Achtsamkeit statt Kalorienplan: Warum sich etwas ändern muss

Frau sitzt am Tisch und isst und man sieht ihr an, dass sie es genießt.

Diäten, Restriktion und Essanfälle – viele Betroffene von Essstörungen sind in einem ständigen Kreislauf gefangen. Mit den klassischen Behandlungsmethoden kam die klinische Psychologin Cornelia Fiechtl nicht mehr weiter – und setzt nun auf ganzheitliche Ansätze statt Kalorienpläne. Warum wir dringend ein Umdenken brauchen, erzählt sie uns im Interview.   

Cornelia, du arbeitest als Ernährungspsychologin. Mit welchen Fragestellungen und Schwierigkeiten kommen deine Klient:innen zu dir?

Der Großteil meiner Klient:innen kommt zu mir, weil sie entweder an Essensdrang und Essanfällen leiden oder schon sehr lange in einem gezügelten und verkopften Essverhalten drinstecken. Menschen, die sagen: „Ich will mich nicht immer den ganzen Tag mit Essen beschäftigen, nicht immer ein schlechtes Gewissen haben und alles planen müssen.“
 

Du beschreibst, dass du in der Behandlung von Essstörungen irgendwann mit den „klassischen Konzepten“ nicht mehr weitergekommen bist. Woran lag das?

Ich würde sagen, dass die klassischen Konzepte durchdacht sind, aber für mich waren sie zu einseitig. Wir haben gesellschaftlich und systemisch ein großes Problem. In diesem System können wir, meiner Meinung nach, nur bedingt arbeiten. Nehmen wir eine Person, die an einem sehr ungesunden Essverhalten leidet: Sie würde ihr Essen planen, sich disziplinieren, sich zurücknehmen, Kalorien zählen und sich ständig wiegen.

Zusammengenommen sind das die Symptome einer Essstörung. Auf der anderen Seite bekommen mehrgewichtige Personen genau solche Verhaltensweisen als Behandlungstipps weitergegeben. Wenn sie diese befolgen, landen sie in einer Essstörung - aus der wir sie wiederum versuchen, herauszuholen. Das ist ein Kreislauf, in dem Betroffene gefangen sind. Und da sehe ich einen massiven Änderungsbedarf.

Bild von Cornelia Fiechtl, die auf dem Fußboden sitzt und sich an einer Couch anlehnt.

In so einem System kann man als Betroffene:r eigentlich gar nichts richtig machen…

Genau, gar nichts. Wenn Betroffene ein sehr verkopftes Essverhalten haben und eine Zeitung mit Tipps zur gesunden Ernährung aufschlagen, dann werden ihre Symptome dort bestärkt. Es wird ihnen gesagt: „Iss dieses Lebensmittel eher nicht und dieses hier schon“ – obwohl es dafür keine Evidenz gibt. Wir können nicht pauschal sagen, dass ein Lebensmittel besser ist als das andere. Es kommt immer darauf an, wie ich das Lebensmittel esse, in welcher Menge und unter welchen Bedingungen.

Wovon brauchen wir in der Behandlung von Essstörungen weniger und wovon mehr?

Wir brauchen einen Wechsel in unserem Gesundheitsparadigma. Wir wissen, dass Gesundheit von ganz vielen Faktoren beeinflusst wird: Genetik, Lebensumstände, das soziale Umfeld, der Verdienst, Stress, mentale Belastungen usw. Aber in der Praxis wird es nicht gelebt. Da wird einer Person, die mehrgewichtig ist, gesagt: „Nimm ab!“. Es wird aber nicht gefragt: „Wie sieht deine Essgeschichte aus?“. Denn dann würde man sehen, dass ganz viele Betroffene seit ihrer Kindheit in einem Diätstrudel gefangen sind, der sie dicker und nicht schlanker macht. Wir dürfen Gesundheit nicht an einer Zahl wie dem Gewicht festmachen, sondern müssen Gesundheit durch Verhaltensweisen definieren. Dadurch, dass wir immer auf das Gewicht abzielen, behaften wir Sport zum Beispiel mit einem „Muss“. Wir machen Sport, um Gewicht zu verlieren. Aber wir sind alle hedonistische Wesen: Wir wollen Dinge tun, die uns Spaß machen.

Zwei Frauen machen Yoga auf einer Wiese.

