Sei du selbst: Wie Frauen Erwartungen abstreifen und befreiter leben

Eine junge Frau in Jeans und Pulli steht herzhaft lächelnd vor einer bunt angemalten Wand.

Auch wenn sich stereotype Bilder wandeln: Es gibt sie immer noch, die einengenden Botschaften an Mädchen und Frauen. Eine grundlegende Message ist: „Kümmere dich um die Bedürfnisse von anderen!“ Die Philosophin Kate Manne bezeichnet Frauen als human givers, von denen erwartet wird, dass sie selbstverständlich Verständnis, Zeit, ihren Körper und Fürsorge für andere bereitstellen. Der internationale Frauentag am 8. März ist eine gute Gelegenheit, nach psychologischen Methoden für weibliche Selbstbestimmung Ausschau zu halten.

Seit 25 Jahren arbeite ich vorwiegend mit und für Frauen. Viele Jahre habe ich junge Frauen dabei begleitet, Wege aus ihrer Essstörung zu finden und sich so zu mögen, wie sie sind. Doch auch Frauen in Führungspositionen tragen Unsicherheiten mit sich herum und schauen oft durch eine Defizitbrille auf sich selbst. Ich ermutige diese Frauen, an die eigenen Kompetenzen zu glauben, sie im Körper zu spüren und die eigenen Stärken in den Blick zu nehmen. Dabei geht es nicht um Selbstoptimierung, sondern um Selbstbestimmung und Zufriedenheit. Viele Frauen sind einfach nur total erschöpft und kommen in meine Achtsamkeitskurse. Endlich beginnen sie, sich Raum und Zeit für die eigene Selbstfürsorge zu nehmen und sich liebevoll um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern.

Die 6 folgenden Übungen helfen Frauen, Erwartungen zu erkennen und unpassende Botschaften abzustreifen. Die Methoden sind für alle Leser:innen interessant. Du kannst sie in deine Arbeit mit deinen Klientinnen einfließen lassen oder die Impulse für dich selbst nutzen (diese und viele weitere Übungen, Studien und Praxisbeispiele findest du in Juchmann, 2023.)

 

1. Erkenne familiäre Erwartungen

Als systemische Familientherapeutin schaue ich mit meinen Klientinnen fast immer auf ihre Familiengeschichte. Ob im Coaching oder auch in der Therapie, es ist erkenntnisreich und berührend, sich die Botschaften wichtiger Bezugspersonen bewusst zu machen.

Folgende Fragen sind dabei anregend:

  • Welche Botschaften hast du von deinen wichtigsten Bezugspersonen erhalten?
  • Was haben deine Eltern von dir als Kind, als Jugendliche erwartet? Und was erwarten sie heute noch von dir?
  • Gab es und gibt es spezifische Erwartungen an dich als Mädchen oder Frau?
  • Welche Frauen- und Männerbilder wurden dir in deiner Familie vermittelt?
  • Was möchtest du davon weiter beherzigen, weil es zu dir passt? Und was möchtest du abstreifen?

Eine Klientin von mir brachte es neulich auf den Punkt: „Mir wird durch den Blick auf meine Familie und deren Erwartungen an mich bewusst, dass ich etwas übernommen habe, ohne es zu überprüfen. Jetzt beginne ich, die Botschaften in Frage zu stellen und meine eigenen hilfreichen Glaubenssätze zu entwickeln.“

Eine Mutter hockt neben ihrer kleinen Tochter und flüstert ihr etwas hinter vorgehaltener Hand ins Ohr.

2. Sei einfach da

Anstatt immer bemüht zu sein, dich zu verbessern oder es anderen recht zu machen, schlägt die Achtsamkeit vor: Sei einfach da und nimm dich wahr. Viele Frauen fällt es schwer, sich Zeit für sich zu nehmen und die Bedürfnisse der anderen hintenanzustellen. Eine meiner Klientin sagte dazu: „Beim Meditieren nehme ich wahr, wie sehr ich an andere denke und wie schwer es mir fällt, einfach mal bei mir zu bleiben.“ Gerade deswegen sind Achtsamkeitsübungen so sinnvoll, weil sie in Kontakt bringen mit den eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen.

Eine Atempause: Also gönne dir eine kurze Pause vom Tun und komme mehr ins Sein. Schließe deine Augen und spüre deinen Atem im Körper. Vielleicht in der Bauch- oder Brustregion. Nimm wahr, wie dein Atem kommt und geht. Dann frage dich: Wie geht es mir gerade im Moment? Was brauche ich?

Dieser kleine Stopp lässt sich eigentlich immer einbauen und sorgt dafür, uns selbst nicht zu übergehen.

