Weibliche Wut: Wie sie vom Tabu zur Kraftressource wird

Wütende Frau zeigt mit Zeigefinger in Richtung Kamera

„Warum bist du so hysterisch?“, „Wut steht dir nicht!“ - Die weibliche Wut ist mit zahlreichen Stigmata behaftet. Viele Frauen haben daher gelernt, ihre Wut nicht zu zeigen oder gar zu unterdrücken. Auch der Fotografin Rosa Engel ist es so ergangen. Sie begann, Frauen in ihrer Wut zu fotografieren, um sich dem unliebsamen, aber doch wichtigen Gefühl anzunähern. Mit ihr und Coachin Nadine Henz haben wir darüber gesprochen, wie wir Wut mehr Raum geben können - und warum das so wichtig ist.

Wann seid ihr das letzte Mal wütend gewesen?

Rosa: Ich merke selbst noch oft, dass ich keinen guten Zugang zu meiner Wut habe. Deswegen kann ich spontan auch keine konkrete Situation benennen, in der ich wütend war. Inzwischen kann ich aber sagen, dass bei mir wutähnliche Gefühle vorhanden sind, wenn ich mich übergangen oder stark eingegrenzt fühle. Für mich ist Wut immer noch ein schwierigeres Thema. Das war auch mein Grund, das Fotoprojekt „Wut ist weiblich“ zu machen.

 

Wieso fällt es vielen Frauen so schwer, ihre Wut zu spüren oder zu zeigen?

Rosa: Wenn ich auf mich gucke und auf die Geschichten, die mir die Frauen bei den Shootings erzählt haben, denke ich, dass das ganz viel mit Erziehung zusammenhängt. Viele Frauen haben schon in der Kindheit gelernt, dass sich Wut für ein Mädchen nicht gehört, dass ein Mädchen nicht laut ist und dass es sie „hässlich“ macht, wenn sie ihre Wut zeigt. Das ist wie eine innere Schranke, die an der Stelle entsteht: Dass man das nicht fühlen sollte und dass das auch nicht weiblich ist.

Nadine: In meiner Arbeit fällt mir oft auf, dass es einen Zwiespalt zwischen individuellen Bedürfnissen und der (vermeintlichen) Erwartungshaltung von außen gibt. „Wie will ich sein?" oder „Wie will ich mich zeigen?" steht im Konflikt zu „Was erwarten die anderen von mir?" Viele denken, dass es negative Konsequenzen für sie haben könnte, wenn sie sich wütend zeigen. Wenn ich in meiner Vergangenheit festgestellt habe, dass ich getadelt oder emotional abgewertet werde, wenn ich Wut zeige, dann entwickelt sich möglicherweise die Überzeugung: „Wenn ich mich wütend zeige, dann werde ich bestraft - dann bin ich in diesem Moment nicht okay - also unterdrücke ich die Wut lieber.“

 

Also begegnen wütende Frauen auch gesellschaftlichen Stereotypen?

Rosa: Auf jeden Fall. Das, was bei Männern als kraftvoll und durchsetzungsstark gilt, ist bei Frauen nicht gerne gesehen und wird als hysterisch, übertrieben und emotional dargestellt. Man kann z. B. gut beobachten, wie Politikerinnen teilweise bewertet werden, wenn sie etwas lauter werden. Das wird eigentlich immer negativ gesehen, anstatt forsch und voranschreitend, wie es bei Männern der Fall wäre.

Nadine: Man wird als Frau schnell als „unsachlich“ bewertet, ist mein persönlicher Eindruck.

Eine Frau liegt auf der Couch und hält sich den Bauch.

Warum ist es wichtig, Wut zu zulassen und nicht zu unterdrücken?

Nadine: In meiner Arbeit mit Klientinnen sehe ich es häufig, dass sie ihre Wut zwar wahrnehmen, aber große Probleme damit haben, diese Wut zu zeigen. Es scheint - genau wie Rosa es beschrieben hat -, als würde eine innere Schranke runtergehen. Dahinter verbirgt sich oft die Angst vor negativer Bewertung und Ablehnung oder die Angst, sich nicht mehr zugehörig zu fühlen und aus der Gruppe ausgestoßen zu werden. Wenn wir die Wut dann in uns spüren, uns auf Grund unserer Ängste aber nicht trauen, diese auszudrücken, dann stellt sich zusätzlich ein Gefühl von Ohnmacht ein: „Ich kann mich nicht wehren!" Diese Ohnmacht liefert den perfekten Nährboden dafür, dass wir die Verbindung zu unseren Mitmenschen kappen, indem wir still und leise immer zynischer, verbitterter und misstrauischer werden.

