Zwischen Akzeptanz und Selbstoptimierung: Woran die Persönlichkeit wächst

Ein kleiner Junge steht am Beginn einer langen Treppe.

Können wir unsere Persönlichkeit verändern? Oder ist das alles festgelegt? Eva Asselmann, Professorin für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie, spricht im psylife-Interview über Selbstoptimierung, einschneidende Lebensereignisse und darüber, welchen Einfluss Therapie und Coaching auf die Persönlichkeitsentwicklung nehmen können.

Eva, ich würde von mir selbst sagen, ich bin eher introvertiert und stehe ungerne vor sieben Uhr auf. Würdest du aus Sicht der Persönlichkeitsforschung sagen, das ist „charakterlich festgelegt“ – oder ließe sich daran etwas ändern?

Prinzipiell stehen die Grundzüge schon fest. Gerade in der klinischen Psychologie gibt es häufig die Auffassung, dass sich die Persönlichkeit im Kindes- und Jugendalter entwickelt und wir im Erwachsenenalter ausgereift sind. Inzwischen wissen wir aber, dass dem nicht so ist: Wir lernen ein Leben lang. Und wir wissen auch, dass man durch gezielte Interventionen zumindest kurzfristige Persönlichkeitsveränderungen anschieben kann. Inwiefern diese Persönlichkeitsveränderungen dann langfristig anhalten, muss man zwar noch weiter prüfen. Aber fest steht, und das haben inzwischen viele wissenschaftliche Studien gezeigt, dass unsere Persönlichkeit nicht in Stein gemeißelt ist. Man kann sich in einem gewissen Maße schon verändern. Ich muss allerdings fairerweise dazu sagen, dass diese Veränderungen eher klein sind. Die Wahrscheinlichkeit, sich um hundertachtzig Grad zu wenden, ist ziemlich gering, aber man kann definitiv an sich arbeiten. Je konkreter die Verhaltensziele sind, umso besser.

 

Was wäre ein gutes Anzeichen dafür, dass man etwas verändern sollte?

Das ist tatsächlich die eigentliche Frage! In der klinischen Psychologie haben wir es mit psychischer Gesundheit zu tun und da kann man sagen, dass ein hohes Maß an Gesundheit erstrebenswert ist. Aber bei Persönlichkeitseigenschaften sprechen wir nicht per se von „besser“ oder „schlechter“. Hier haben wir unterschiedliche Ausprägungen, die jeweils Vor- und Nachteile haben. Wir wissen aus der Forschung, dass es sehr hartnäckige Vorstellungen in der Bevölkerung gibt, dass es z. B. erstrebenswert ist, höhere Ausprägungen in den Big Five zu haben, also offener, gewissenhafter, extravertierter, verträglicher und emotional stabiler zu sein. Aber da rate ich immer zur Vorsicht. Bevor man anfängt, sich verändern zu wollen, sollte man sich überlegen, was gut ist an den Eigenschaften, die man aktuell hat. Auch vermeintliche Schwächen haben eine positive Seite!

Ich würde daher gar nicht anstreben, die gesamte Persönlichkeit umzukrempeln, sondern stattdessen nur an konkreten, umschriebenen Problemen arbeiten. Gesellschaftlich gilt es z. B. als erstrebenswert, extravertiert zu sein: gesellig, gesprächig und unterhaltsam. Introvertiert zu sein gilt hingegen oft als langweilig, dabei bringt auch diese Eigenschaft ganz viele Stärken mit sich. Introvertierte können sich oft lange Zeit konzentriert mit einer Sache befassen und gut mit sich allein sein. Aber mal angenommen, jemand fühlt sich wegen seiner Introversion einsam und isoliert oder wird auf der Arbeit nicht beachtet, und diese Person leidet darunter, dann könnte es darum gehen, aktiv etwas zu verändern: einen Vortrag zu halten, auf Leute zuzugehen… auch wenn das eigentlich nicht dem eigenen introvertierten Naturell entspricht, aber einfach um gewisse Nachteile auszugleichen.

Porträtaufnahme von Eva Asselmann, sie hat lange blonde Haare und einen Pony, trägt eine Brille, ein weißes Shirt und eine schwarze Jacke.

Also es lohnt sich, etwas zu verändern, wenn sich im alltäglichen Leben oder im Umfeld immer wieder Schwierigkeiten ergeben…

Genau. Und ansonsten rate ich aktiv dazu, die Stärken zu beleuchten, weil wir diese häufig außer Acht lassen. Wir rennen im Alltag vermeintlichen Idealen hinterher und denken: „Wenn wir so sind, dann sind wir beliebter, erfolgreicher oder glücklicher“. Das ist aber nicht zwangsweise der Fall! Häufig liegt der Schlüssel zum Erfolg in einer besseren Selbstakzeptanz.

