überhaupt?“
Achtsamkeit ist längst entmystifiziert
Die Etablierung von Elementen der Achtsamkeit in Kliniken erfolgte schon Ende der 70er Jahre durch Jon Kabat-Zinn. Damals noch belächelt als Außenseiterverfahren, sind Elemente von Achtsamkeit und Meditation mittlerweile selbst in der universitären Medizin gelebte Praxis, haben über das betriebliche Gesundheitsmanagement sogar in die Automobilindustrie Einzug gehalten. Mittlerweile ist Achtsamkeit entmystifiziert und etabliert als alltagspraktische wie alltagstaugliche Verhaltensoption. Auch die Mitarbeiter der Klinik nutzen diese Grundhaltung, jede Teamsitzung, jede Versammlung beginnt in Stille, als kleine Inseln im stressbelasteten Klinikalltag.
Längst ist unstrittig, dass Achtsamkeitspraxis einen positiven Einfluss auf die Bewältigung von Krankheiten hat. Viele wissenschaftliche Studien zeigen auf, dass regelmäßige Meditation äußerst wirksam ist: Stress, Ängstlichkeits- und Depressionssymptome lassen sich lindern. Blutdruck, Blutzuckerspiegel, das Körpergewicht und das Level von Stresshormonen im Blut können sinken (Psychoneuroendocrinology: Pascoe et al., 2017). Hirnareale, die für Aufmerksamkeit, die Regulation von Emotionen, das Gedächtnis und die Körperwahrnehmung zuständig sind, scheinen bei Übenden größer zu werden (Nature Neuroscience Reviews: Tang et al., 2015).
Eine Metastudie der Universität Oxford zeigt, dass Achtsamkeitspraxis in Verbindung mit kognitiver Therapie die gleiche Wirkung hat wie eine pharmakologische Medikation hinsichtlich der Rückfallquote bei Depressionen (Behave Res Ther, Crane et al., 2015).
Die Patienten sammeln Erfahrungen mit Meditation
Katharina W. hat im Rahmen ihrer stationären Behandlung bereits vielfältige Erfahrungen mit Entspannung und Meditation sammeln können. Wöchentlich tauscht sie sich in der Gruppe „Achtsamkeitspraxis“ mit Mitpatienten über ihre Fortschritte aus, über ihre Hinwendung zur Spiritualität, zu Sinnfragen und zur persönlichen Reflexion. In geführten Meditationen im täglichen Wechsel zum Kennenlernen und Ausprobieren verschiedener Meditationstechniken, insbesondere beim gemeinsamen, repetitiven Mantrasingen, komme sie am besten zur Ruhe, berichtet sie.
Das Sanskritwort mantram vereint die beiden Wortwurzeln manas (Geist) und tram (Schutz), so dass die wörtliche Bedeutung Schutz des Geistes, aber auch Instrument des Geistes/Denken sein kann. Das Mantra als Mittel der Meditation dient dazu, den Geist respektive das Denken zu schützen, vor schädlichen Vorstellungen und Konzepten. Die Idealvorstellung ist also, dass sich, während das Mantra rezitiert wird, der Geist an die positiven Inhalte der Worte des Mantras bindet und somit nicht mit anderen, d.h. negativen Gedanken beschäftigen kann.
Meditation unterstützt den therapeutischen Prozess
Die Möglichkeiten der Meditation unterstützen Katharina W. im therapeutischen Prozess und helfen ihr dabei, mehr zu sich zu finden. Zu Beginn fiel es ihr sehr schwer, sich auf die Therapien einzulassen, Abstand zu finden von ihrem stressigen Job als Gymnasiallehrerin, ihrem herausfordernden Familienleben mit 2 pubertierenden Töchtern und ihrer neuen Lebenswirklichkeit nach einer kräftezehrenden Scheidung.