So richten wir die Wut dann entweder „heimlich" gegen andere und verhalten uns (unbewusst) passiv-aggressiv oder wir richten die Wut direkt gegen uns selbst. Dann machen wir uns z. B. Vorwürfe, werten uns selbst ab, setzen uns enorm unter Druck und vergiften unseren Körper und unseren Geist, indem wir ständig negative Gedanken denken und Gefühle von Scham und Schuld pflegen. Das kann sich auf der körperlichen Ebene in Form von psychosomatischen Beschwerden wie Reizmagen und -darm, Gastritis oder Sodbrennen äußern. Organsprachlich wird die Wut v. a. mit dem Magen-Darm-Trakt in Verbindung gebracht, wobei natürlich - je nach individueller körperlicher Schwachstelle - auch zahlreiche andere Symptome (z. B. erhöhte Infektanfälligkeit) auftreten können. Auf psychischer Ebene leiden besonders das Selbstbild und das Selbstwertgefühl.

Daher ist es in erster Linie wichtig, die eigene Wut bewusst wahrzunehmen und ihr Raum zu geben. Dies kann z. B. über das sogenannte „ehrliche Mitteilen" geschehen, also indem man es ehrlich mitteilt und sagt, was in einem passiert und was man beobachtet. Das kann schon viel Erleichterung bringen.

Rosa: Ich finde, Wut ist auch eine wichtige Triebfeder, denn ohne Wut findet Entwicklung nicht statt. Wenn man nicht ausspricht, was eigentlich drückt, dann wird sich auch nichts verändern.

 

Rosa, welche Erfahrungen hast du gemacht, während du Frauen in ihrer Wut fotografiert hast?

Rosa: Ich habe vor allem die Erfahrung gemacht, dass es viele Frauen gibt, die keinen Zugang zu ihrer Wut haben. Ich habe die Shootings oft mit der Frage begonnen: „Was macht dich wütend?“ In den meisten Fällen war die Antwort: „Ich fühle mich eigentlich nie wütend“. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass Frauen ihre Wut nicht mehr wahrnehmen. Wobei ich den Eindruck hatte, dass das eine Generationsfrage ist: Jüngere Frauen haben schon einen besseren Zugang, während Frauen, die ein bisschen älter sind, das größtenteils abtrainiert bekommen haben.

Während der Shootings haben wir uns dem Gefühl angenähert. Ich habe z. B. nachgefragt, welche Themen das sein könnten, die wütend machen. Wir sind dann in diese Themen reingegangen. In dem Moment, wo auch die Erlaubnis da war, Dinge auszusprechen, die man gerne sagen würde, ist bei den meisten Frauen ganz schön was ins Laufen gekommen. Am Anfang waren die Äußerungen meist noch sehr vorsichtig und in soziale Watte gepackt. Die Formulierungen waren noch sehr weich: „Du, was ich dir schon immer mal sagen wollte… ich fühle mich grade verletzt…“ Ich habe dann rückgemeldet: „Wenn du mir das so sagst, verstehe ich dich leider nicht“, bis den Frauen der Kragen geplatzt ist und sie alles das rausgelassen haben, was ohnehin schon die ganze Zeit vor sich hin gelodert hat.

Eine Frau steht mit einer Kamera im Zimmer und schießt ein Foto.

Wie haben die Frauen das erlebt?

Rosa: Ganz viele haben gesagt, dass es eine unglaubliche Erleichterung war, ihre Wut rauszulassen und einen Raum dafür zu haben. Es gab auch welche, die sich vor sich selbst erschrocken haben und erst mal eine Weile gebraucht haben, um ihre eigene Wut zu akzeptieren. Die Bilder, die entstanden sind, haben diesen Frauen geholfen, damit zurecht zu kommen, dass sie auch solche Anteile haben. Der größte Teil hat aber gesagt, dass es unglaublich gutgetan hat, alle Grenzen sprengen zu dürfen und dafür nicht verurteilt, sondern - ganz im Gegenteil - noch ermutigt zu werden.

 

Was könnte Frauen helfen, auch im Alltag ihre Wut mehr zu spüren und sie zum Ausdruck zu bringen?

Rosa: Ich denke, vor allem Achtsamkeit und eine Offenheit dafür, sich zu sagen: „Es ist okay, dass ich das fühle!“. So können wir uns dem Gefühl annähern. Wir müssen Frieden damit machen, dass Wut kein männliches Gefühl ist, sondern dass alle Menschen das fühlen dürfen.

