Kein Therapieplatz? Was das für Betroffene und Therapeut:innen bedeutet

Ein Schild mit der Aufschrift Help Wanted hängt an einer Schaufensterscheibe.

Rund 22 Wochen warten Betroffene auf einen Therapieplatz. Und Therapeut:innen müssen ca. 15 Patient:innen pro Woche abweisen, weil sie am Limit sind. Die aktuelle psychotherapeutische Versorgung ist belastend für alle Beteiligten. Aktionen wie #therapieplätzejetzt setzen sich daher für eine bedarfsgerechte Versorgung ein. In diesem Artikel zeige ich dir 6 Möglichkeiten, wie du aktiv werden und Betroffene unterstützen kannst.

Nach wie vor erleben wir in der Gesellschaft eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen und psychischen Erkrankungen. Während Betroffene bei einer körperlichen Erkrankung zeitnah und in der Regel bis zum Ende der Beschwerden Unterstützung erfahren, sieht es bei psychischen Erkrankungen deutlich schlechter aus. Aktuelle Daten zeigen, dass Wartezeiten auf einen Therapieplatz bis zu 18 Wochen und mehr betragen können. Besonders prekär ist die Lage auf dem Land, dort können es bis zu 24 Wochen und mehr sein. Die durchschnittliche Wartezeit wird häufig mit 22 Wochen angegeben. Die deutsche Depressionsliga hat daher die Aktion "22 Wochen warten" ins Leben gerufen und eine Petition gestartet, um eine schnellere Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung zu erreichen und die Wartezeiten auf einen Therapieplatz zu reduzieren.

Was bedeuten fehlende Hilfen für Betroffene und Therapeut:innen? Und welche Möglichkeiten gibt es, Betroffene dennoch zu unterstützen und aktiv zu werden?

 

Ein Blick in die Versorgungspraxis

Nehmen wir einmal an, Frau K. bricht sich ein Bein. Die Versorgung in Deutschland sieht dann oft wie folgt aus: Die Behandlung erfolgt in der Regel zeitnah in einem Krankenhaus. Entlastung, Physiotherapie und Medikation werden eingeleitet und eine Begleitung bis zum Ende der Beschwerden ermöglicht.

Anders sieht es aus, wenn Frau K. unter einer manifestierten Depression (oder einer anderen psychischen Erkrankung) leidet. Die Symptome der Antriebslosigkeit erschweren bereits im Vorfeld das Aufsuchen psychotherapeutischer Hilfe. Sollte Frau K. doch in der Lage sein, entsprechende Schritte in die Wege zu leiten, wird die Ungleichbehandlung zwischen körperlichen und psychischen Erkrankungen einmal mehr deutlich: Mit etwas Glück wird nach einigen Wochen ein Erstgespräch bei einem oder einer niedergelassenen Therapeut:in möglich sein. Die Aussicht auf einen sich dann anschließenden Therapieplatz und fundierte Behandlung sind hingegen so schwarz wie die Symptomatik selbst.

Ein Mann sitzt zusammengesunken am Tisch und hat die Unterarme auf der Tischplatte abgelegt und den Kopf darauf gestützt.

Glücklicherweise trauen sich immer mehr Menschen, Hilfe aufzusuchen. Doch werden sie von der Versorgungsrealität und damit zum Teil fehlenden Hilfen konfrontiert. Für Betroffene kann dies bedeuten, dass sie den Schritt, sich Hilfe zu suchen, kein zweites Mal auf sich nehmen. Fehlende Hilfen können dann mit negativen Auswirkungen für die körperliche, psychische, soziale und berufliche Lebensqualität einhergehen. Nicht selten werden auch Angehörige belastet. Im schlimmsten Fall kann die Situation zu akuter Suizidalität bis hin zum Tod führen.

 

Niederschwellige Angebote für Betroffene: Fehlanzeige

Oftmals müssen Betroffene 5–10 Therapeut:innen kontaktieren. Für einen depressiven, antriebslosen Menschen kann dies bereits zu hochschwellig und damit überfordernd sein. Die Negativspirale wird somit begünstigt.

Betroffene melden bei therapieplätze.jetzt zurück, dass „die aktuelle Situation einen zum Aufgeben bringt“. Auch Aussagen wie „mir war es auf Grund meiner Verfassung gar nicht möglich, Therapeut:innen anzurufen“ gehören zur Lebensrealität Betroffener.

Das Anknüpfen an Hilfen nach einem stationären Aufenthalt scheint genauso erschwert zu sein, was den Behandlungserfolg stationärer Maßnahmen oftmals hinfällig macht. Von einem niederschwelligen Angebot, geschweige denn zeitnaher Hilfestellung kann nicht die Rede sein. Dadurch werden persönliche und gesellschaftsrelevante Folgekosten produziert, die durch entsprechende zeitnahe und bedarfsorientierte Hilfestellungen vermeidbar wären.

 

Auswirkungen auf Therapeut:innen

Nicht nur die Betroffenen haben mit den derzeitigen Versorgungsdefiziten zu kämpfen. Therapiepraxen waren bereits vor der Pandemie überlaufen. Seitdem hat sich die Anfrage nochmals deutlich erhöht. Nach der derzeitigen Momentaufnahme von therapieplätze.jetzt weisen Therapeut:innen bis zu 15 hilfeanfragende Personen pro Woche ab. Die Belastung von Therapeut:innen, betroffene Menschen in großer Not abweisen zu müssen, steigt an. Die Ermöglichung und Umverteilung neuer Kassensitze würde auch die Belastung und damit das Burnout-Risiko für Behandelnde senken.