Nach einigen Wochen Behandlung ist ihr die Stille zum Freund geworden im Alltag der psychosomatischen Fachklinik. Routiniert nutzt Katharina W. die tägliche Zeit der Stille zur Selbstreflexion, zum Tagebuch schreiben oder zur Übung therapeutischer Aufgaben. Sie genießt auch das gemeinsame Mittagessen in Stille mit ihrer Gruppe. Erlernte Techniken aus dem Yoga oder Qi Gong übt sie mittlerweile freiwillig im Raum der Stille. Am Spiegel ihres Zimmers klebt ein Zitat des indischen Philosophen Krishnamurti: „Achtsamkeit ist ein aufmerksames Beobachten, ein Gewahrsein, das völlig frei von Motiven oder Wünschen ist, ein Beobachten ohne jegliche Interpretation oder Verzerrung.“ Für Katharina W. eine herausfordernde Haltung. Den anderen Mitgliedern der Therapiegruppe ohne Bewertung zu begegnen, fällt ihr schwer. Sie ist es gewohnt zu kategorisieren, zu problematisieren, Gefühle zu deckeln, sich in Gedanken zu verstricken. „Nicht aufregen, einfach nur wahrnehmen“ sagt sie sich. Katharina W. bemerkt, wie es ihr hilft, innere Ruhe zu finden. Zu Beginn der Behandlung nur für Momente, mittlerweile über immer längere Strecken des Tages.
Stetig zu üben ist Voraussetzung
Die Gruppensitzung neigt sich nach 100 Minuten dem Ende zu. Aufwühlende Themen wechselten sich ab. Trauer, Verlust, Vernachlässigung, Angst, aber auch Hoffnung und Zuversicht. Vor dem Ende der Sitzung ertönt erneut die Klangschale. Nochmals Ruhe, Einkehr, Besinnung bevor es zum Mittagessen geht. Noch einmal wird in Stille das Gesagte und das Gehörte reflektiert. Die Stunde schließt mit einem Zitat von Thich Nhat Hanh: „Wenn die Achtsamkeit etwas Schönes berührt, offenbart sie dessen Schönheit. Wenn sie etwas Schmerzvolles berührt, wandelt sie es um und heilt es.“
Stetiges Üben ist aus meiner Erfahrung eine notwendige Voraussetzung, um Achtsamkeit glaubwürdig und langfristig hilfreich als Basis der Therapie anbieten zu können, ein gemeinsames Übungsfeld für Therapeuten wie Patienten. Beide sitzen im gleichen Boot, da auch der Therapeut bei der Anwendung von Achtsamkeitsübungen nie Perfektion erreicht, sondern immer wieder das Scheitern erlebt und in sein therapeutisches Handeln integriert.
Den Herausforderungen des Alltags gewachsen sein
Innerhalb der therapeutischen Beziehung werden das Hierarchie- und Autoritätsgefälle abgeschwächt und dem Patienten sehr hilfreiche Möglichkeiten zur Akzeptanz und zur Selbstregulation angeboten. Dabei hilft der Einbezug des Übens auch mir als Therapeut, Mitgefühl und Selbstmitgefühl zu aktivieren, den Belastungen meines Berufes besser gewachsen zu sein und mich schneller regenerieren zu können.
Nach 8 Wochen wird Katharina W. zum Ende der Behandlung befragt, ob sie ihr Therapieziel erreicht habe. Mehr inneren Frieden und Gelassenheit wolle sie finden, hatte sie zu Beginn der stationären Psychotherapie neben weiteren Zielen angegeben.
Mit einem Lächeln im Gesicht antwortet sie: „Ich fühle mich deutlich verbundener mit anderen Menschen. Ich habe weniger Interesse, mir Sorgen zu machen. Ich kann Augenblicke bewusster genießen. Ich kann Dinge geschehen lassen, statt sie kontrollieren zu wollen. Ich muss nicht mehr kämpfen. Ich beobachte mehr und bewerte weniger. Ja, das fühlt sich deutlich mehr nach Frieden an.“