Nadine: Emotionen sind Emotionen. Mehr nicht! Sie sind alle richtig und wichtig, selbst wenn sie unangenehm sind. Unangenehm heißt nicht „schlecht“ und angenehm heißt auch nicht unbedingt „gut“. Es geht nicht darum, immer nur „dankbar und glücklich“ zu sein. Wenn ich diese Erwartungshaltung habe, schafft das Druck. Dann habe ich das Gefühl, die Wut passt nicht dazu und ich sollte sie nicht fühlen. Wir brauchen stattdessen eine Offenheit dafür, dass alles, was wir in uns bemerken, da sein darf. Es kann dafür hilfreich sein, eine Art „inneren Beobachter" zu installieren und mit etwas Abstand unsere Gefühle und Gedanken anzuschauen. So als würde ich mir einen Tropenhut aufsetzen, auf Safari gehen und gucken, was ich so finde: „Ich erkunde meine Emotion und alle Empfindungen“. Dann haben wir auch nicht so sehr das Gefühl, dass ich die Wut bin, sondern dass ich die Besitzerin meiner Gedanken, Emotionen und Gefühle bin. Die Wut kontrolliert mich daher nicht, sondern ich sie.

 

Wie unterstützt du Frauen dabei in deinen Coachings?

Nadine: Wir fangen häufig genau damit an, sich selbst bewusst zu machen, dass man selbst nicht das Gefühl ist. Ich rege meine Klient:innen dazu an, sich selbst im Alltag zu beobachten und Empfindungen erst mal wahrzunehmen und zu beschreiben, ohne sie zu bewerten, also z. B. „Ich spüre die Wut in meinem Bauch“, „Mein Puls ist erhöht“, „Ich spüre, dass ich zittere“.

Ich bin ein großer Fan vom „ehrlichen Mitteilen“: sich selbst gegenüber, aber auch anderen gegenüber. Um zu schauen, wo bestimmte Reaktionsmuster ihren Ursprung haben, nutze ich gerne systemische Übungen. Mit Hilfe eines Genogramms kann ein wertschätzender Blick zurück in die ursprüngliche Familiendynamik getätigt werden. Hier können Klient:innen oft erkennen, welche Glaubenssätze und Verhaltensmuster sie in ihrer Familie erlernt haben und welche Abhängigkeiten und Loyalitätsleistungen untereinander bestehen. Um damit einen Umgang zu finden, arbeite ich gerne mit dem inneren Team. Man kann z. B. Stühle oder das Systembrett nutzen, um sich mit den verschiedenen inneren Anteilen zu unterhalten, mit ihnen in Kontakt zu treten und auch zu schauen, wie sich die inneren Anteile gegenseitig unterstützen können. Zur Veranschaulichung empfehle ich gerne den Disney-Film „Alles steht Kopf“. Da ist das super erklärt.

Ein Fernglas liegt auf einem Tisch.

Inwieweit hat sich euer eigener Umgang mit Wut verändert?

Rosa: Das Fotoprojekt war für mich eine wirkliche Annäherung an das Thema Wut und wie Frauen sie ausleben können. Das hat viel für mich verändert und mir die Tür geöffnet. Ich weiß jetzt, dass ich diese Anteile, die ich jahrelang verleugnet habe, in mir habe und dass sie ein Teil von mir sind. Auch wenn es immer noch schwierig ist und ich meine Wut oft gar nicht so mitbekomme, merke ich doch, es wird besser. Ich habe diese Momente, wo ich merke: „Dieses Unbehagen, das ich grade habe, das ist Wut“. Und ich lerne auch zunehmend, mitzuteilen, dass ich Wut verspüre und dass die Situation verändert werden müsste.

Nadine: Ich komme häufiger mit Wut in Berührung und ich weiß, ich kann damit umgehen. Ich muss nicht mehr so lange in der Wut verharren. Ich weiß, woher sie kommt und welche früheren Erfahrungen vielleicht durch bestimmte Situationen getriggert werden und die Wut auslösen.

 

Was würdet ihr Frauen gerne abschließend mit auf den Weg geben?

Rosa: Schätzt dieses Gefühl! Wut ist eine Kraftressource. Grade in Krisensituationen ist Wut absolut für uns: Sie will uns beschützen, will uns aus schwierigen Situationen rausholen und uns zu Veränderungen bringen. Anders als die Trauer, die oft lähmend und erschöpfend ist, ist Wut aktivierend. Wer wütend ist, kommt auf jeden Fall voran.

Nadine: Ganz banal: Wut ist okay, so wie jede andere Emotion. Nehmt sie an und hört auf sie zu bekämpfen, denn sie ist nicht euer Feind.

Ich danke euch für das Gespräch!

 

Rosa Engel ist Fotografin aus Aachen. Durch ihre Fotos macht sie Frauen mit all ihren Facetten, ihrer Stärke und Verletzlichkeit sichtbar. Durch ihr Fotoprojekt „Die Wut ist weiblich“, den Fotoband und die Wanderausstellung möchte sie Frauen dazu ermutigen, ihre eigene Wut zu spüren und zu zeigen.

https://wutistweiblich.rosaengel.de/

https://www.rosaengel.de/

Nadine Henz arbeitet als zertifizierte systemische Coachin und psychologische Beraterin in Köln. Es ist ihr ein besonderes Anliegen, jeden Menschen in seiner komplexen Ganzheit zu betrachten.

https://coaching-psychotherapie.koeln/