Warum es wichtig ist, Wut als Potenzial zu sehen
Können deine Patient*innen es zum Ausdruck bringen, wenn sie wütend sind? Und wie ist das als Therapeut*in: darf man da überhaupt wütend sein? Wut und Ärger sind unangenehme Gefühle, aber auch wichtige innere Ratgeber, die viel Energie für Veränderungen bereitstellen können – wenn man sie richtig versteht. Wie du in der Psychotherapie mit ihnen umgehen kannst, erklärt dir unser Autor Boris Pigorsch.
In der Psychotherapie werden wir an vielen Stellen mit Gefühlen von Wut und Ärger konfrontiert – sowohl auf Seiten unserer Patient*innen als auch auf Therapeut*innenseite. Dabei erscheinen Wut und Ärger im Leben in vielerlei Gewändern: als leichte Verärgerung, als energiereicher „Zorn“, als eine vage, das eigentliche Gefühl maskierende „Genervtheit“, als pure „Wut“ oder gar als blankes „Hass-Gefühl“. In allen Schattierungen, mal offen, mal verdeckt, werden uns diese Gefühlsregungen offenbar.
Einer meiner Patienten bemerkte mit mildem Lächeln, dass er halt immer „Liebling aller“ sei, der sanft und zuvorkommend allem und jedem begegnete, selbst wenn seine eigenen Grenzen schon stark überschritten waren. Wo seine Wut denn eigentlich versteckt sei, ob der vielen Grenzverletzungen seiner Biografie, fragte ich ihn eines Tages in der Sitzung. Und ob ich sie kennenlernen dürfte? Er wand sich bei der Vorstellung, seinem Geschäftspartner oder gar seiner Ehefrau (vom Schwiegervater ganz zu schweigen) einmal mit dem Zeigen dieses Gefühls authentisch gegenüberzutreten. Dieser Schutzmechanismus war für ihn immens wichtig, fürchtete er nach vielen Verlusten der Lebensgeschichte doch nichts mehr als noch mehr Konflikte und Trennungen beziehungsweise die Erfahrung, ausgestoßen zu werden. Innerlich behielt ich das Thema auf der Agenda, jedoch mit dem Respekt vor seinem Entwicklungsprozess und der Zeit, die das Anerkennen der Wut und damit der eigenen Grenzen sowie deren Verletzungen benötigte.
„Wut? Kenne ich nicht von mir!“
Eine andere Patientin berichtete, Wut gar nicht von sich zu kennen. Dennoch versuchte sie mit aller Macht, eine sich distanzierende Freundin – mit durchaus aggressiver Note – für sich zurückzugewinnen, beispielsweise indem sie die Freundin kontrollierend und vorwurfsvoll ausfragte, wann diese sich mit wem getroffen habe. Im Therapieprozess benannte sie zudem, dass sie schnell weine, wenn sie einen offenen Konflikt mit jemandem habe. Wut und Ärger spüre sie eigentlich nie. Auch hier zeigte sich eine starke Tabuisierung und Verdrängung der eigenen Aggressivität und der Gefühlswelt von Ärger, Wut und Co. Das Weinen verschaffte ihr (z.T. unbewusst) einen Schutzraum, ein „beiß-mich-nicht“ in der Interaktion und im Konflikt und maskierte zugleich die Erwartungen (an die Freundin) und Bedürfnisse innerhalb der Freundschaft. Die Entwicklung von Empathie für die Freundin, diese mit ihren Bedürfnissen zu verstehen, kam dabei zu kurz.
Zugleich weckte das kindliche Weinen bei einigen Freunden einen „Retter-Impuls“, der eine sachliche oder auch mal konfrontierende Klärung des Themas unmöglich machte und die ungünstigen Rollenverhältnisse – hier das vermeintliche „Opfer“ (Patientin), dort die angebliche „Täterin“ (sich distanzierende Freundin) und an dritter Stelle ein*e Retter*in – zementierte. Ihr Gegenüber konnte so nicht erkennen, was eigentlich los war, welche Bedürfnisse sich unterschieden und wurde so von einer „erwachsenen“ Klärung (durch das Weinen) ferngehalten. So konnte es zu keinem gegenseitigen Verstehen geschweige denn einer Weiterentwicklung der Beziehung kommen.