 

Was sagst du in diesem Zusammenhang zum Selbstoptimierungstrend?

Im Sinne eines lebenslangen Lernens kann es durchaus erstrebenswert sein, an sich zu arbeiten und aus Fehlern zu lernen. Wir Menschen sind so veranlagt, dass wir uns verändern und besser werden wollen. Man muss aber aufpassen, dass es nicht zu exzessiv wird.

 

In Therapie und Coaching begleiten wir Menschen bei Veränderungen. Welche Schwierigkeiten können sich dabei ergeben?

Eine Schwierigkeit kann eine falsche Zielsetzung sein: Wenn ich zum Beispiel davon ausgehe, dass ich als introvertierte Person nicht liebenswert bin und deswegen extravertiert werden will. Es geht erst mal darum zu überlegen: Warum will ich das überhaupt? Ist mein vermeintliches Ziel wirklich langfristig zielführend?

Dann wissen wir aus der Forschung, dass man Veränderungsziele am besten erreicht, wenn man sich konkrete, ganz verhaltensnahe Ziele setzt. Also nicht generisch: „Ich möchte jetzt gewissenhafter werden“, sondern ganz konkret: Was mache ich kommende Woche? Was setze ich genau um? Wenn ich gewissenhafter werden will, kann ich zum Beispiel die Post immer direkt abheften, wenn sie ankommt, oder jede Woche Mittwoch meine Wohnung staubsaugen. Dafür kann man z. B. die SMART-Zielsetzungstechnik nutzen, sich also spezifische, messbare, attraktive, realistische und terminierte Ziele setzen. Je konkreter meine Ziele sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich diese auch erreiche.

Eine weitere Herausforderung ist das Dranbleiben. Das kennt jeder von den eigenen Neujahrsvorsätzen: Man setzt sie entweder gar nicht um oder nur sehr kurzfristig - und verfällt dann wieder in alte Gewohnheiten. Dabei ist es wichtig, dass man langfristig am Ball bleibt, z. B. nicht nur einen Monat lang jeden Mittwoch die Wohnung zu staubsaugen, sondern es langfristig weiter fortzuführen. Solange, bis das neue Verhaltensmuster zur festen Gewohnheit geworden ist.

 

Wie können wir diese Prozesse in Therapie und Coaching am besten unterstützen?

Man kann die Selbstreflektion anregen: Was setze ich schon um? Was klappt noch nicht so gut? Was bräuchte ich, damit ich auch das besser umsetzen kann? Was muss jetzt noch passieren, damit ich zu meinem Ziel komme?

Was auch durchaus komplex sein kann, ist die Bewertung von Zielen: Ist mein Ziel überhaupt geeignet? Stimmt es mit meinen grundlegenden Werten im Leben überein, und welche sind das? Wo strebe ich hin? Was ist mir wichtig? Das kann man z. B. mit der Wunderfrage oder mit Skalierungsfragen unterstützen.

Zwei junge Männer und zwei junge Frauen im legeren Businesslook stehen beieinander, eine der Frauen und einer der Männer geben sich lächelnd die Hand.

Welche Lebensereignisse wirken sich darüber hinaus auf unsere Persönlichkeit aus?

Erstaunlicherweise scheinen es eher berufliche Veränderungen zu sein, die die Persönlichkeitsentwicklung antreiben. Wir konnten z. B. nach der Geburt des ersten Kindes keine Persönlichkeitsveränderungen in den „Reife-Traits“ wie Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit oder emotionaler Stabilität finden. Diese Merkmale sind hingegen bei Berufseinsteiger:innen angestiegen. Junge Erwachsene waren nach dem Berufseinstieg im Schnitt extravertierter, verträglicher und auch gewissenhafter. Erklären könnte man das mit neuen sozialen Rollen: Als Berufstätige:r muss ich morgens pünktlich sein, meine Aufgaben erledigen, Vereinbarungen einhalten, professionell auftreten usw. Solchen Verhaltensanforderungen versuchen die meisten Menschen zu entsprechen. Man möchte den neuen Lebensabschnitt ja gut meistern und beruflich erfolgreich sein. Langfristig kann sich das tatsächlich in der Persönlichkeit manifestieren, wenn ich mich über einen längeren Zeitraum entsprechend dieser neuen Rollenanforderung verhalte. Die große Frage ist, warum das nicht bei der Geburt des ersten Kindes passiert, wo man ja auch mit neuen Rollenanforderungen als Mutter oder Vater konfrontiert ist. Eine Vermutung wäre, dass es im Berufsalltag explizitere Feedbackprozesse gibt, die man im Privaten so nicht hat.