Wir müssen also Gesundheit neu definieren und gewichtsinklusiver arbeiten. Wir brauchen in der Gesellschaft einen Wandel dahingehend, dass wir schlanke Körper nicht als Idealzustand festschreiben. Wir brauchen mehr Diversität, auch in den Medien und in den Zeitungen. Wenn ich eine gesunde Person abdrucke, muss das nicht immer ein super schlankes Model sein. Wir müssen verschiedene Körperformen und -farben sehen. Angenommen, wir haben eine mehrgewichtige Person, die sich für ein Fitnesscenter interessiert. Alle Menschen auf diesem Plakat sind schlank und haben einen Six-Pack. Da fühle ich mich doch gar nicht repräsentiert! Und wenn ich mich nicht repräsentiert fühle, dann schäme ich mich vielleicht und gehe da nicht hin. Wir müssen weg von dieser Diätkultur, in der wir leben. Wir brauchen einen befreiteren Ansatz zum Essen, der uns mehr Freude und Lust bringt.

Diesen Wandel brauchen wir in der Gesellschaft, aber natürlich auch in der Behandlung. Als ich in der Klinik für Essstörungen gearbeitet habe – eine Klinik mit super Behandlungsansätzen – wurde z. B. kaum vermittelt, wie man isst: Wie spüre ich Hunger? Wir brauchen zudem mehr Aufklärung dazu, dass Gewicht nicht nur vom Essen kommt, sondern auch durch Cortisol und mentale Belastungen. Da kann ich nicht einfach sagen: „Ja, iss halt weniger!“. Solche Konzepte fließen in der Praxis kaum mit ein.

In deinen Angeboten geht es also nicht um Kalorienpläne, sondern um einen ganzheitlichen Ansatz…

Genau. Wir müssen mehr das große Ganze sehen.  

Frau schießt genussvoll die Augen beim Essen.

Wie genau sieht achtsames Essen aus?

Achtsames Essen ist ein ganzheitliches Konzept, das verschiedene Aspekte umfasst. Es geht darum, die Diätmentalität loszulassen, also z. B. die Vorstellung, bei einem bestimmten Gewicht ankommen zu müssen oder den Bauch in eine bestimmte Form zu bringen. Es geht auch darum, Glaubenssätze loszulassen, wie: „Wenn ich diesen Keks esse, nehme ich zu.“

Es geht darum, diese ganze Disziplin und Zügelung zu verstehen und zu schauen, woher kommt das eigentlich? Gerade dieses enge Korsett führt dazu, dass viele Menschen unkontrollierte Essanfälle haben. Wenn sie sich mal was erlauben, dann können sie sich nicht mehr stoppen und essen die ganze Packung. Sie glauben, das passiere immer dann, wenn sie es nicht kontrollieren. Dabei ist der Essanfall eine direkte Konsequenz aus dieser starken Kontrolle. Es geht auch darum, die Körperwahrnehmung zu fördern und mit Achtsamkeitsübungen zu lernen, wieder mehr zu spüren: „Wie geht es mir?“, „Was brauche ich gerade?“, also Emotionen wieder wahrzunehmen, Körpersignale wie Hunger, Sättigung und Verträglichkeit zu fördern, Bewegung aus Freude wieder einzuführen, Körperrespekt zu kultivieren und Selbstfürsorge aufzubauen.

Wie reagieren deine Klient:innen auf den Ansatz?

Die Effekte sind sehr positiv, weil die Klient:innen es langfristig aufrechterhalten können. Am Anfang glauben die gezügelten Esser:innen das oft nicht. Es ist viel Angst dabei, zuzunehmen, wenn sie die Kontrolle loslassen und sich nicht jeden Tag drei Mal wiegen. Es geht darum, diese Angst zu adressieren. Nach einiger Zeit schildern meine Klient:innen, dass sie zum ersten Mal seit Jahren wieder ein Essen genießen konnten. Diese Momente bestärken enorm. Dieses neue Lebensgefühl zu erfahren, ist ein ganz starker Motivator.

Aber ich muss auch sagen: Eine Diät zu machen, kann manchmal leichter sein, als sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das, was wirklich bremst ist, wenn Betroffene zum Arzt gehen und sowas hören wie: „Sie haben Knieprobleme? Dann nehmen Sie mal ab!“ Dann kommen wieder Zweifel und wir beginnen von vorne. Dabei können Knieprobleme auch bedeuten, dass wir die Muskulatur stärken, zum Physiotherapeuten gehen oder Krafttraining machen sollten. Auch eine Person, die dünn ist, hat Knieprobleme.

Zwei Frauen in Bodys stehen nebeneinander.

Das klingt nach einem langen Prozess…

Ja, aber es passiert auch nicht über Nacht, dass man ein ungesundes Essverhalten entwickelt. Das ist ein langer Prozess. Wir wollen immer schnelle Lösungen, aber die schnellen Lösungen sind oberflächlich und nichts, was langfristig hält. Bei einer Person, die an einem Burnout leidet, wird es auch nicht ausreichen, ein paar Entspannungsübungen zu lernen, sondern da geht es um Glaubenssätze: Wie definiere ich mich selbst, wie grenze ich mich ab, was mute ich mir zu und was nicht.