Die Unterdrückung schrittweise abbauen
Wie kommt es, dass manche Menschen ihre eigene Wut und aggressive Kompetenz (als Ressource zu verstehen) so abgespalten haben? Diese rhetorische Frage dürfte von dir als Leser*in mit deinem Erfahrungsschatz schnell zu beantworten sein. Wenn ein Mensch mit seinen ärgerlichen und wütenden Anteilen in seiner Biografie nicht gesehen und anerkannt wurde – als ein „auch so bist du grundsätzlich in Ordnung!“ – dann werden diese Anteile verdrängt, ins „innere Exil“ geschickt, überspielt, intellektuell zerredet oder auch sanft weggelächelt. Sie melden sich jedoch dennoch zurück, weil sie in ihrer wichtigen Botschafter-Funktion noch nicht gehört worden sind. Oben genannter Patient entwickelte einen Bluthochdruck und schluckte diese Gefühle mit vielen Süßigkeiten und Fast-Food herunter. Die beschriebene Patientin weinte und versuchte, mit Meditationen ihr Innenleben zu beruhigen. Unbewusst wollte sie jedoch damit ihre Verletztheit und Wut „wegmeditieren“, was nicht gelingen konnte, wurde doch die Meditation in dieser Zeit ein Werkzeug ihrer Ablehnung der schmerzhaften Gefühle.
Nur langsam begannen beide, die mit den „unangepassten“ Gefühlen verbundenen Bedürfnisse – denen nach Grenzen, Respekt und auch nach Nähe – zu erkennen, die Unterdrückung schrittweise abzubauen und in ganz kleinen Schritten mehr und mehr in Beziehungen zum Ausdruck zu bringen. Sicherlich gibt es als Gegenpol ebenso viele Menschen, die ihre Aggression ungehemmt und überaus verletzend ausleben, hier sind unter vielen anderen Aspekten das Erlernen einer Impulskontrolle und das verständnisvolle Erkennen der Zusammenhänge von eigenen unerfüllten Bedürfnissen, verletzten Gefühlen und auch der Konsequenzen für das angegriffene Gegenüber – demnach die Förderung von Empathie für die andere(n) Person(en) – immens wichtig.
Auch als Therapeut*in authentischer leben
Und was ist mit uns Therapeut*innen mit unserer professionellen Haltung und dabei auch unserem „Menschsein“? Ich denke, es verhält sich ähnlich. Auch wir sind eingeladen, unsere ärgerlichen und aggressiven Seiten zu erkennen, sie anzunehmen und aus ihnen und den damit verbundenen Bedürfnissen zu lernen. Wie kann ich meine Grenzen besser schützen – sei es in Familie, Praxis oder gegenüber Patient*innen? Wie kann ich Gehör finden und dabei dennoch halbwegs sozial kompetent sprechen und handeln? Es kann sehr befreiend sein, authentischer mit sich und dem eigenen Umfeld zu leben sowie den Patient*innen, über die auch mal Ärger entstehen darf, ein authentisches Gegenüber zu sein. Du darfst gelegentlich auch konfrontierend sein, um im Therapieprozess wichtige Rückmeldungen (auch auf Beziehungsebene) zu geben – ohne dabei „Verwüstungen“ zu hinterlassen und weiter in Beziehung zu bleiben. Diese Erfahrung, dass Konflikte zum Beziehungsgeschehen gehören, dass sie bewältigt werden können und die Beziehung das aushält, gehört sicherlich zu den wesentlichen positiven Lernerfahrungen eines Lebens, an denen jeder wachsen kann.
Andererseits kann auch mehr und mehr Toleranz entstehen, dass manche Interaktionspartner das erwachsene Ansprechen von Verärgerung und Verletzung nicht gut aushalten, dass ich eine entstehende Distanz und gegebenenfalls auch eine Trennung aushalten kann, aller Trauer über das Beziehungsende zum Trotz.