Eine Frau mit Brille, kurzen Haaren und ernstem Gesichtsausdruck ist am Telefon und greift sich mit der freien Hand an den Kopf.

Daneben wird unter anderem auch der große bürokratische Aufwand bemängelt. Diese Zeit könnte in Teilen Betroffenen zur Verfügung gestellt werden, wenn in der Bedarfsplanung die Inhalte dessen Berücksichtigung finden würden.

 

Welche Möglichkeiten und Hilfestellungen gibt es?

Immer wieder stehen also Betroffene vor der Problemlage, dass sie eine Behandlung benötigen, aber keine adäquate Hilfe bekommen - und Therapeut:innen vor dem Problem, keinen Platz anbieten zu können, keinen Kassensitz zu haben oder dass die Stunden nicht (weiter) bewilligt werden. Hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, aktiv zu werden:

 

1. Kostenerstattungsverfahren nutzen

Wenn Patient:innen zeitnah keinen Therapieplatz bekommen, kannst du als Psychotherapeut:in ohne Kassensitz eine Behandlung über das sogenannte Kostenerstattungsverfahren in die Wege leiten. Die Krankenkassen müssen dies auf Grund des Systemversagens (da kein zeitnaher Platz zur Verfügung gestellt werden konnte) genehmigen. Dies bedeutet, dass das Gesetz (vereinfacht dargestellt) dazu verpflichtet, Hilfen zu ermöglichen. In der Praxis zeigen sich leider dennoch unterschiedliche Handhabungen im Rahmen der Umsetzung. Einen Versuch kann es dennoch wert sein.

 

2. Stiftungen oder Fonds in Anspruch nehmen

Gegebenenfalls kann es sich lohnen, auch bei Stiftungen nachzufragen und/oder über Opferfonds bzw. dem Fond für sexuellen Missbrauch (sofern sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend stattgefunden hat) Hilfe zu erhalten, um z. B. Therapiestunden von den Krankenkassen bezahlt zu bekommen.

 

3. Den Rechtsweg bestreiten

Wenn die Behandlung über das Behandlungskontingent hinaus notwendig ist, besteht die Chance, dass Betroffene gemeinsam mit ihren Therapeut:innen den Rechtsweg bestreiten (Einstweiliger Rechtschutz und/oder den „normalen“ Klageweg). Die unabhängige Patient:innenberatung kann hierzu kostenfrei beraten.

 

4. Widerspruch einlegen

Auch steht es Behandler:innen frei, gegenüber der Krankenkasse in den Widerspruch zu gehen und eine weitere Begutachtung zu fordern. Die Krankenkasse muss nicht zwangsläufig den Empfehlungen der Gutachter:innen folgen.

 

5. Alternative Angebote aufzeigen

Besteht keine Möglichkeit, zeitnah einen Platz anzubieten, kann es den Betroffenen helfen, mit ihnen z. B. im Rahmen der Sprechstunden alternative Hilfsmöglichkeiten zu besprechen und diese gegebenenfalls schon in die Wege zu leiten. Viele Ambulanzen an den Ausbildungsinstituten können etwas zeitnaher Termine anbieten. Je nach psychischer Erkrankung gibt es unterschiedliche Selbsthilfeangebote oder gruppentherapeutische Angebote, die in Betracht gezogen werden können. Bei einer Traumaerkrankung können Traumaambulanzen aufgesucht werden. Auch digitale Angebote kommen immer mehr auf den Markt. Wenngleich diese Angebote keine reale Psychotherapie ersetzen, können sie eine Hilfsoption darstellen.  

Auf einem leeren Notizblock liegen Würfel, die mit Buchstaben bedruckt sind. Sie ergeben das Wort Change bzw. Chance - je nachdem wie der vorletzte Würfel gelegt wird.

6. Aktiv werden

Auch die ehrenamtliche Initiative #Therapieplätzejetzt möchte auf die unzureichende psychotherapeutische Versorgung in Deutschland aufmerksam machen. Betroffene, Betroffenenverbände, Vereine sowie Fachgesellschaften fordern eine bedarfsgerechte psychotherapeutische Bedarfsplanung und Versorgung psychisch kranker Menschen. Gezielt und im Zusammenschluss werden hier die Kräfte mobilisiert und auf die politische Agenda platziert.

Wenn du auf Social Media aktiv bist, kannst du die Aktion z. B. bei der digitalen Demonstration am 17.10.2022 unterstützen, indem du Beiträge mit den Hashtags #TherapieplätzeJetzt, #Hilfezeitnah oder #22Wochenundjetzt teilst und dir wichtige Politiker:innen verlinkst. Du kannst auch bei der Umfrage mitmachen und dort teilen, wie es dir als Therapeut:in mit der aktuellen Versorgungslage geht.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass unterschiedliche nachhaltige Aktionen einen Einfluss auf politisches Handeln nehmen. Durch den Zusammenschluss kann mehr Sichtbarkeit für psychische Erkrankungen und eine bedarfsgerechte Behandlung geschaffen werden.

 

Zum Weiterlesen:

www.therapieplaetze.jetzt