Wir sind es gewohnt, dass in den Medien propagiert wird, dass schnelle Erfolge kommen, wenn ich mich nur ein bisschen zusammenreiße. Wenn ich mir ansehe, dass viele mit zehn oder dreizehn Jahren ihre erste Diät gestartet haben und jetzt vierzig sind, dann frage ich mich: Ist es das wert, am Ende zurückzublicken und zu sagen: „Ich habe in eine Größe 36 gepasst?“ Ich weiß nicht, ob es im Leben nicht auch andere Ziele geben sollte, die weit wichtiger sind, als eine bestimmte Zahl auf der Waage… und ob Gesundheit nicht wichtiger ist.

Oder Genuss…

Ja, genau. Von Kritiker:innen höre ich oft: „Na, dann nehmen ja jetzt alle Leute zu...“ Aber das ist die falsche Diskussion! Es geht sehr wohl darum, wie nährstoffreiche Ernährung aussieht, aber auf einem einfachen und genussvollen Weg. Wir sprechen nicht darüber, ob ein bestimmtes Gewicht gesund oder ungesund ist. Wir reden darüber, wie wir Gesundheit fördern können. Wenn man sich Studien anschaut, sieht man einfach, dass die meisten Menschen auf einem Diätweg scheitern. Sie geraten in ein weight cycling (Jo-Jo-Effekt), sie haben ein reduziertes Körpergefühl, sie spüren Hunger und Sättigung nicht mehr.

Das weight cycling hat auch einen massiven Einfluss auf die Cortisolwerte, Bluthochdruck und, und, und. Das schädigt die Gesundheit langfristig! Mit diesem Weg abzunehmen, um ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, kommen wir also nicht ans Ziel. Wir müssen stattdessen schauen: Egal wo eine Person mit ihrem Gewicht steht, wie kann ich ihre Gesundheit fördern? Manche nehmen auf diesem Weg ab und manche bleiben so, wie sie sind. Aber wenn sie sich auf diesem Weg nährstoffreich ernähren, Essanfälle reduziert sind, sie mehr Bewegung im Alltag haben und mehr Selbstwert erleben, dann ist die Gesundheit zu 400% gefördert worden.

Bild von Cornelia Fiechtl, die auf einem Bett liegt, zwei Pizzakartons neben sich, und genüsslich in ein Stück Pizza beißt.

Wie ist das bei Personen, die starkes Untergewicht haben?

Wenn wir von Magersucht reden, klar, dann muss die Nährstoffversorgung im Vordergrund stehen, weil es wirklich um eine Lebensgefährdung geht. Aber es geht eben nicht nur um das Gewicht allein, sondern auch um einen ganzheitlichen Blick: Blutbefunde, Energielevel und bei Frauen, ob die Periode vorhanden ist. Das sind so Marker, die uns eindeutig sagen, wie es dem Körper geht. Es gibt auch Leute, die ein niedrigeres Gewicht als die Norm haben, aber trotzdem gesund sind.

Wenn du dir etwas wünschen könntest: Was sollte sich gesellschaftlich in Bezug auf Essen und Körper ändern?

Ich würde mir wünschen, dass wir ein Gesundheitssystem haben, das wirklich Gesundheit adressiert, alle Menschen abholt, wo sie stehen, und die Person unabhängig vom Gewicht in den Vordergrund rückt. Dass wir uns überlegen: Wie können wir die Gesundheit der Person fördern, wenn ich inklusiv denke und nicht mit dem Finger auf eine Person zeige und sage: „Du bist zu dick, du musst abnehmen!“ Dass wir alle Leute an die Hand nehmen und sie zu einem gesunden Lebensgefühl begleiten. Ich wünsche mir wirklich, dass vor allem Mädels, aber auch Jungs, in einer Welt großwerden, in der sie ihre Ziele und Träume verfolgen können, anstatt darüber nachzudenken, ob ihr Körper richtig ist.

Vielen Dank für das Interview!


 

Über Cornelia Fiechtl:
Cornelia Fiechtl ist Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin sowie Yogalehrerin mit Schwerpunkt Yogatherapie. Während ihrer Tätigkeit in Kliniken und diversen Projekten wurde ihr bewusst, dass angewandte Behandlungsansätze oftmals „einseitig“ sind. Cornelia Fiechtl beschäftigt sich mit Themen wie achtsamem und intuitivem Essen sowie Körperrespekt und begleitet Personen zu einem gesunden Essverhalten. Sie unterrichtet Diätolog:innen in Ausbildung, betreibt den Podcast „Food Feelings“ und die Achtsam Essen Akademie.

 

Zum Weiterlesen [Werbung]:
Fiechtl, Cornelia (2022). Food Feelings. Wien: Kremayr & Scheriau.