Wut und Ärger sind innere Ratgeber
Wut, Ärger und Co. sind immens wichtige innere Signal- und Ratgeber, die uns in Kontakt mit unseren wichtigsten Bedürfnissen bringen und die es wert sind, Ausdruck zu finden. Die Unversehrtheit unserer Grenzen, der Respekt vor unseren Bedürfnissen, das Bedürfnis gesehen und gehört werden zu wollen sowie der Protest gegen Ablehnung und Distanzierung des Gegenübers gehören beispielsweise dazu.
In Beziehungskonflikten kann starker Ärger laut der Psychologieprofessorin und Therapeutin Susan M. Johnson oft als intensiver „Protest“ gegen die Nicht-Erfüllung zentraler Bedürfnisse verstanden werden, mit welchem der Protestierende versucht, beim distanzierten Gegenüber eine Reaktion zu provozieren, die Bindung wiederherzustellen und sich dadurch zu beruhigen. Dabei können diese Gefühle natürlich das Gegenüber massiv irritieren, stark verletzen, Distanz erzeugen – und damit genau das Gegenteil vom angestrebten Zustand (Nähe!). Meiner Erfahrung nach kommt Wut selten allein. Sie ist vielmehr ein Begleiter von Angst und/oder Traurigkeit, schützt diese, verdeckt die eigene Verletzlichkeit beziehungsweise Verletztheit – hinter der dann wiederum die Sehnsucht nach Liebe und Verbundenheit warten. Ärger, Wut und ähnliche Gefühle sind für viele Menschen leichter zu spüren, weil sie intensiv und handlungsbereiter sind als beispielsweise Ängstlichkeit. „Besser, ich bin wütend und tue irgendetwas, auch wenn es sich im Nachhinein als weniger gut herausstellt, als mich hilflos zu fühlen“, so erlebte es ein anderer Patient. Wut und Ärger fühlen sich machtvoller und „größer“ an und können so die eigenen ängstlichen inneren Anteile übertönen.
Wut kann Energie bereitstellen
Im Grunde – und diese Sichtweise halte ich für zentral – stellen uns Ärger und Wut (in Beziehungen) trotz ihres „Risikos“ von begleitenden Verletzungen sehr viel Energie bereit, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, unsere ureigenen wichtigen Werte zu leben und uns für diese Werte und andere Menschen einzusetzen. Ohne seine Wut und die seiner Mitmenschen hätte Mahatma Gandhi niemals Engländer*innen (und nationalistischen Inder*innen) die Stirn geboten und sich FÜR seine Mitmenschen sowie die Unabhängigkeit seines Landes eingesetzt, wie sein Enkel im Buch „Wut ist ein Geschenk“ schildert. Ohne Wut und die Erfahrung von vielfacher Aggression und Abwertung aufgrund seiner Religionszugehörigkeit hätte Marshall B. Rosenberg niemals die „gewaltfreie Kommunikation“ entwickelt, die diese Gefühle eben nicht ablehnt, sondern ernst nimmt und versucht ihnen zu einem angemessenen, gewaltfreien, aber dennoch klaren Ausdruck zu verhelfen.
So können diese intensiven Gefühle im Leben und auch im psychotherapeutischen Prozess mit unseren Patient*innen für sehr sinnvolle Ziele und Bedürfnisse nutzbar gemacht werden, ohne dass der Zirkel von (nach innen oder außen gerichteter) Gewalt und Eskalation weitergeführt wird. So kann dieses Würdigen von Ärger und Wut unser Verständnis für uns und das unserer Patient*innen wachsen lassen – und verhindern, dass unangepasste und „unbequeme“ Gefühle „wegtherapiert“ beziehungsweise mit einer Disputation zu sehr „weggemacht“ werden sollen. Und auch wir Therapeut*innen können lernen, wo Wut und Ärger uns auf etwas Wichtiges hinweisen wollen und reife Umgangsformen mit diesen wichtigen Gefühlen und damit verbundenen Bedürfnissen finden.
Zum Weiterlesen:
Gandhi, A. (2019). Wut ist ein Geschenk. Köln: DuMont.
Johnson, S. (2011). Halt mich fest. Paderborn: Junfermann.
Weckert, A. (2014). Marshall Rosenberg: Bausteine einer Biografie. Kommunikation & Seminar, 08/2014. Online hier abrufbar.
(Letzter Zugriff: 10.08.2020).