 

3. Gib dir Raum

Schon Virginia Woolf wusste, dass sie einen Raum für sich allein brauchte, um schreiben zu können. Neulich meinte eine Klientin bei mir im Coaching: „Ich habe gelernt, so wenig Raum wie möglich einzunehmen. Ich merke das auch in unserer Wohnung. Alle haben mehr Raum als ich. Ich ziehe mich oft ins Schlafzimmer zurück, anstatt mich zum Lesen in den Sessel zu setzen. Und ich mache mich oft klein in der U-Bahn oder setze mich in die letzte Reihe bei einer Veranstaltung.“

In der folgenden Übung lade ich dich ein, den Raum um dich herum zu spüren und ihn wirklich einzunehmen. Strecke beide Arme und Hände nach vorne aus und fühle den Raum vor dir, dann dehne die Arme zu den Seiten aus, nach oben und hinten und spüre, wie viel Platz du um dich herum hast. Schließe kurz die Augen und fühle den dich umgebenden Raum. Vielleicht entsteht auch ein wohltuendes Bild eines farbigen Schutzmantels, einer luftigen, stärkenden Hülle, einer Kraftschicht um dich herum. Dieser persönliche Raum, in der Tanztherapie auch Kinesphäre genannt, gehört zu deinem Körper. Wenn du ihn immer wieder bewusst spürst und einnimmst, kannst du deine Grenzen besser nach außen schützen und wirkst selbstbewusster und präsenter.

Bei Sonnenuntergang ist die Silhoutte einer Frau zu sehen, die am Strand einen hohen Beinkick aus dem Kampfsportbereich ausführt.

4. Höre deinen leisen inneren Stimmen zu

Wir haben eine Vielfalt an inneren Stimmen in uns: Da melden sich kritische Seiten, antreibende, perfektionistische Stimmen. Aber auch innere Faulpelze und Genießerinnen sind Teil unseres inneren Chores. Eine junge Psychologin erkannte neulich in der Selbsterfahrung, dass ihre braven, angepassten Stimmen ständig aktiv sind. Sie fordern sie auf, sehr nach den anderen zu schauen und möglichst alles richtig zu machen. Und auch ihre leistungsorientierten, antreibenden inneren Seiten verlangen permanent super Resultate und warnen vor Pausen und einem inneren Loslassen. Das ist anstrengend und total einseitig. Denn schließlich haben wir ja auch Bedürfnisse nach Entspannung, Kreativität und Spaß.

Deshalb lohnt es sich, zu erkennen, welche Stimmen im eigenen Inneren laut und dominant sind und welche inneren Botschaften zu leise auf sich aufmerksam machen oder ganz still sind. Achte im Alltag also immer wieder darauf, welche innere Stimme dominant ist, und lausche genauer, welche Seite vielleicht auch leiser zu dir spricht und auf was sie dich aufmerksam macht.

 

5. Spüre deine Kompetenzen im Körper

Wenn ich Frauen nach ihren Kompetenzen frage, dann werden sie oft zögerlich und zurückhaltend. Oft ist ihr Credo „Nur nicht angeben!“, „Nur nicht zu stark wirken!“. Eine erfolgreiche Architektin formulierte in einem beruflichen Coaching das Ziel „Ich will meine Fähigkeiten kennen und ihnen mehr vertrauen.“ Sie konnte einige ihrer Stärken benennen und sagte plötzlich: „Ich bin stolz auf mich.“ Ich bat sie dann, die Augen zu schließen und zu erkunden, wo sie diesen Stolz im Körper spürt. Dann berichtete sie von einem guten Bodenkontakt und einem angenehmen Wärmegefühl. Ihr Körper richtete sich mehr auf und sie begann, sich zu entspannen und zu lächeln.

Es gilt, die eigenen Kompetenzen nicht nur kognitiv benennen zu können, sondern sie auch körperlich zu spüren und damit zu verankern und abrufbar zu machen. Dann wird es uns mit der Zeit ganz natürlich vorkommen, dass wir kompetent sind und diese Kompetenz auch spüren.

Zwei Frauen stehen entspannt nebeneinander, die eine hat der anderen die Hand auf die Schulter gelegt, die diese mit ihren eigenen Händen umfasst.

6. Sei du selbst auch im Kontakt mit anderen

Vor einigen Tagen fragte mich eine gute Freundin: „Bei wem kannst du eigentlich so sein, wie du bist?“ Eine super inspirierende Frage, wie ich finde. Auch folgende Überlegungen sind spannend: Wer erkennt dein Potenzial und das, was dich ganz persönlich ausmacht? Wer schätzt dich wert und zeigt dir das auch? Es ist in jedem Fall ratsam, mit Menschen, die uns guttun, mehr Zeit zu verbringen.

Natürlich wollen wir auch bei uns sein können, wenn andere Menschen uns herausfordern. Wenn sie viel von uns erwarten und wir uns unter Druck fühlen. Oder auch im Kontakt mit Menschen, denen wir helfen. Dann ist es besonders wichtig, den eigenen Körper zu spüren und sich zu fühlen. Es gilt, sich mit der eigenen Aufmerksamkeit nicht beim anderen zu verlieren, sondern immer wieder bei sich selbst anzukommen. Alle im Text beschriebenen Übungen helfen dir auch im Kontakt mit herausfordernden Menschen.

Ich wünsche dir viel Freude dabei, du selbst zu sein!

 

Zum Weiterlesen

[Werbung] Juchmann, Ulrike. Sei du selbst, alle anderen gibt es schon. Wie Frauen Erwartungen abstreifen und befreiter leben. Weinheim: Beltz.

[Werbung] Manne, Kate (2020). Down Girl. Die Logik der Misogynie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.