 

Welchen Einfluss haben andere Lebensereignisse wie Trennungen und Verlusterfahrungen?

Das haben wir uns auch angeschaut, z. B. was Verlusterfahrungen mit der Kontrollüberzeugung machen. Da konnten wir zeigen, dass die wahrgenommene Kontrolle von Menschen, die sich getrennt haben, im ersten Jahr danach geringer ausgeprägt war, aber langfristig angestiegen ist. Fünf Jahre nach der Trennung hatten die Menschen im Schnitt eine höhere Kontrollüberzeugung als vor der Trennung. Wahrscheinlich ist man im ersten Jahr noch verzweifelt, man weiß nicht, wie man den Verlust verarbeiten oder ohne den geliebten Menschen weiterleben soll. Langfristig macht man aber die Erfahrung, dass man es schafft. Solche anfangs schmerzhaften Erfahrungen können dazu führen, dass Persönlichkeitswachstum angestoßen wird. Es gibt aber auch den Mythos vom „posttraumatischen Wachstum“. Hier zeigt die Forschung ganz klar, dass sehr stressreiche bis traumatische Erfahrungen im Schnitt nicht zu einer psychischen Stabilisierung oder zu persönlichem Wachstum führen, sondern die meisten Menschen eher destabilisieren und überfordern. Um Persönlichkeitswachstum anzustoßen, brauchen wir eher ein moderates Maß an Herausforderung.

Ein Paar Füße, das auf dem Fußboden steht, ist zu sehen, links davon eine Keerschaufel, rechts davon ein Besen. Auf dem Boden verstreut liegen goldene Schnipsel.

Und was ist mit der Set-Point-Theorie des Wohlbefindens gemeint?

Die Set-Point-Theorie sagt, dass unser Wohlbefinden einen Set-Point hat, den viele auch vom Körpergewicht kennen. Jede:r hat einen individuellen Wert im Wohlbefinden, zu dem er oder sie nach sehr positiven oder negativen Erfahrungen immer wieder hin zurückkehrt. Wenn ich im Lotto gewinne oder einen Verlust erlebe, wirft mich das kurzfristig aus der Bahn, aber langfristig lande ich wieder bei meinem Set-Point. Wir konnten zeigen, dass die Set-Point-Theorie nicht nur auf die Lebenszufriedenheit, sondern auch auf verschiedene Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Ärger oder Glücklichsein zutrifft.

Selbst bei extrem einschneidenden Erfahrungen ging es betroffenen Personen im Schnitt fünf Jahre nach dem Ereignis in etwa so gut bzw. schlecht wie fünf Jahre vor dem Ereignis. Sie schafften es, sich selbst nach dramatischen Schicksalsschlägen wie dem Tod des eigenen Kindes langfristig wieder zu „berappeln“. Nach positiven Erfahrungen kehrt man übrigens noch schneller zu seinem Set-Point zurück als nach negativen Erfahrungen. Das Glücksgefühl nach einer Hochzeit oder einem Lottogewinn ist also nur von kurzer Dauer. Das zeigt, dass vermeintliche „Glücksbringer“, denen wir oft sehr viel Bedeutung beimessen, eigentlich gar nicht so bedeutend sind.

 

Eigentlich sind wir also ziemlich stabil…

Genau, singuläre, einschneidende Erfahrungen haben eher keinen langfristigen Effekt. Man kann den eigenen Set-Point durchaus verschieben, allerdings sind einschneidende Ereignisse dafür weniger bedeutsam als gemeinhin angenommen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Micro Habits langfristig einen größeren Impact haben. An solchen Dingen setzt ja auch eine Psychotherapie an. Dafür ist der Transfer in den Alltag aber ebenso wichtig und herausfordernd wie das langfristige Dranbleiben.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Eva!

 

Über Eva Asselmann:

Eva Asselmann ist Professorin für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie an der HMU Health and Medical University in Potsdam. Sie forscht zu den Themen Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheitsförderung und Prävention. Ergänzend bietet sie Coachings und Trainings zu den Themen Persönlichkeitsentwicklung, Resilienz, Stressmanagement und Entspannung an.

https://evaasselmann.com/

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Asselmann, Eva (2022). Woran wir wachsen. Welche Lebensereignisse unsere Persönlichkeit prägen und was uns wirklich weiterbringt. Die neuesten Erkenntnisse aus der Persönlichkeitspsychologie. München: Ariston.